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1. Auflage
© by Delius, Klasing & Co. KG, Bielefeld

 

www.delius-klasing.de

 

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Navigare necesse est

Seefahren ist notwendig. Wieder so ein schlauer Spruch aus meinem Lateinbuch. Immer wieder gibt es Ereignisse, die Erinnerungen an diese markanten Sprüche wecken. Oft genug sind im Leben die Würfel gefallen. Und ohne ein cui bono – wem es nutzt, könnte man die ganzen Ereignisse der Finanzwirtschaft nur schwer begreifen.

Ein Spruch, mit dem ich eigentlich nie etwas anfangen konnte, war dieser: Navigare necesse est. Meine Fantasie hatte nie so weit gereicht, als dass ich darin allen Ernstes eine Weisheit mit ganz viel Tradition, Tiefgang und Bedeutung hätte erkennen können.

Das änderte sich aber ganz und gar mit meiner Tochter Merle. Plötzlich fing sie an, sich zu überlegen, dass sie ein Boot bräuchte, und ich wurde Zeuge von Plänen, in denen von monatelangen Seefahrten die Rede war. Und das alles, ohne dass ich erkennen konnte, dass sie hierzu die Fertigkeiten besessen hätte – geschweige denn, dass eine Finanzierung realisierbar war.

Aber der Drang zur Seefahrt gebar die Lösungen. Sie nahm mehrere Jobs an, arbeitete von morgens bis abends, organisierte Seekarten und lernte Navigation, Funken, die Bedeutung von Tonnen, Signalen und Wetter. Da war das Telefon, das ständig klingelte, weil Freunde und Vereinskameraden ihr Ratschläge gaben. Da war das Internet, in dem sie sich längst ein Netzwerk von Helfern aufgebaut hatte, die von der Kraft ihres Vorhabens mitgezogen wurden und ihr mit Ausrüstungsgegenständen und Bootsbaumaterialien aushalfen. Das wohl Verrückteste kam, als eines Morgens der Paketdienst klingelte und mir ein altes russisches Rettungsschlauchboot für Merle übergab.

Dann kam der Zeitpunkt des Abschieds. Merle ging an Bord und verließ Berlin, das Land und uns. Sie verlagerte ihren Lebensmittelpunkt auf das Wasser, auf ihre acht Meter lange LILLEMY. Die gewohnten Orientierungen an Land, die Städte, Straßen und täglichen Wege verloren an Bedeutung, und Wellen, Wind und Wetter bestimmten den neuen Weg.

Seefahren ist notwendig. Ja, mittlerweile ist es mir klar geworden. Und wenn Merle inmitten einer Gruppe alter Seebären sitzt und über Ankerketten diskutiert, kann ich nur danebenstehen, nicken und an mein altes Lateinbuch denken.

Gerold Ibach

Danksagung

Ich möchte gerne den Menschen danken, die mich in den verschiedensten Phasen unterstützt haben – von der Vorbereitung über die Reise selbst bis hin zur Umsetzung dieses Buchs. Damit ich niemanden vergessen kann, werde ich einfach keine Namen nennen, so kann sich jeder einer der erwähnten Gruppen selbst zuordnen.

Zunächst gilt mein Dank natürlich meiner Familie, die nie wirklich wusste, was ich gerade tat, mich darin aber immer unterstützte und motivierte – sogar, als ich selbst nicht mehr an mich glaubte. Ebenso meinen Freunden, die all das noch weniger verstanden und dennoch wie selbstverständlich mit anpackten, wo sie nur konnten. Außerdem meinem Verein, ganz besonders U.F., sowie den Jungs und Mädels vom Segeln-Forum, von SVB, Secumar, Henry Lloyd und Haase, ohne die ich nicht einmal bis Klintholm gefunden hätte.

Danken möchte ich auch meiner Lektorin, die mich dazu gebracht hat, diese Geschichte aufzuschreiben, und dem ganzen Verlag für die beeindruckende Geduld, die sie alle mit mir hatten. Außerdem den Erfindern der »Copy + Paste«-Funktion und meiner WG für das Gnu.

Tak, Tack, Kiitos, cпacибo, Aitäh, Paldies, Ačiū, Dziȩkujȩ- Danke!

Merle lbach, März 2012

1.

»So werde ich weiter segeln
Raus ins Bermudablau«

(Spinerette – Baptized by fire)

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Ich hätte heulen können – nein, ich tat es. Nur waren die Tränen, die mir über das Gesicht liefen, nicht zu unterscheiden von dem Regen, der in endlosen Strömen auf mich niederprasselte. Ich war durchgeweicht bis auf die Unterhose. Es war nass, es war kalt, es war grau – es war einfach zum Heulen. Und trotzdem konnte ich mich nicht bewegen. Ich schaute an mir hinunter. Mit den Stiefeln stand ich in einer Pfütze, aber das machte auch nichts mehr aus. Um meine Füße schwammen Reste von toten Fischen. Ich ekelte mich davor, aber noch mehr ekelte ich mich davor, weiterzugehen, denn dann würde ich an dem Schwan vorbeimüssen. Seit drei Tagen schon hielt uns ein nicht enden wollender Sturm in diesem Hafen fest, und seit drei Tagen schon trieb ein Schwan mit zerzaustem Gefieder und dem Kopf unter Wasser um unser Boot. Manchmal klopfte er an unseren Rumpf, um uns zu erinnern, dass wir hier nicht willkommen waren. Deshalb stand ich jetzt hier – zitternd, inmitten einer riesigen Pfütze, um mich herum der graue Beton des Hafens, Fischgestank, das Scheppern vom Metall der Fischkutter, die vom Schwell immer wieder gegen den Kai gestoßen wurden, das Zerren der Taue und Festmacher und das Krachen von GFK auf Autoreifen – mein Boot. Warum war ich hier? Was wollte ich hier? Was wollte ich mir damit beweisen? – Ich wusste es nicht mehr, mein Kopf war einfach nur leer, komplett leer. Und das Schlimmste war: Ich hatte mir all das selbst ausgesucht.

Es war Anfang Mai. Vor gut einer Woche waren mein Freund und ich aus Berlin losgefahren, über die Oder nach Stettin und von dort weiter, südlich an Rügen vorbei, vorbei auch am Darß und rüber nach Klintholm, wo wir jetzt schon seit ein paar Tagen eingeweht lagen. Weit waren wir noch nicht gekommen, aber ich hatte jetzt schon keine Lust mehr. Mein großes Ziel war es gewesen, loszufahren, die Pflicht sozusagen, und die hatte ich geschafft; der Rest sollte eigentlich nur noch Kür sein. Aber sah so eine Kür aus? Ich hatte so viel über das Reisen gelesen, so oft bei den Geschichten von den alten Seebären aus meinem Verein zugehört, und alles hatte sich immer so aufregend und schön angehört. Aber das hier war alles andere als aufregend oder schön, das war einfach nur ätzend. Sowieso kotzte mich gerade alles an. Wir lagen im Fischereihafen, der nicht nur vor Gestank kaum zu ertragen war, sondern auch noch absolut ungeschützt den ganzen Schwell ungebremst auf mein Boot zurollen ließ, das wie ein kleiner Korken hin und her gerissen wurde. Dabei war direkt nebenan der schönste, neu gemachteste und geschützteste Hafen, den man sich nur wünschen konnte. Aber genauso teuer wie er aussah, war er auch. Man hatte mir zwar gesagt, dass die Häfen in Dänemark teuer sein sollten – aber so teuer? Vielleicht war es auch einfach normal, aber ich fand die Relation nicht gerechtfertigt. Pro Nacht sollten 25 Euro bezahlt werden, und die hatte ich nicht. Für andere wäre das sicher kein Thema gewesen. Die Schiffe, die dort teilweise lagen, sahen aus, als würden sich die Besitzer mit der Summe den Hintern abputzen, aber bei mir gab es leider noch normales Toilettenpapier, wie auf jedem anderen Schiff von Normalsterblichen auch. Eigentlich war ich eher stolz darauf, dass ich überhaupt eine Toilette an Bord hatte. Mein Schiff hatte knappe acht Meter und dafür erstaunlich viel Platz. Die meisten hatten mich von außen belächelt und waren dann doch verwundert, was da drinnen alles so Platz fand – »ein richtiges Raumwunder« – ja, das war es. Und dieses Raumwunder war jetzt komplett nass, von außen und von innen.

Ich stand noch eine Weile in der Pfütze und wartete, dass etwas passierte. Irgendeine Eingebung oder ein plötzlicher Wetterwechsel, aber es kam nichts. Also ging ich zurück zum Boot, ganz langsam. Dabei versuchte ich, jeden Blick zum Wasser zu vermeiden und den toten Schwan einfach zu ignorieren. Ich hatte Angst, dass, wenn ich ihn anschaute, er plötzlich doch seinen Kopf aus dem Wasser heben würde, mit dem Flügel gegen seine Schläfe tippen, abschätzig grinsen und mir sagen würde, wie bescheuert ich wäre und dass das alles doch eh nichts würde. Dann würde er sich umdrehen und mit mitleidvollem Kopfschütteln um die nächste Ecke verschwinden. Nun gut – dann wäre er wenigstens weg. Ich blickte aufs Wasser – nichts passierte. Ach doch, eines: In der Zwischenzeit hatte sich ein zweiter Schwan mit hängendem Kopf dazugesellt, der noch um einiges zerrupfter aussah. Angewidert kletterte ich über die Autoreifen die Hafenmauer hinunter und stieg auf mein Boot. An der Seite hatte es schon ganz schön Farbe verloren. An sich war es dunkelblau, aber die Fender hatten es auf der rechten Seite bereits durch ohrenbetäubendes Dauerquietschen hellblau gescheuert, da half auch kein Spülmittel oder andere Schmierseife.

Als ich das Steckschott aufmachte, blickte mich von unten ein unglücklicher Joschka an. Für meinen Freund war es das erste Mal auf so einem Boot. Nicht dass ich wesentlich mehr Erfahrung gehabt hätte, aber im Gegensatz zu ihm konnte ich segeln und wusste einigermaßen, was mich erwarten würde. Immerhin war ich bereits ein paar Tage auf einem Törn mitgefahren. Er aber war überzeugter Nichtsegler und konnte mit der ganzen Segelei auch wirklich gar nichts anfangen. Der einzige Grund, warum er sich darauf eingelassen hatte, war mir zuliebe und vielleicht auch, weil er Angst hatte, mich ganz alleine fahren zu lassen. Im Nebeneffekt waren so auch meine Eltern wenigstens etwas beruhigter. Er wusste genauso wenig wie ich, was alles passieren könnte, aber ein klarer Menschenverstand reichte aus, um sich die schrecklichsten Dinge vorzustellen. An eine mentale Zerreißprobe solcher Art hatten wir dabei nicht gedacht. Nun standen wir hier. Eilig machte ich hinter mir das Schott wieder zu. Zwar war eh schon alles nass, aber es reichte, dass das Wasser von unten gegen die Bodenbretter platschte, sie mussten nicht auch noch hochschwimmen. Die nassen Klamotten stapelten wir auf der Treppe am Niedergang, aber selbst das half nichts. Das Wasser verteilte sich von selbst, floss über den Boden, wurde von den Polstern aufgesogen und rann die Decke hinunter. Kleine Rinnsale hatten sich an den Wänden und über unseren Köpfen gebildet, sammelten sich und schossen in Sturzbächen auf die Bücher hinab und auf meinen Stapel Seekarten, was ich aber erst bemerkte, als es schon lange zu spät war. Joschka versuchte, mich etwas zu fragen, aber ich verstand nichts. Es war einfach zu laut. Ratlos guckten wir uns an. Wahrscheinlich hätte ich ihn sogar verstehen können, wenn ich gewollt hätte, aber ich wollte nicht. Denn die einzige Frage, die es zu stellen gab, war: Und jetzt? Und darauf wusste ich eh keine Antwort. Ich setzte mich neben ihn. In Zukunft würde ich ihn wohl nicht mehr überreden können, noch mal mit mir auf Reisen zu gehen – zumindest nicht mit einem Boot. Aber das konnte ich verstehen, ich hatte auch keine Lust mehr, egal, was die anderen sagten. Zwar konnte es nur besser werden, aber damit ich mich wohlfühlen könnte, müsste ein Wunder geschehen, und das war gerade beim besten Willen nicht vorstellbar oder gar in Sicht. Dieser Törn war ein Versuch gewesen, der Versuch war gescheitert, in Zukunft konnte ich darauf verzichten. Aber nun war ich schon einmal losgefahren, also würde ich es auch durchziehen, zumindest nicht einfach so kampflos aufgeben, dafür war es einfach zu viel Arbeit gewesen. Meine Mutter hatte mir zwar am Telefon versichert, dass sie alle schon stolz genug auf mich wären und dass ich nur Bescheid geben sollte, sie würde mich sofort abholen, aber verdammt noch mal, ich hatte mich für dieses Jahr gegen Studium, Ausbildung oder andere gute Taten entschieden und mir wirklich so den Arsch aufgerissen, das konnte doch jetzt nicht alles sein! Das Einzige, was diesen Tag noch retten konnte, war ein leckeres, warmes Essen. Durch den neuen Mut, den ich mir gerade selbst zugeredet hatte, merkte ich auch, dass ich inzwischen einen ganz schönen Hunger hatte. Es sollte ein Restefestmahl werden. Also schälten wir Kartoffeln, schnippelten Salat und kochten Brokkolicremesoße. Wir konnten es kaum abwarten. Der Tisch war gedeckt, zur Feier des Tages sogar mit einer Kerze. Ich kuschelte mich in meine gelbe Fleecedecke, die ich inzwischen zum Bordpflichtequipment Nummer eins erkoren hatte, Joschka stellte die Töpfe auf den Tisch, wir bewunderten kurz unser Essen, schaufelten uns die Teller voll und fingen nach fast zwei Stunden Vorbereitung endlich an – es schmeckte widerlich. Die Kartoffeln waren nicht nur schrecklich zerkocht, sondern auch noch komplett versalzen. Die Brokkolicremesoße aus der Tüte war viel zu wässrig und der Salat hatte seine besten Tage auch schon lange hinter sich. Joschka meinte, dass es das Ekligste war, was er je gekocht hatte. Und ja, er hatte recht: Es war wirklich ungenießbar. Trotz meines Hungers bekam ich nur ein paar Bissen runter. Wir kramten eine noch halb trockene Packung Kekse hervor und ließen uns auf die Polster fallen. Das war eins zu viel gewesen. Ich war nicht mehr traurig oder deprimiert oder enttäuscht, ich war einfach nichts mehr. Joschka schien es ähnlich zu sehen. Er versuchte, mich zu umarmen, und bestimmt hätte er mir gerne irgendwelche aufmunternden Worte gesagt wie »alles geht vorbei, es kann nur besser werden«, oder »gemeinsam schaffen wir das«, aber er wusste genauso wie ich, dass das nicht so war. Ich echt Mist gebaut hatte. Er hatte mir versprochen, bis Kopenhagen bei mir zu bleiben, bis ich einigermaßen Überblick über das Boot bekommen hatte. Ich hatte die Verantwortung für all das hier. So lagen wir noch eine Zeit lang resigniert da, schauten immer wieder auf die Uhr, stellten aber nur fest, dass die Zeit nicht vergehen wollte. Aber auf was warteten wir denn überhaupt? Morgen sollte es immer noch nicht besser werden, und noch so einen Tag? Wir würden durchdrehen, wir mussten hier einfach raus. Morgen würden wir den Bus nehmen und in die nächste Stadt fahren. Wir würden unser nicht vorhandenes Geld nehmen und uns einen richtig schönen Tag in der Stadt machen. Dort würde es auch bestimmt ein Internetcafé geben, Läden, vielleicht auch ein Museum oder eine Bücherei, ich hatte sogar von einer Bonbonfabrik gehört. Mit dem Glauben ans Gute und dem Gedanken an riesige bunte Bonbons gingen wir schlafen, zumindest ins Bett. Bis ich schlafen konnte, würde es noch einige Stunden dauern. Das Schlagen meines Boots gegen die Pier, das Quietschen der Fender und das Krachen des GFKs machten mir wirklich Sorgen.

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2.

»Ich töte mein Essen mit Karate
Tret’ ihm ins Gesicht, probiere den Körper«

(Joanna Newson – The Book of Right-on)

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Tatsächlich war in der Stadt nicht viel los gewesen. Ich hatte weder ein Internetcafé gefunden noch war die Bibliothek geöffnet, aber irgendwie hatte ich trotzdem eine Möglichkeit gefunden, ins Internet zu kommen, so konnte ich mich kurz zu Hause melden, meinen Blog aktualisieren und mir den neuesten Wetterbericht holen – und er sah gut aus. Morgen würden wir endlich weiterkommen, aber eine Nacht stand uns noch bevor.

Zurück am Boot, das weiter traurig vor sich hin quietschte, entschieden wir, wieder in den Bezahlhafen zu wechseln. Auch wenn es wehtat und so das Geld niemals auch nur bis Schweden reichen würde. Der Hafenmeister guckte uns belustigt an – wir mussten aber auch schrecklich aussehen. Ich ließ Joschka reden und versuchte mich unauffällig hinter ihm zu verstecken. Das Praktische als Mädchen in einer männerdominierten Tradition ist, dass man sich im passenden Augenblick immer noch auf die Klischees berufen kann, und da ist der Mann eben der Kapitän. Der Hafenmeister hatte uns die letzten Tage beobachtet und war nicht wirklich begeistert gewesen. Wir hatten uns ganz offensichtlich um das Hafengeld zu drücken versucht. Ja, das hatten wir, allerdings zu einem viel höheren Preis. Langsam schlich ich mich zurück zum Boot, Joschka blieb noch. Als er zehn Minuten später wiederkam, grinste er wie ein Honigkuchenpferd. Er hatte versucht, mit dem Hafenmeister zu handeln, der aber war hart geblieben. Als er dann bezahlen wollte, lehnte der Hafenmeister einfach ab und meinte:

»Spart euch das Geld. Lade deine Freundin lieber zum Essen ein. Ihr seht aus, als könntet ihr es gebrauchen.«

Wie recht er hatte, und wie unrecht ich ihm getan hatte. Ich schämte mich mit einem Mal dafür.

Wir gingen nicht essen. Stattdessen machten wir etwas viel Tolleres. Ich holte die Karten raus, und wir fingen an, den nächsten Tag zu planen. Wir markierten sogar schon sämtliche Wegpunkte, so viel Spaß hatte ich noch nie beim Karten angucken gehabt. Um ehrlich zu sein, hatte ich es bisher auch noch nie wirklich getan. Ich hatte mir alle Karten für die gesamte Ostsee zusammengeliehen, nur Russland fehlte, da wollte anscheinend niemand hin. Aber nichts lag für mich in diesem Moment ferner als Russland. Einmal hatte ich im Wohnzimmer zu Hause alle Karten ausgebreitet, konnte aber nicht wirklich etwas damit anfangen und hoffte einfach, dass ich das schon lernen würde. Und nun erklärten sie sich in der Tat mehr oder weniger von selbst.

Erst einmal kam aber der nächste Tag. Wir hatten beschlossen, weiterzufahren – ich hatte es beschlossen. Außerdem hatte sich inzwischen Justus gemeldet, ein Junge aus der Schule, der nach Kopenhagen kommen wollte, um von da aus mitzufahren. Also hatte ich die Verpflichtung, dort auch anzukommen.

Das Ablegen am nächsten Morgen fiel mir trotzdem schwerer als gewollt. Beim letzten Schlag von Deutschland nach Dänemark war mir nicht sehr wohl gewesen. Es war das erste Mal, dass ich mit diesem Boot richtig gesegelt war, und ich hatte das Gefühl, dass es eher mich beherrschte als ich das Boot – und das war definitiv verkehrt. Ich wusste noch überhaupt nicht, wie es reagierte, was richtig und was falsch war und wie sich überhaupt alles anfühlte. Das letzte Mal waren wir mitten im Verkehrstrennungsgebiet gewesen, und ich war ganz klein geworden, als ich merkte, wie wenig Kontrolle ich eigentlich hatte. Der Wind hatte gerade mächtig zugenommen und kam plötzlich von vorne, dazu hielten von links und rechts Containerschiffe auf uns zu – ein schrecklich unangenehmes Gefühl. Aber all das würde diesmal nicht passieren können. Und so verließen wir den Hafen. Das Klappern und Schlagen, das Pfeifen und das Gurgeln verfolgten uns noch bis zur Hafenausfahrt.

Der Wind kam von hinten, zumindest bis zu den Klippen von Mön. Ein Bekannter aus meinem Verein hatte mich gewarnt, dass sich der Wind dort ganz schön stauen konnte. Ich selbst hatte zu wenig Erfahrung, um einschätzen zu können, was das wirklich bedeutete. Er war so etwas wie mein Bodenpersonal und meine persönliche Wetterstation in einem. Ich konnte ihn immer fragen, und er wusste immer Bescheid. Aber hätte ich jede seiner Horrorgeschichten zu ernst genommen, wäre ich wohl nicht einmal bis zur ersten Schleuse gekommen. So hieß es für mich wie immer: Augen auf im Straßenverkehr. Wir motorten uns noch einige Meter vom Hafen frei, dann zogen wir in den Wind gedreht die Segel hoch. Sie flatterten lustig. Ein paar verirrte Wellen schlugen gegen das Boot. Einen kleinen Moment zögerte ich noch. War es richtig, was wir machten? Hatte ich irgendetwas vergessen zu bedenken? Was, wenn wir bei den Klippen richtig was auf die Mütze kriegten? Ich hatte keine Lust mehr auf Zweifel, und als Antwort gegen die Stimmen in meinem Kopf stoppte ich die Maschine – Stille. Es war ein so befreiendes Gefühl. Das Einzige, was ich jetzt noch hörte, war das Plätschern des Wassers. Kein Krachen, kein Pfeifen, kein Poltern, kein Quietschen. Mit einem Mal legte sich all die Anspannung der letzten Tage. Keiner von uns konnte etwas sagen. Ich schaute zu Joschka, er blickte gedankenverloren irgendwohin und lächelte. Je näher wir dem Kap kamen, desto heller wurde das Wasser. Es war richtig türkis. Die Sonne kam heraus, und die Klippen von Mön erstrahlten in einem wunderschönen Weiß. Es sah aus wie in der Südsee. Nicht dass ich schon einmal da gewesen wäre, aber so musste es dort sein. Nur dass die Palmen fehlten. Joschka nahm meine Hand. Das erste Mal seit Tagen fühlte es sich echt an, jetzt war wirklich alles vergessen. Und der Wind? Der ließ uns ausnahmsweise einmal in Ruhe, und so drehten wir das Reff wieder raus, das wir vorsichtshalber ins Segel gebunden hatten.

Ein paar Tage später liefen wir in Dragör ein, südöstlich von Kopenhagen. Inzwischen hatten wir eine richtige Bordroutine entwickelt. Ich steuerte, und mein Leichtmatrose navigierte, das hatte er nämlich in den zwei Wochen wunderbar gelernt. Am Anfang hatte es noch manchmal Aussetzer gegeben, aber wir waren lediglich zweimal auf Grund gelaufen. Ich hatte zwar beide Male das Gefühl gehabt, wir würden gleich einen Vorwärtssalto samt Boot machen und war mir auch nicht sicher, inwiefern das gut war für den Kiel, aber bis jetzt schwammen wir noch.

Das Anlegemanöver in Dragör lief gerade zu perfekt, nur hatte ich den am weitesten entfernten Platz von den Toiletten ausgesucht. Was letztlich nicht so schlimm war, weil wir das Bezahlsystem einfach nicht verstanden und damit eh nicht hineinkamen. Dann gab es eben kein Bad für uns, stattdessen aber Eis. Und wenn die Dänen Eis essen, essen die nicht einfach Eis. Es ist eher so etwas wie eine aufwendig zelebrierte Schlaraffenlandparty. Erst einmal gab es die seltsamsten Sorten: von Kaugummi über Kinderschokolade bis Lakritz, und dann schien es auch normal zu sein, über seiner Kugel Eis noch eine Portion Softeis zu haben, darüber eine Portion Sahne, obendrauf einen Schokokuss und nach Belieben noch Streusel, versteht sich – bunt, Schokolade, Kokos oder Krokant. Wir entschieden uns für die Anfängervariante nur mit Eis und Schokokuss. Ich war jetzt schon froh, keine Waage an Bord zu besitzen. Unsere Hauptbeschäftigung bestand nämlich darin, zu essen. Und wenn ich gerade nicht aß, überlegte ich mir, was ich als Nächstes essen würde. Eine Freundin hatte uns mit einem Jahresvorrat an Süßigkeiten ausgestattet. Nicht dass der schon leer gewesen wäre, aber drei, vier Kitkats, ein paar Kekse und Knoppers gehörten schon zum Tagesbedarf. Es macht ja auch Spaß, und außerdem ist Urlaub, Dauerzustand durfte das trotzdem nicht bleiben.

Am nächsten Morgen nahmen wir ganz früh den Bus nach Kopenhagen. Ich fühlte mich total auf Großstadtentzug. Dort angekommen, war das euphorische Gefühl jedoch schnell verflogen. Es war zwar unglaublich angenehm, all die Menschen und den Straßenlärm mal wieder um sich zu haben, und auch der Gestank hatte etwas für sich, doch jetzt standen wir da, mitten in einer fremden Stadt, und überlegten ein wenig ratlos, wo es hingehen sollte. Ich hatte mich so auf Kopenhagen gefreut, dass ich komplett vergessen hatte, mir Gedanken zu machen, was ich hier überhaupt wollte. Eigentlich wollte ich ja nur ankommen, und das hatten wir geschafft. Aber was stellt man dann an in einer fremden Stadt? Was macht man da? Schaut man sich alte Gebäude an, oder geht in ein Museum? Oder geht man einkaufen? Aber Shoppen, ohne die Aussicht etwas kaufen zu können, ist irgendwie witzlos – also doch kulturell bilden? Durch die Stadt schlendernd, kamen wir auf einen Platz. Er war voller Musik, und an jeder Ecke führten Menschen irgendwelche Sachen auf. Bis hierher war es vor allem anstrengend gewesen, weil alles so voll und wuselig war und tausend Sprachen aufeinandertrafen, was der Entspannung eines startenden Flugzeugs gleichkam. Wir entschieden uns, auf dem Platz zu bleiben, uns einfach hinzusetzen, und verbrachten schließlich den halben Tag damit, einer Gruppe Jugendlicher zuzusehen, die mit Besen, Stampfen und Klatschen Musik machte. Irgendwann fiel Joschka ein, dass er mal gehört hatte, dass es hier ein autonomes Viertel geben sollte. Ich konnte mir darunter nichts vorstellen. Wie konnte sich bitte ein ganzes Viertel mitten in einer Stadt plötzlich überlegen, sich selbst zu verwalten? Als wir dort waren, klärte sich die Frage von allein. Indem man einfach Tausende Eimer Farbe nahm, sie überall verteilte, seine eigenen Regeln aufstellte, wie das Verbot von Lederjacken, überall Barrikaden errichtete, keine Autos mehr hineinließ und dann erlaubte, öffentlich Marihuana zu verkaufen. Dann dachte man sich noch seine eigene Währung aus und lebte von Luft und Liebe. Vielleicht hört sich das ein wenig sarkastisch an, aber dort inmitten der Buntheit fühlte ich mich wirklich wohl. Es war zwar alles ein wenig heruntergekommen, aber hier waren die Menschen völlig entspannt und lächelten die ganze Zeit. Gut, vielleicht lag es auch an den Drogen. Ich war mir aber sicher, hier irgendwann in meinem Leben noch mal herzukommen, und dann vielleicht auch nicht nur als gaffender Tourist. Es war der letzte Tag für Joschka. Morgen würde er fahren, und im fliegenden Wechsel würde Justus kommen. Zum Glück, denn alleine fahren traute ich mir noch überhaupt nicht zu. Es hatte Spaß gemacht mit Joschka, aber ich hatte gemerkt, dass Segeln nicht seine Welt war. Wenn er jetzt fuhr, würden wir uns fast vier Monate nicht sehen. Das war eine Größenordnung, unter der ich mir einfach gar nichts vorstellen konnte. Als ich ihn am nächsten Tag während des Sprints zum Bahnhof nur flüchtig verabschiedete, wusste ich noch nicht, was das für mich bedeutete. Klar, es würde hart werden, aber war das jetzt das Ende? Wir waren seit über vier Jahren zusammen, da durften doch vier Monate kein Problem sein. Für mehr Gedanken hatte ich in diesem Moment jedoch keine Zeit, denn Justus stand schon neben mir. Er war aus meiner Schule im Jahrgang unter mir. Ich hatte ihn kennengelernt, weil er für unsere lokale Zeitung etwas über mich geschrieben hatte. Und weil wir uns so gut verstanden hatten und ich sowieso auf Dauersuche nach Crew war, verabredeten wir uns gleich. Ich hatte allerdings nicht erwartet, dass er es ernst meinte. Es gab nämlich einige, die zunächst begeistert zugesagt hatten, nun aber mit einem Mal etwas Wichtigeres zu tun hatten. Wenigstens hatte ich meine Mutter erst einmal beruhigen können, dass immer jemand dabei sein würde – auch wenn die Realität anders aussah. Das mit dem Verabreden war eh immer schwierig. Ich konnte weder einschätzen, wie lange ich irgendwohin brauchte, noch ob ich je dort ankommen würde. In meinem Kopf hieß es einfach immer: weiter! Und wenn es nicht mehr weiterginge, würde ich eben nach Hause fahren müssen. Jetzt aber war Justus hier und würde zwei Wochen bleiben.

Im Gegensatz zu Joschka war Justus immerhin schon einmal auf einem Segelboot gewesen. Zwar nur auf einer Jolle, aber er wusste, was ein Segel ist. Joschka hatte sich ums Verrecken geweigert, an die Pinne zu gehen, da musste schon etwas sehr Schlimmes oder Dringendes passieren, wie die Entlastung meiner Blase, die kurz vorm Platzen stand. Da ließ er sich lieber versklaven und kümmerte sich um alles andere. Mir sollte es recht sein, nur kam ich mir dabei so untätig vor. Mit Justus würde die Rollenverteilung ein wenig homogener werden. Ich erklärte ihm kurz das Boot, ein paar Macken und Eigenheiten, und dann legten wir ab. Ich zögerte einen kleinen Moment und ging alles noch einmal durch. Irgendwie hatte ich das Gefühl, etwas vergessen zu haben.

Ich wusste es, mir fiel nur nicht mehr ein, was es war. Wir hatten den Wetterbericht gecheckt, genug Diesel im Tank, Wasser und Essen, die Route geplant, den Hafen bezahlt und die schwedische Gastlandflagge bereit – aber irgendetwas war da, und das verunsicherte mich.

Der Wind tendierte gegen null, sodass wir beschlossen, nur in einem kurzen Schlag rüber nach Limhamm zu fahren, einen Vorort von Malmö. Es war schon ziemlich diesig, trotzdem brannte die Sonne auf uns herab. Wir dümpelten unter Segeln ein wenig dahin. Hinter uns lag Dänemark und gar nicht weit entfernt voraus Schweden – eine lustige Vorstellung. Von einem Ufer zum anderen erstreckt sich eine riesige Brücke, die auf der einen Seite im Meer verschwand. Der Himmel zog sich immer weiter zu, und wir liefen nicht mal mehr einen halben Knoten. Ich hatte keine Lust, auf dem Wasser zu übernachten – also startete ich den Motor.

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3.

»Reizvolle Frau Frittiert
Er wird dich auch vermissen
Nur möchte er frei sein«

(No Doubt – Sad for me)

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