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Operation Texel

Volker Dittrich

Operation Texel

Roman

Dittrich-Verlag

Radierfolge Texel=Story 1974 von Erich Wilker

ISBN 3-920862-00-7

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Accessoires=Eremit

3. MAI 1985

 

Es ist kühl. Immer nur Regen. Und das im Mai. Morgen hab ich Geburtstag. Vor vierzig Jahren muß es wärmer gewesen sein. Trostlos diese Straße. Wie lange ist es her, daß der Dachstuhl brannte. Bestimmt drei Jahre. Lola Langeland schlug den Kragen ihrer Jacke hoch. Zog den Kopf in den Nacken. Naßkalte Hände zu Fäusten geballt unter den Achseln. Unaufhörlicher Nieselregen. Die Jacke mehr und mehr durchnäßt. Hellerleuchtete Schaufenster und Läden. Die Waren angestrahlt. Fremdartige Wesen. Eine optische Täuschung im Grau dieses Abends.

Was soll ich in diesem Geschäft. Damenbekleidung. Kurzvorladenschlußstimmung. Die Kunden werden reserviert behandelt. Als wären sie verantwortlich für die Müdigkeit der Verkäuferinnen. Ein langer Tag von neun bis halb sieben. Ungeduldige Blicke aufs Ziffernblatt.

Zehn Minuten vor halb. Was soll ich kaufen. Kann mich nicht entscheiden. Bißchen Wurst. Verschlossene Gesichter hinter der Fleischtheke. Sie drehte sich kurzerhand um. Verließ den Laden und blickte durchs Schaufenster. Ein nachgebildetes Ferkel, rosafarben, mit blauer Schleife um den Hals und lachend kindlichem Gesicht. Die meisten Schalen leer, bis auf bräunliche Blutlachen. Der Verkäuferin glitt ein Stück Leber aus der Hand zurück in die Schale. Kleine rote Blutspritzer auf ihrem weißen Kittel. Unbegreiflich, diese glibbrige Masse zu essen. Gut würzen und braten, damit keine Erinnerung ans Tier aufkommt. Große Fleischstücke. Halbe Schweine tragen die Kühlwagenfahrer in die Läden. Ekelhaft besonders im Sommer. Der Gestank und die dicken Fliegen. Nutzen jede Gelegenheit auf dem Weg vom Lkw in den Supermarkt, sich an das klebrige Blut zu machen.

Als Kind hatte sie zugesehen, wie die Nachbarsfrau das dampfende Blut des soeben geschlachteten Schweines rührte. Der Geruch stieg ihr wieder in die Nase und der Geschmack der frischen Grützwurst, die ihnen abends gebracht worden war, lag ihr auf der Zunge. Ihr Körper hatte sich gegen die von allen anderen mit Heißhunger verschlungene Delikatesse gewehrt. Ihre Haut war mit kleinen roten Pickeln übersät. Sie mußte sich übergeben und lag mit Schüttelfrost im Bett. Die wissen schon nicht mehr, was Hunger ist, hieß es. Wenige Jahre zuvor hatten die Nachbarn noch nachts schwarz geschlachtet, mit dem Risiko, eine hohe Strafe dafür zu zahlen. Steckrüben mit Salzkartoffeln, heute noch Lolas Lieblingsessen, gab es selten. Es war mit Krieg und Entbehrung verbunden. Nur wenige Male hatte die Mutter ihr diesen Wunsch erfüllt.

Ein junges Paar mit rötlichbrauner Gesichtsfarbe vor einem Reisebüro. Beladen mit dicken Prospekten. Urlaubsziele in der ganzen Welt. Weiße Sandstrände, blauer Himmel, Sonne, Meer. Ein Monatsgehalt oder drüber. Die Haut der beiden höhensonnenverbrannt. In den Sonnenstudios der Stadt werden die blassen Gesichter in kurzer Zeit strandrot. Ein großes Schild in der Tür des Reisebüros. Zehntägige Reise in die USA. Sonderangebot. Stadtbesichtigung New York mit anschließendem Strandurlaub in Florida. Amerika. Ein Kindheitstraum. Eine andere Welt, fern und aufregend. Früher unvorstellbar, jemals den Fuß auf diesen Kontinent zu setzen. Es reizte sie hineinzugehn. Einmal New York und Florida. Mit Scheck bezahlen. Die Buchungsbestätigung per Computer sofort bekommen. Sachen packen und zwei Tage später in der Maschine sitzen. Weg. Alles vergessen. Am Meer spazieren gehn. Wie damals in Atlantic City, kurz nachdem sie an der Schule gekündigt hatte und einfach nur weg wollte, weit weg. Völlig allein am weißen, kilometerlangen Sandstrand. Der kühle Abendwind in den fliegenden Haaren. Und die Einsamkeit. Zwei harte Punkte unter ihrem T-Shirt, die sie schmerzten. Nein, Lola, du bleibst hier. Nicht USA, nicht Türkei. Keine Ausflüchte mehr. Sie ging weiter auf die Kirche zu. Die Reste des Kirchturms ragten als dunkle Gestalt über den Hausdächern. Wie damals der große verkohlte Baum, der mit erhobener Faust zwischen den Feldern stand und auf sie wartete.

Kurz hinter der Kirche betrat sie ein Café, setzte sich ans Fenster und blickte auf die schwarzen Balkenreste des Daches. Der kleine Raum war überheizt. Kalter Zigarettenrauch hing in der Luft. Ihre Haut wurde feucht. Das Hemd klebte am Körper. Ein Geruch von warm dampfendem Schafsfell stieg ihr von dem feuchtgewordenen Pullover in die Nase. Die Wolle hatte sie in Sivas in der Osttürkei gekauft. Später mit Naturfarben gefärbt und zu einem wärmenden Kunstwerk verarbeitet.

Sie wollte mit jemandem sprechen. Am liebsten ihre ganze Last jetzt sofort vor einem wildfremden Menschen abladen. Sie bestellte Kaffee. Sah lange in die tiefschwarze Flüssigkeit. Ihr Gesicht spiegelte sich darin. Der Kopf hing schräg nach unten in der Tasse. Die Nasenlöcher türmten sich vor ihren Augen. Die schmalgezupften Augenbrauen wie große Sicheln darüber. Sie öffnete den Mund. Er hing wie ein Bumerang am Rand der Tasse. Die Zähne verliehen ihrem Gesicht in dem schwarzen Sud einen fratzenhaften Ausdruck. Mit jedem Schluck, den sie trank, wuchs ihre Entschlossenheit. Sie mußte sich ihrer Last entledigen. Immer wieder sah sie auf die Kirche. Eine Insel im Straßennetz. Die Abgase der vorbeifahrenden Autos hatten den steinernen Figuren des Kirchenportals im Laufe der Jahre die Kleider zerschlissen. Was hätte sie damals machen sollen? Ihre Angst war unerträglich gewesen. Das, was sie getan hatte, war unfaßbar. Sie konnte es selbst nicht glauben. Der ganze Ort hatte voller Entsetzen darüber gesprochen, aber auch mit großer Neugier, wer es getan haben könnte und wie sich der Vorfall wohl genau abgespielt hatte. Daß es jemand aus dem Ort gewesen war, darauf war niemand gekommen. Es war Blutrache, hatten sie damals alle gesagt. Und wenn sie erzählt hätte, wie es wirklich gewesen war, niemand hätte es ihr geglaubt. Und falls sie sich doch vor einem Gericht hätte verantworten müssen, wäre sie damals wahrscheinlich von jedem Richter freigesprochen worden.

Ein Kind lief von dem kleinen Kirchenvorplatz, ohne auf den Autorverkehr zu achten, auf die Straße. Ein Ball war zwischen den parkenden Autos hindurch auf den Asphalt gesprungen. Quietschende Bremsen, kopfschüttelnde Autofahrer, drohend erhobene Hände. Der dunkelhäutige Junge erschrak. Blickte mit großen Augen auf die schimpfenden Passanten. Dann lief er lachend zu seinen Freunden zurück. Aber auch sie schimpften mit ihm, erprobten an ihm die Worte der Erwachsenen. Schrien und gestikulierten wild mit den Armen. Es waren türkische Kinder. Das sah sie sofort. Sie war schon einige Male in der Türkei gewesen. Was für ein Land. Im Frühling am Mittelmeer ein Land der Gerüche. Ein Farbenmeer aus Rot, Gelb und Grün. Apfelsinen, Zitronen, Erdbeeren. Überall blühende Obstbäume. Vom Mittelmeer zum Schwarzen Meer eine Vielfalt der Landschaft. Ganz Europa vereint dieses Land in sich und noch mehr. Die Gastfreundschaft dieser Menschen in ihrer Heimat ist einmalig. Jetzt übertreiben die Jungen ihr Geschrei. Als würden sie es den Deutschen zeigen wollen, wie gut sie erzogen sind. Türkische Kinder erkannte sie nicht nur an ihrem Aussehen, immer auch an ihrem Geschrei und dem leicht angeberischen Auftreten. Müssen sich ständig vor aller Welt beweisen. Sie bestellte noch einen Kaffee, blickte wieder zur Straße, abgelenkt von einem lauten Hupen.

Ein gutgekleideter Mann im grauen Anzug, mit akkurat geschnittenem, rotblondem Schnurrbart sprang aus einem Mercedes. Das Gesicht zu einer furchterregenden Grimasse verzogen. Er stürzte, wild mit dem Zeigefinger drohend, vor die Windschutzscheibe eines Autos. Die junge Frau grinste verunsichert. Sie hatte dem Mann mit ihrem angerosteten Kleinwagen den Parkplatz weggeschnappt. Von vorne war sie in die für ihr Auto genügend große Parkbucht gefahren. Hatte den rückwärts einparkenden Fahrer in seinem blankpolierten Auto, dessen Größe und Marke eine gehobene Gehaltsstufe vermuten ließen, ignoriert. Vorbeigehende Passanten mischten sich ein, schlugen sich auf die Seite der Frau. Riefen dem Mann etwas zu. Deuteten ihm, er solle schnell weiterfahren. Es war wie ein für die Gäste des Cafés organisiertes pantomimisches Straßentheater. Es endete mit der Niederlage des eleganten Mannes, in dessen Auto sich die Front des Cafés spiegelte, wodurch die Zuschauer in das Bühnenbild einbezogen waren. Sein schlechtes Abschneiden in der Gunst der Mitwirkenden hatte sicherlich mit seinem Aussehen, seinem Auftreten und seinem Geschlecht zu tun. Ging man davon aus, daß er als erster den kostbaren Platz für sein Fahrzeug entdeckt hatte, so war er im Recht, und nicht die saloppgekleidete junge Frau mit der gelbgefärbten Haarsträhne. Sie stieg aus ihrem Kleinwagen. Umringt von mehreren jungen Frauen, die ihr Beistand geleistet hatten, feierte sie mit breitem Lächeln ihren Sieg. Der Mann verließ fluchtartig die Bühne. Kurze Zeit später betrat er eilig das Café. Er setzte sich an einen der hinteren Tische neben der Toilettentür.

Wenn ich es jetzt einfach diesem Mann erzähle. Einmal gesagt, kann ich es auch ihnen erzählen, dem Vater und der Mutter. Ich wäre endlich befreit. Sie beobachtete ihn. Er hatte große, dunkelbraune Augen. Sie wirkten etwas traurig. Machten ihr Mut. Er saß da, tief nach vorn gebeugt, beobachtete die Kellnerin und zeichnete etwas auf einen kleinen Zettel. Nach seinem Auftritt mit der jungen Frau dachte sie, er sei arrogant und unbeherrscht. Jetzt meinte sie, einen schüchternen, feinfühligen Menschen vor sich zu haben. Sie zögerte noch einen Moment, stand langsam auf und ging auf den Mann zu. Als sie vor ihm stand, blickte er schnell zur Seite. Sah aus dem Fenster, als würde er jemanden erwarten. Sie ging weiter zur Toilette, fest entschlossen, ihn auf dem Rückweg anzusprechen. Wollte ohne großes Geplänkel beginnen. Alles erzählen. Ihm dabei in die Augen sehn und sich, sobald sie geendet hätte, schnell von ihm verabschieden und gehn. Natürlich würde sie vorher sein Einverständnis einholen. Aber sie war sicher, er würde nur mit dem Kopf nicken und keine weiteren Fragen stellen. Sie wusch sich die Hände. Rieb sie sehr lange und gründlich. Das tat sie seit damals. Am Anfang war es noch schlimmer gewesen. Die Eltern hatten gedroht, mit ihr einen Psychiater aufzusuchen, wenn sie diese elende Wascherei nicht lassen würde. Seitdem tat sie es heimlich. Sie trocknete sich die Hände und wollte gehn. Zögerte, sah in den Spiegel, löste die bunte Spange aus ihrem langen, dichten, lockigen Haar, bürstete es und steckte es so, daß die rechte Gesichtshälfte frei blieb. Ihr langer, fast bis auf die Schulter reichender Ohrring, dessen unterer ellipsenförmiger Stein im Sonnenschein bunt schillerte, fiel sofort ins Auge. Sie hatte große blaugraue Augen, die wie feinstrukturierte lebendige Glaskugeln den Blick des Gesprächspartners auf sich zogen. Erst später, sie war schon Mitte zwanzig, wurde sie sich ihrer erotischen Ausstrahlung bewußt. Begann es zu genießen, den Blicken standzuhalten. Der Führer hätte seine Freude an dir gehabt, hatte ein Onkel damals zu ihr gesagt. Ein richtig deutsches Mädel, und ihr dabei über die krausen Haare gestrichen. Sie hatte ein rundes, gesund aussehendes Gesicht mit rötlichen Wangen, wie geschaffen für die Werbung für Kinderartikel. Als Kind war sie immer fröhlich. Nutzte ihre Ausstrahlung zu ihrem Vorteil. In der Schule begriff sie, daß es ein Glück war, nicht klein und dick zu sein oder lang und dünn, wie zwei ihrer Mitschülerinnen. Die hatten es bei den Lehrern nicht so leicht wie sie. Vielleicht lag es aber auch an der ungeselligen Art dieser Mädchen, wie ihre Mutter meinte. Lola hatte beide mit nach Haus gebracht. Sie spielte nicht mit ihnen, weil sie die Mädchen besonders gern hatte, sondern weil sie ihr leid taten. Sie wollte nicht, daß die Mitschülerinnen, wegen Lolas offensichtlicher Vorteile bei den Lehrern, schlecht von ihr dächten. Lola sah ihr Gesicht im Spiegel. Verzog den Mund zu einem Lächeln, um noch einmal die Falte in ihrer Wange zu betrachten. Jetzt sah sie wieder aus wie ihre Mutter. Als sie es das erste Mal entdeckt hatte, war sie erschrocken. Ihr Gesicht im Spiegel hatte sie wie eine Beleidigung empfunden. Obwohl sie ihre Mutter liebte und sich die Angst vor der Ähnlichkeit mit ihr nicht erklären konnte. Immer wenn sie in den Spiegel schaute, sah sie wieder dieses Gesicht. Nur langsam hatte sie sich an ihre Entdeckung gewöhnt. Als sie die Toilette verließ, war der Platz leer, auf dem der Mann gesessen hatte. Sie war enttäuscht, ärgerte sich, ihn nicht sofort angesprochen zu haben. Sie wußte, wenn sie ihren einmal gefaßten Entschluß nicht schnell in die Tat umsetzte, wuchs die Hürde. Es würde immer schwieriger, sie zu überspringen.

Vom Café aus ging sie auf die Kirchentür zu. Sie war verschlossen. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Läden waren leer. Vor einem Schaufenster mit Brautkleidern blieb sie stehn. Morgen zur gleichen Zeit werden die Eltern mit dem Zug eintreffen. Sie wird auf dem Bahnsteig stehn, um sie abzuholen. Wie immer werden sie aufgeregt sein. Sich erst beruhigen, wenn sie ihre Koffer geöffnet haben und sich danach zum Essen an den Tisch setzen. Nach dem Essen wird sie es erzählen. Sie werden schockiert sein, sprachlos. Ihre Mutter wird sagen, sie solle sich nicht über sie lustig machen. Aber sie wird ihrem Gesicht ansehn, daß es wahr ist, und sie nun Mitwisserin, auch wenn sie es nicht wahrhaben möchte. Und dann wird sie ihren Vater fragen. Wie war es damals auf der holländischen Insel Texel. Wieviel Menschen hast du getötet, Vater. Hast du sie von hinten erschossen oder ihnen dabei in die Augen gesehen oder mit dem Messer massakriert oder erwürgt oder an die Wand gestellt und erschossen?

Warum hatte sie das alles erst jetzt erfahren. Vor einem Monat war sie auf die Insel gefahren. Hatte ein paar Tage am Meer verbracht. Ahnungslos war sie in die Vergangenheit ihres Vaters getreten. Was war denn ihre Tat gegen die Greuel, die damals begangen wurden. Der organisierte Mord an sechs Millionen Juden, Homosexuellen, Zigeunern, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftern. Männer, Frauen und Kinder wurden vergast, gefoltert, verstümmelt und brutal ermordet. Millionen von Kriegstoten in Rußland und überall in Europa. Und Millionen deutscher Soldaten getötet. Im Bombenhagel der Städte krepierten Frauen, Kinder und Greise. Seitdem sie begonnen hatte zu reisen, begriff sie von Jahr zu Jahr, mit jedem Land mehr, was es bedeutete, Deutsche zu sein. Aber wie ein Stich mit dem Messer ins eigene Fleisch war ihre Entdeckung, daß dort, wo ihr Vater im Krieg war, an dem Ort, von dem es zu Hause immer hieß, daß keine Kriegshandlungen stattgefunden hätten, daß dort kurz vor Kriegsende ein bestialisches, sinnloses Morden stattgefunden hatte. Ihr Vater mußte dran beteiligt gewesen sein.

Drei Monate später, sie war schon vier Monate alt, hatten ihre Eltern geheiratet. Sie wollten ihre Ehe im Frieden beginnen, sagten sie. Behielt sie deshalb den Mädchennamen der Mutter?

Sie wollte jetzt alles von ihnen wissen. Auch die Mutter fragen, was sie wußte und wenn sie es wußte, ob ihr weißes Brautkleid nicht blutrot gewesen war. Ob sie nicht immer das Blut an den Händen des Vaters gesehen hätte, wenn er sie umarmte.

Haben sie denn jemals Frieden gehabt?

Sie spürte ihren Puls und den leeren Magen. Er brannte vom Kaffee. Sie wünschte sich, eine ganz normale Frau zu sein, so wie alle andern, mit denen sie aufgewachsen war, die jetzt Familie und Kinder hatten. Warum mußte ausgerechnet ihr Leben diese Wende nehmen, unter der sie so gelitten hatte. Bis ins Grab wird es sie verfolgen.

Ich halt das nicht mehr aus, stieß sie hervor. Blickte die ganz in weiß gekleidete Schaufensterpuppe an.

Nein, so eine Hochzeit in weiß mit Kranz und Schleier wollte sie nicht. Kinder könnte sie in ihrem Alter auch nicht mehr bekommen. Da konnten sie die Puppenbräute noch so anlächeln, um ihr Mut zu machen. Und wie sehr hatte sie sich immer Kinder gewünscht. Immer wieder hatte sie sich von der Mutter ihre eigene Geburt erzählen lassen. Sich dabei vorgestellt, selbst ein Kind zu bekommen. Der Wunsch war noch größer geworden, nachdem die Mutter ihr, als sie älter war, alles erzählte, was sich während ihrer Geburt zugetragen hatte.

Es war der 4. Mai 1945. Die Mutter stand mit Wehen im Türrahmen. Die Hebamme Thea Knolpa hatte ihr den Rücken massiert und beruhigend auf sie eingeredet. Ja, es tut weh, Frau Langeland, aber sie wissen, daß es bald vorbei ist. Sie freuen sich auf ihr Kind. Keine Angst, es kommt schon raus. Es ist noch kein Kind drin geblieben. Die Mutter hatte schwer geatmet, geprustet und gewimmert. Ihre Haare waren schweißnaß. Sie drückte sich, tief nach unten gebeugt, mit den flachen Händen im Türrahmen ab. Hatte so das Gefühl, einen kleinen Halt zu haben, wenn die Wehen wie ungestüme Wellen durch ihren Körper tobten.

Ließen sie nach, verebbten langsam, waren die soeben erlebten Naturgewalten in ihrem Innern innerhalb kürzester Zeit wieder unvorstellbar. Bis sie aufs neue einsetzten.

Vor dem Fenster polterte langsam ein Güterzug vorbei. Hoffentlich hat er Rot und muß halten, sagte die Hebamme. Es sind Sachen für die Besatzungstruppen drauf. Das sieht man an den Planen. Gestern hielt wieder einer mit Kohlen. Die Leute kommen mit Handwagen und Rucksäcken sogar aus Hamburg. Decken sich schon für den nächsten Winter ein. In Hamburg haben sie in den letzten Monaten am meisten gefroren. Vom Ruhrgebiet bis in den Norden werden die Züge überall geplündert. In Hamburg kommt fast nichts mehr an.

Es fängt wieder an, Frau Knolpa. Sagen sie mir doch, was ich falsch mache. Es tut so weh, es tut immer so weh. Hoffentlich halt ich das aus. Schreien sie, wenn ihnen danach ist, sagte die Hebamme. Ganz laut. Das hilft. Mit heldenhaftem Schweigen gehts nicht einfacher. Kommen sie, atmen sie mit mir mit. Die Mutter versuchte ihr regelmäßiges Ein- und Ausatmen zu übernehmen. Thea Knolpa rieb ihr dabei den Rücken. Ja, Frau Langeland, das Kinderkriegen geht nicht so schnell. Besonders wenns das erste ist. Und es ist anstrengend und auch schmerzhaft. Aber jedes Kind ist wie ein Wunder. Sie sagte es mit einer leisen, singenden Stimme, die Ida Langeland beruhigte. Könnten doch die Männer auch Kinder kriegen, fuhr sie fort. Dann würden sie vielleicht nicht mehr aufeinander schießen.

Thea Knolpa war im Ort, in dem die Mutter gewohnt hatte, als Kriegsgegnerin bekannt. Der Bruder der Hebamme, so wurde erzählt, war mit vielen jungen Männern singend in den ersten Weltkrieg gezogen. Die Soldaten wurden vor ihrer Abfahrt mit Blumen bekränzt. Auf dem Bahnhof brachten ihnen die Leute Brot, Wurst und Getränke, so viel, daß sie gar nicht alles essen konnten. Sie warfen die Reste auf die Gleise. So hatte es Lolas Mutter von ihrer Großmutter gehört. Die Eisenbahnwagen waren bemalt und mit Sprüchen beschrieben. Auf nach Rußland zum Preisschießen, das hatte Lola behalten, weil sie es nicht begreifen konnte, was in den Menschen vorgegangen sein mußte. Sie müssen in ihren Uniformen stolz und begeistert gewesen sein. Wollten so schnell wie möglich zur Front, aus Angst, der Krieg könne vor ihrer Ankunft beendet sein. Es dauerte nicht lange, dann kamen die ersten zurück. Auch der Bruder der Hebamme. Aber sie erkannte ihn nicht wieder. Er war nur noch ein menschlicher Torso. Die Hälfte seines Gesichts fehlte, die andere war verbrannt. Beide Beine hatte man ihm amputiert. Zehn Jahre pflegte Thea Knolpa ihren Bruder, bevor er endlich starb. Vielleicht nahmen die Nazis deshalb Rücksicht auf sie, wenn sie auf der Straße lauthals auf den Führer schimpfte und ihn und die Nazis als Kriegstreiber bezeichnete. Die Leute mieden den Kontakt mit ihr. Die meisten Frauen betraten nach der Geburt nie wieder ihr Haus. Sie fürchteten, durch sie in Schwierigkeiten zu geraten. Auch Lolas Mutter hatte Thea Knolpa für eine Volksfeindin gehalten. Als sie es Lola erzählte, war sie dabei leicht errötet. Sie erklärte es mit ihrer Mitgliedschaft im Bund Deutscher Mädel. Dort wurde sie so beeinflußt. Hielt jeden Gegner des Führers für einen Verräter. Fand es richtig, wenn man solche Menschen einsperrte.

Als der Bruder der Hebamme aus dem Ersten Weltkrieg zurückkam, ging Thea Knolpa den Sonntag darauf wie immer zum Gottesdienst in die Kirche. Während der Predigt, so erzählte man, soll sie plötzlich aufgesprungen und den Pastor auf der Kanzel angeschrien haben. Nannte ihn einen gottlosen Lümmel, weil er in seiner Predigt den Krieg verherrlichte. Sie hatte in der Kirche gestanden und den zu Boden blickenden Gläubigen den Zustand ihres Bruders in allen Einzelheiten geschildert. Den Pastor gefragt, warum er sich nicht eine Uniform anziehen würde, um sich wie ihr Bruder fürs Vaterland verstümmeln zu lassen, anstatt hier in der Kirche den Leuten den Kopf zu verdrehn und die Männer in den Tod zu hetzen. So wurde der Vorfall im Ort erzählt. Und als sie den Pastor immer wieder daran gehindert hatte, seine Predigt fortzusetzen, rief einer der Gläubigen: Hexe! Raus mit dir. Sechs Männer sollen nötigt gewesen sein, um die Hebamme aus der Kirche zu tragen. Danach hat sie nie wieder die Kirche betreten.

Mein Gott, hoffentlich ist der Krieg jetzt endlich überall vorbei, hatte Thea Knolpa zu Lolas Mutter gesagt. Sonst schicken sie auch noch die letzten Kinder an die Front. Die Hebamme verschwand kurz im Nebenraum. Als sie wieder kam, atmete Ida Langeland schon ganz ruhig. Na, sehen sie, die Wehe haben sie auch wieder geschafft. Es will raus. Und das in diese Welt. Überall Trümmer. Nichts zu fressen. Sehen sie zu, daß sie viel Milch trinken. Tauschen sie beim Bauern, wenn sie können. Dann hat auch ihr Kind alles, was es braucht, wenn sie es stillen. Ich bin so froh, daß ich bei ihnen wohnen kann, Frau Knolpa. Nie hätte ich gedacht, daß ich mal in diese Lage kommen würde. Aber wenn Hans zurückkommt, heiraten wir ganz schnell. Dann hören die auf, über mich zu reden. Tommi-Flittchen, haben die Kinder gerufen. Und das zu mir, wo ich dem Führer bis zuletzt die Stange gehalten hab. Ja, Frau Knolpa, sie sind eine wahre Christin, daß sie die Unverheirateten hier aufnehmen. Jetzt hören sie aber auf. Konzentrieren sie sich auf die nächste Wehe. Wahre Christin. – Mein Bruder kam verstümmelt aus dem Krieg. Mein Mann blieb vor vier Jahren in Stalingrad. Die Nazi Barbaren morden und foltern. Da noch an Gott glauben? Wie könnt ich das? Mein Mann würde noch hier sitzen, wenn dieser Scheißkrieg nicht wär. Von meinen Söhnen hab ich schon monatelang nichts mehr …

Sie unterbrach den Satz und wandte sich Ida Langeland zu. Sie begann wieder heftig zu atmen. Ganz ruhig in den Bauch atmen Frau Langeland, dann ist alles viel leichter. Thea Knolpa nahm die Hand der Gebärenden, stellte sich dicht neben sie und stieß den Atem in kurzen Abständen hervor. Ja, schön, so ist es gut, Frau Langeland. Ein bißchen müssen sie noch arbeiten. Es ist harte Arbeit, aber eine Arbeit, die sich lohnt. Bald lege ich ihnen ihr Kind auf den Bauch. Dann haben sie schnell alle Schmerzen vergessen. Es läßt nach, es läßt wieder nach, hauchte Ida Langeland. Dann kommen sie, wir müssen noch einen Einlauf machen. Auch wenn nicht viel drin ist in dieser Zeit, aber es ist leichter, wenn der Darm leer ist. Sonst kommt alles raus, wenn sie pressen. Wenn das Kind schon in dieser schweren Zeit geboren wird, braucht es nicht auch noch gleich in der Scheiße zu liegen. Ida Langeland sah aus der offenen Toilettentür zu Thea Knolpa, die wieder aus dem Fenster sah, einen langsam vorbeiratternden Güterzug beobachtete. Sie sah aus, wie sie sich immer eine Hebamme vorgestellt hatte. Vollschlank, schwere, breite Hüften, großer Busen und ein mütterlich verständnisvolles Gesicht, gepaart mit dem Blick jahrelanger Erfahrung. Sie strahlte große Ruhe aus und gab Ida Langeland das Gefühl, mit ihrer Hilfe alle Schwierigkeiten bei der Geburt überwinden zu können. Hoffentlich wird es ein Mädchen, rief die Hebamme plötzlich, während sie sich vom Fenster abwandte. Und mit bitterem Ton fügte sie sehr laut, damit Ida Langeland es auf der Toilette hören konnte, hinzu, da haben sie länger was von. Zwei Kriege hab ich jetzt schon erlebt. Viele, die bei mir den ersten Schrei getan haben, haben in diesem verdammten Krieg ein letztes Mal geschrien, bevor sie im Dreck krepierten. Sie ging auf Ida Langeland zu. Ich bin ja unmöglich. Entschuldigen sie. Aber es ist die Angst um meine Söhne. Wieder hab ich das Gefühl wie vor vier Jahren, kurz bevor ich die Nachricht vom Tod meines Mannes bekam. Das war furchtbar. Ich wollt nicht mehr. Erst mein Bruder und dann mein Mann. Aber bald wurd ich wieder gerufen, und als ich das winzige Leben in den Händen hielt, dachte ich, das ist stärker als der Tod. Jedes neue Leben, das die Frauen aus ihren Leibern pressen, ist Ein-Sich-Wehren, eine Kampfansage an das Morden der Männer. Warum hindern wir sie nicht, wenn sie uns die Söhne nehmen. Das Vaterland verteidigen. Im Mutterland arbeiten sollen sie. Mit ihren Kindern spielen. Hoffentlich werden meine Söhne es jemals erleben, daß sie Kinder haben werden. Mit den letzten Sätzen begann ihre Stimme zu zittern. Sie drehte sich schnell zum Fenster und sah hinaus. Als sie sich gefangen hatte, ging sie, die Situation überspielend, auf Ida Langeland zu. Na, gehts wieder los, Frau Langeland. Ganz ruhig bleiben. Schön in den Bauch atmen. Ich hör jetzt auf mit meinem Gerede.

Ida Langeland antwortete nicht. Sie spürte, wie die Wehe immer heftiger wurde. Dann mußte die Hebamme Lolas Mutter auf Gregor angesprochen haben. Haben sie noch was von Gregor gehört, Frau Langeland? Stimmt es, daß er für den Feind gearbeitet hat?

Lola begann zu frieren. Noch immer stand sie vor den Brautkleidern. Wer war dieser Gregor, den ihre Mutter erst erwähnte, als sie ihr vor einigen Jahren nach sehr langer Zeit noch einmal von ihrer Geburt erzählt hatte. Es war einer der seltenen Abende, an denen Lola sich ihrer Mutter wieder einmal sehr nahe gefühlt hatte. Sie bat sie, ihr noch einmal die Geschichte von ihrer Geburt zu erzählen. Sie hatte Geschichte gesagt, so wie sie es früher getan hatte, wenn sie ihre Mutter damit bedrängte. Denn für sie war es eine spannende Geschichte gewesen, die sie immer wieder aufs neue hören konnte. Sie war sich nicht ganz sicher, aber sie meinte, daß ihre Mutter für einen Moment erschrak, als sie den Namen Gregor aussprach. Den Namen, den sie vorher noch nie ihr gegenüber erwähnt hatte. Als Lola nicht nachfragte, hatte sie weiter erzählt.

Was passierte bloß in den letzten Tagen? Vergangenheit und Zukunft verschmolzen in Lola immer mehr. Sie tagträumte durch die Straßen und wurde täglich unruhiger. Etwas gärte in ihr. Die Reisen der letzten Jahre liefen wie ein Film vor ihr ab. Überall waren Gedenkstätten, die an die Greueltaten der Deutschen erinnerten. Sie dachte an den Friedhof in Den Burg auf Texel. Dort fanden sie die Massengräber der Georgier. Immer wieder fiel ihr fast gleichzeitig die Geburt ein. Fragen über Fragen, die sie ihren Eltern stellen wollte. Und während sie fragte, bekam sie schon Angst vor den Antworten. Aber eines war ihr jetzt völlig klar, den Mord, den sie begangen hatte, mußte sie endlich ihren Eltern gestehn. Und es war Mord. Auch wenn sie ihn selber jahrelang, um irgendwie damit zu leben, für sich als einen tragischen Unfall zu erklären versucht hatte. So wollte sie nicht mehr leben. Das junge Paar, das sie kurz vor Ladenschluß aus dem Reisebüro hatte kommen sehen, stellte sich neben sie. Sie unterhielten sich flüsternd über die Brautkleider.

Lola ging weiter. Kam zu einer der vielen Spielhallen, die in den letzten Jahren auf der Einkaufsstraße eröffnet worden waren. Viele kleine Geschäfte und Gaststätten wurden verdrängt. Noch nie hatte Lola eine Spielhalle betreten. Es war eine andere Welt, mit der sie nichts zu tun haben wollte. Aber jetzt ging sie hinein. Schummriges Licht, nur die Automaten leuchteten. Fast vor jedem Spielgerät stand ein Mann, starrte auf die Zahlen oder die Flugzeuge und Männchen, die abgeschossen oder gefangengenommen werden mußten. Niemand achtete auf sie. Von dem großen Restaurant war nichts übriggeblieben. Vor ein paar Wochen hatte sie mit Erol hier noch gegessen, kurz nachdem sie sich getrennt hatten. Jetzt waren die Wände mit schwarzrotgoldgestreiftem Samtstoff bezogen. Es war sehr warm. Der Qualm, der von den Zigaretten der Raucher vor den blinkenden Automaten aufstieg, schien von den Lichtspots in den Ecken des hohen Raumes angesogen zu werden. Über den Köpfen der Spieler bildete er eine langgezogene trichterförmige Wolke. Sie stellte sich vor einen der Spielautomaten. Er sah ähnlich aus wie das Gerät in der Bahnhofskneipe, in die ihr Vater sie sonntags manchmal mitgenommen hatte. Sie hatte immer fünf Groschen bekommen. Sich auf einen Barhocker gekniet, um das Geld in das Spielgerät werfen zu können. Die drei Zahlenscheiben drehten sich, sobald das Geld eingeworfen war. Rote Tasten leuchteten auf, mit denen die Scheiben gestoppt werden konnten. Einmal gewann sie schon mit dem ersten Zehnpfennigstück. In jedem Viereck blieb die Zahl Eins stehen, ohne daß sie eine der Tasten gedrückt hatte. Der Automat spuckte zehn Groschen aus, und der Fall jedes Geldstücks in die Blechschale wurde von einem Klingeln begleitet. Sie ließ ihren Gewinn schnell in der Manteltasche verschwinden und wartete aufgeregt, bis der Vater sein Bier ausgetrunken hatte und mit ihr nach Hause ging.

Hier in der Spielhalle schienen sich alle Nationalitäten zu versammeln, im Gegensatz zu den Kneipen in diesem Viertel, in denen nichts von der hohen Ausländerdichte des Stadtteils zu merken war. Die Deutschen blieben unter sich. Die türkischen Männer trafen sich in ihren Cafés. Aber auch nicht alle, nur die Arbeiter, die bei Ford, Bayer oder KHD arbeiteten. Die türkischen Intellektuellen hatten, wie auch schon in der Türkei, ihre eigenen Treffpunkte. Nur hier in der Spielhalle gab es keine Unterschiede. Vor den Automaten standen Männer vieler Nationen ohne Berührungsängste und Verständigungsschwierigkeiten.

Good luck, rief ihr ein Schwarzer zu. Lachte sie mit seinen großen Augen an. Das Weiß seiner Pupillen leuchtete ebenso wie das seiner Zähne. Wie auf ein Zeichen drehten alle die Köpfe. Sahen zu ihr hinüber. Was wollte sie hier zwischen all den Männern. Und was wollten die vielen Männer hier in diesem Loch. Las Vegas, welch schillernder Name für diese Spelunke, in der eine ältere Frau gerade begann, die Kippen und leeren Zigarettenschachteln aufzufegen.

Hey, Lola, how are you? rief der Schwarze und kam auf sie zu. Erst jetzt erkannte sie den Äthiopier. Er hatte mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter in der Wohnung über Erol gewohnt. Sie hatte ihnen bei der Suche nach einer neuen Wohnung geholfen. Hey, Lola, was machst du hier? Warum bist du nicht zu uns gekommen. Meine Frau fragt immer nach dir. Du solltest uns besuchen. Weißt du, daß wir einen Jungen haben?

Ja! Erol hat es mir erzählt. Und die Wohnung, habt ihr sie bekommen?

Oh nein, was denkst du. Dieser Mann da im Amt. Immer wieder sind wir hingegangen. Ich weiß nicht. Sie müssen warten. Geduld, Geduld, hat er immer gesagt. Später, nicht daß sie denken, ich habe etwas gegen Ausländer. Oh Mann, ich dachte, sein Kopf platzt, Lola, als du mit warst und so böse mit ihm wurdest. Du wolltest helfen, aber er hat seine Gesetze. Das hat mit Juden und Zigeunern nichts zu tun, hat er gesagt. Reden sie doch keinen Unsinn. Er dachte, wir haben zu wenig Geld für die Miete, weil ich keine Arbeit hatte. Außerdem wohnten nur Deutsche im Haus. Er wollte keinen Ärger haben. Es war nicht leicht, Lola, bestimmt fünfzig Wohnungen haben wir gesehen. Oh God! Und plötzlich lachte er schallend. Schlug mit der Faust in seine Handfläche, daß es laut klatschte. Aber es war schön, Lola! Er dachte bestimmt, du, eine Linke und Emanze und dann noch mit einem arbeitslosen Nigger, seiner schwangeren Frau und einem kleinen Kind. Oh God, das war zu viel für ihn. Aber du weißt noch nicht, Lola, wir haben jetzt eine schöne Wohnung. Er lachte wieder schallend. Wir sind ganz unter uns. Wieder drehten sich alle um. Einige Männer schienen inzwischen verärgert über die laute Störung. Außer uns wohnen nur Türken im Haus, fuhr er fort und grinste breit. Aber sag mal, Lola, stimmt es, daß Erol zurück ist in die Türkei?

Ja, er lebt in Mersin, an der Mittelmeerküste, hat dort ein kleines Geschäft mit seinem Onkel.

Und du wolltest nicht mitgehn? Es ist schön warm dort und kein Regen wie hier. Ich wär froh, ich könnte wieder zurück.

Nur die Sonne macht es nicht, sagte Lola und sah auf den Boden.

O.k. ich frage nicht, aber schade, ich dachte, ihr würdet auch bald ein Kind bekommen. Ihr wolltet es doch beide. Anyway, du brauchst nichts zu sagen. Aber du mußt uns besuchen, Lola. Du mußt unsren Jungen sehn.

Ich besuch euch in der nächsten Zeit. Gib mir eure Telefonnummer. Ich ruf vorher an. Aber jetzt muß ich gehn.

Das wär schön, Lola. Meine Frau wird sich freuen. Sie kann was zu Essen machen. Wir können trinken und reden. Komm abends, ich hab wieder Arbeit.

Lola überquerte schnell die Straße. Es war völlig windstill. Eine feuchte Dunstglocke hing über der Stadt. Die Kirchturmspitze war nicht mehr zu erkennen. Sie ekelte sich vor den Abgasen der Autos. Bog in eine Seitenstraße. Die führte zu einem kleinen Platz, der von hohen Bäumen und parkenden Autos umgrenzt wurde. Unvorstellbar, daß Kinder in der Großstadt aufwuchsen. Sie genoß es, in der Stadt zu leben. Die Anonymität, verbunden mit der Lebendigkeit des städtischen Lebens. Jedoch konnte sie sich nicht vorstellen, daß sie ihre eigene Kindheit in dieser Stadt hätte verbracht haben können.

In der kleinen Siedlung, in der sie aufgewachsen war, waren die Straßen damals noch nicht einmal geteert. Nur manchmal hatte ein Lastwagen, der zu einer Baustelle fuhr, die spielenden Kinder auf der Straße gestört. Ringsherum waren Felder und sogar noch eine freie Fläche, die erst ein paar Jahre später bebaut wurde. Dort machten sie Feuer, gruben Erdhöhlen aus, bedeckten sie mit dicken Grassoden. Nach einigen Tagen erkannte niemand mehr den Unterschlupf. Sie und ihre Freundin durften als einzige Mädchen das Quartier der Jungen betreten. Und wehe, eine von euch fängt was mit nem Tommi an. Dann machen wir kurzen Prozeß, hatte einer von den Älteren gedroht, der sich noch gut an den Krieg erinnern konnte. Die Jungen hatten in den Feldern gegen die Engländer gekämpft, und sie und ihre Freundin mußten das Lager bewachen.