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Iko Andrae

Die Reise in einem Cocktailshaker

Mit der Segelyacht Balu von Bremen nach Tobago und wieder zurück

FUEGO

Über dieses Buch

Als Iko Andrae und seine Frau Maret Nacken im August 2005 wieder in Bremen ankommen, haben sich beide einen großen Traum erfüllt: Sie sind nach einer dreijährigen intensiven Vorbereitungszeit auf ihrer nur 9m langen und 3m breiten Segeljacht Balu zweimal über den Atlantik gesegelt – von Bremen bis Tobago und zurück.

Detailliert schildert Andrae seine Eindrücke und die Gefühle der 14-monatigen Reise. Er beschreibt die Achterbahnfahrten seiner Emotionen, einem Mix aus von irgendwo abreisen und Abschied nehmen, manchmal bis ins Mark anstrengendem Unterwegssein und der Vorfreude auf das Ankommen an neuen Orten. Er beschreibt die fruchtbaren Begegnungen und sich entwickelnden Freundschaften mit gleichgesinnten Seglern aus aller Welt und vielen Einheimischen an den Küsten und auf den Inseln des Nordatlantischen Ozeans.

Auszüge aus seinem Bordtagebuch ergänzen sehr authentisch diesen spannenden Erlebnisbericht mit Eintragungen über die wiederkehrenden kleinen und großen Baustellen an Bord. Sie erzählen von den einsamen und anstrengenden Nächten auf hoher See, von den Strapazen vor allem bei schlechtem Wetter, aber sie berichten auch von unzähligen kleinen und stillen Glücksmomenten, die letztlich alles andere überwiegen und für die sich alle Anstrengungen gelohnt haben.

Wieder Zuhause

Draußen schauert es seit Ewigkeiten und kaum ein Tag ist ohne Sturmwarnung. Aus meinem Büro blicke ich auf den Oldenburger Hafen und verfolge ein Binnenschiff, das mit voller Kraft voraus gerade noch die Kurve aus dem Küstenkanal in die Hunte schafft. Die Eisenbahnbrücke steht offen, der Schiffsführer hat es eilig. Durch das Dröhnen des Diesels und das Klappern der Sonnenschutzlamellen an meinem Fenster dringen die schrillen Rufe einiger Austernfischer, die wie immer aufgeregt über das Hafenbecken fliegen. Das Schiff, das Wasser und letztlich die Vögel lösen in mir etwas aus. Plötzlich rieche ich Salzwasser, nehme den herben Duft von Algen wahr, sehe Bilder vom Meer, Wellen, Horizont, Maret und mich auf unserer Balu, alleine auf dem Ozean. Sofort sind sie wieder da, die Bilder, die Eindrücke und vor allem die Gefühle unserer Reise. 14 Monate waren wir unterwegs, von Bremen bis nach Tobago und wieder zurück. Als Maret und ich am 19. August 2005 nach genau 417 Tagen wieder zuhause ankamen, hatten wir uns einen großen Traum erfüllt und waren mit unserer 9m langen Segeljacht Balu zweimal über den Atlantik gesegelt.

Teil I

Der lange Weg ins Paradies

„Die Karibik beginnt ja auch gleich hinter Borkum!“

Bremen am 17. Juni 2004. Unser alter Volvo-Penta MD 7a wummerte eintönig und der Bug zerteilte das unruhige Wasser des Bremer Hohentorshafens. Vorbei an den schwarzen Schuten und dem Anleger vom Holzhandel Gluud fuhren wir der Weser entgegen. Hinter uns winkten immer noch ein paar Freunde vom Binnenschiff am rostigen Werftsteg zu uns herüber. Arme, die immer kleiner wurden, kreisten in den stürmischen Böen, als würden sie vom Wind angetrieben. Sara, unsere Mitbewohnerin, hatte uns mit einem Celloquartett überrascht. Regenböen zerstoben die Töne einiger sentimentaler Abschiedslieder unter dem Fahrradstand des verlassenen Werftgeländes, selbst die Cellokästen machten sich selbstständig. Spätestens bei Auld Lang Syne flossen die Tränen.

Die Außenweser begrüßte uns mit sieben Windstärken, und die kommen dort gewöhnlich direkt von vorne. Containerfrachter zogen wie Perlen an einer Schnur aufgereiht an uns vorbei. An Kreuzen war im beengten Fahrwasser kaum zu denken. So polterten wir mit Unterstützung der Maschine mit dem Strom und gegen den Wind der Nordsee entgegen. Ätzend hoch und steil war die See bis Höhe Leuchtturm Alte Weser. Bei meinem ersten Kochversuch unter „realen“ Bedingungen in der engen und schaukeligen Kombüse, auf unserem kardanisch aufgehängten, zweiflammigen Optimus Petroleumkocher, musste ich mich übergeben. Zum ersten und auch zum letzten Mal auf unserer Reise.

Den Kurs auf Wangerooge konnten wir bald anliegen, doch hinter der Ansteuerungstonne Harle im Seegatt zwischen der östlichsten der ostfriesischen Inseln und Spiekeroog schoss uns beiden das Adrenalin durch den Körper. Bei 1,70m Wassertiefe piepte der Tiefenalarm. Nur 15cm Wasser waren noch unterm Kiel und das bei aufgewühlter See zwischen den Inseln! Wieder musste die Maschine mitlaufen. Wir hatten uns vorgenommen, bei der ersten Grundberührung sofort scharf umzudrehen.

Wie oft war ich schon durch dieses Seegatt gefahren. Mit einem Jollenkreuzer mit nur 30cm Tiefgang die Brandungswellen im flachen Wasser hinab zu surfen, konnte ein grenzwertiger Genuss sein, doch jetzt, mit einem Kielschiff war es etwas völlig anderes.

Das Wasser lief seit zwei Stunden wieder auf. In der Seekarte war für diese Stelle bei Niedrigwasser minimal 1,90m Wassertiefe angegeben. Die Karte war zwar erst ein Jahr alt, aber manchmal sind die Seekarten schon am Tage der Drucklegung veraltet. Mit jedem Sturm werden hier an der deutschen Nordseeküste abertausende Tonnen Sand bewegt. Wer denkt bei einer Atlantiktour schon an aktuelle Wattenmeerkarten?

Mit viel Glück und einem Schutzengel, der unseren Kiel im entscheidenden Moment über die flachste Stelle hob, erreichten wir unseren zweiten Abschiedshafen. Alles was segeln konnte, machte sich an diesem Wochenende auf den Weg gegen den böigen und kalten Westwind nach Wangerooge. Zwei Freunde aus Oldenburg querten die fünf Meilen übers Watt sogar zu Fuß.

Am Abend, im Vereinsheim des Wangerooger Yachtclubs, feierten wir mit unseren Freunden vom Festland und von der Insel. Marets Akkordeon und meine Gitarre wurden von Bord geholt und ein paar Freunde vom Shantychor sangen mit uns um die Wette. Ja genauso hatte ich mir das vorgestellt. Nur Karl und seine Mitseglerin wurden noch vermisst. Spät in der Nacht musste dann das Rettungsboot auslaufen und die beiden von einer hohen Muschelbank ziehen. Übernächtigt und mit rotumränderten Augen überreichten sie uns am nächsten Morgen einen großen Präsentkorb mit eingeweckten Ostfriesischen Spezialitäten, bestimmt für ganz besondere Momente. Den Grünkohl öffneten wir Anfang Dezember auf La Gomera. Der Sniertjebraten aus Remels brachte es sogar bis nach Tobago.

Als Maret und ich am folgenden Tag noch immer etwas benommen am Ende des Steges standen und dem letzten Boot hinterher winkten, waren wir die Zurückbleibenden, dabei waren wir es doch, die eigentlich in die Ferne segeln wollten!

Maret

Maret in unserer "Balu"

Ganze neun Tag lang hingen wir auf der Insel fest. An acht Tagen davon blies der Wind in Sturmstärke. Für eine Nacht verkrochen wir uns sogar in eine Ferienwohnung einer Freundin im Inseldorf. Im Hafen war es so laut, dass an Schlaf nicht zu denken war. Neben allem meteorologischen Ungemach war auch noch unser Funkgerät ausgefallen, Blitzschaden, wie wir annahmen. Täglich zeigten sich neue Baustellen. Auch unsere Logge und das GPS taten plötzlich nicht mehr, wozu sie bestimmt waren. Das Funkgerät schickten wir schließlich zur Simrad-Vertretung nach Emden. Eine Reparatur wurde versprochen binnen etwa einer Woche.

Die Insulaner begannen schon, uns aufzuziehen: „Wo wollt ihr noch mal hin? In die Karibik? Na ja, da seid ihr ja schon weit gekommen und die Karibik liegt ja auch gleich hinter Borkum!“

Nach neun langen Tagen ging es weiter Richtung Westen. Doch wir schienen immer noch nicht reif zu sein für einen längeren Schlag und bekamen auf dem Weg von Norderney nach Borkum dann auch gleich eine nasskalte Lektion erteilt. Die Vorbereitung auf den eigentlich kurzen Törn war lausig. Wir waren in einiger Hektik quasi noch während eines viel zu späten Frühstücks bei Sonnenschein gestartet. Den Kaffeepott hielt ich in der einen Hand, die Brötchenhälfte steckte zwischen den Zähnen, warf einen kurzen Blick auf den Tidenkalender und legte ab. Die aktuelle Seekarte lag nicht an ihrem Platz, eine Abkürzung nach Westen verpassten wir und brauchten so zwei qualvolle Stunden länger als gedacht. Die See draußen tobte, besonders bei der Annäherung ans Borkumriff bekamen wir das zu spüren. Medikamente gegen meine anfangs schon erwähnte Unpässlichkeit hatte ich nicht eingenommen. Auch zu Essen war nichts vorbereitet, von heißen Getränken ganz zu schweigen. Warme und wetterfeste Kleidung lag wunderbar verstaut im Schrank. Beim ersten Vorsegelwechsel tauchte ich dann gleich bis zur Hüfte in bleigraues und kaltes Nass und guter Letzt ergoss sich ein Schwall Nordseewasser über unsere Bettdecken im Vorpiek. Wir hatten die Vorschiffsluke nicht verschlossen. Wie dämlich kann der Mensch doch sein!

Eine Vorher–Nachher–Liste all der Vorkehrungen, die einen Reisestart nicht nur bei widrigen Bedingungen einfacher machen, hing seit diesem Tag, bis zum Wiedereintritt in die heimische Atmosphäre, als ständige Erinnerung und Mahnung an Steuerbord neben dem Niedergang.

Bordtagebuch Freitag 02.Juli – „Schauer und Böen, 7 Beaufort und mehr aus NW. Rasen die Ems hoch bis zur großen Seeschleuse. Machen am Steg vor der Schleuse fest. Maret versenkt kurz nach dem Anlegemanöver ihr Portemonnaie im Hafenschlick. Drei Meter Wassertiefe und absolut null Sicht beim Tauchen. Ihr Ausweis, Führerschein, Bankkarte, Visakarte, Krankenkassenkarte, Geld, alles ist da drin. Wir laufen los, um einen Käscher zu besorgen.

In Hafennähe soll es einen Ausrüster geben, wir haben aber kein Glück und werden weitergeschickt. Dort hat man das Angelzeug gerade vor ein paar Wochen aussortiert, wurde ja doch immer nur geklaut. Die korpulente Dame an der Kasse schickt uns zu einem Baumarkt. „Einfach 1km die Straße hoch, dann rechts, unter einer Unterführung durch und dann nochmals 3 km weiter.“ Es regnet, es ist kalt. Ein Bus ist nicht in Sicht. Hand in Hand und tropfnass laufen wir durch ein ödes Emder Gewerbegebiet. Wir fühlen uns erbärmlich und gottverlassen. Wenn das jetzt einer unserer Freunde sähe, der lachte sich schlapp. Weltenbummler im Emder Schietwetter. Nach mehr als 14 Tagen sind wir gerade mal 130km Luftlinie von unserem Startpunkt entfernt. An einem Wohnhaus treffen wir auf ein Taxi. Die Fahrerin beginnt gerade mit ihrer Schicht und fährt uns zum Baumarkt. Dort gibt es ihn endlich, den großen Käscher. Wir lassen uns zum Außenhafen zurückkutschieren. Das wird zwar ein teurer Käscher, aber der ist dann natürlich auch der beste der Welt. Leider haben wir auch mit dem neuen Gerät kein Glück. Die Geldbörse wird wohl auf ewig im Schlamm vergraben bleiben.“

Flucht durch die holländischen Kanäle

Nur ein paar Kilometer flussabwärts am anderen Emsufer ragten hohe Kräne über die Deichkante. Es war Delfzijl, Industriehafen mit Eingang zum niederländischen Kanalsystem, der sogenannten Standemast-Route.

Da sich das Wetter auch in absehbarer Zeit nicht ändern sollte, wählten wir diesen langsamen, aber auch sicheren Weg über Groningen und das Lauwersmeer, Dokkum, Leeuwarden und die friesische Seenplatte nach Lemmer am Ijsselmeer. Wer sich viel Zeit nimmt für wunderschöne alte und neue niederländische Architektur, Kultur und Landschaft, wird diese Fahrt unbedingt genießen.

Unsere Motivationskurve jedoch stagnierte trotz der schönen Aussicht zu dieser Zeit so ungefähr bei null. Maret wurde seit Tagen schon von Heimweh geplagt. Mit Engelszungen versuchte ich immer wieder, sie aufzumuntern. „Weite, blaue Himmel, hohe, lange Wellen, Fliegende Fische, sternklare Nächte, das Kreuz des Südens“, das war seit drei Jahren unser Mantra. Doch momentan trieb uns die weit entfernte Aussicht auf die Wärme des Südens und schönstes Passatsegeln auf dem Atlantik nur noch mäßig voran. Auch in meinem Kopf begannen bereits die schillernden Traumbilder in Eastmancolor zu verblassen.

Technisch waren wir bestens ausgerüstet. Unsere To-do-Liste war zwar immer noch so lang wie der Rhein, aber die Aufgaben darauf schienen eigentlich lösbar. Sie waren schließlich nur technischer Natur.

Von Lelystad aus ging es weiter durch das Markermeer in den Nordzeekanal und vorbei an Amsterdam bis nach Ijmuiden. Als Balu durch das Schleusentor zurück in die Nordsee glitt, ragten dort die Schornsteine eines Stahlwerkes hoch in den bleigrauen Himmel über einer futuristischen Marina. Wir kannten den Hafen seit unserem Ausbildungstörn nach England und wussten, was uns erwartet. Die nächtliche Ansteuerung Ijmuidens von See aus war eine der anspruchsvolleren Aufgaben der damaligen Fahrt. Vor lauter blinkenden, blitzenden und blendenden Irrlichtern konnte ich damals die Tonnen und Leuchtfeuer vor der Hafeneinfahrt kaum erkennen. Die Marina Ijmuiden, eine architektonische Meisterleistung aus Beton, belegte fortan auf unserer Liste der hässlichsten Jachthäfen den zweiten Platz, gleich nach der Borkum-Marina.

Als wir am folgenden Morgen den Strand entlang spazierten und zum ersten mal seit langem wieder auf die offene Nordsee blickten, lugte für einen kurzen Moment die Sonne durch die Wolkendecke. Sofort hob sich unsere Stimmung. Augenblicklich brachen wir unseren Spaziergang ab und machten das Boot klar.

In Scheveningen, dem von Ijmuiden nur 25 Seemeilen entfernten Seehafen von Den Haag, steckten wir dann wieder einmal fest. Unser Motor zog Luft und, was noch viel unangenehmer war, in der Bilge sammelte sich eine stinkende Diesellache. Ein netter Mechaniker machte sich an unserem alten Volvo-Penta MD 7a zu schaffen und tauschte einige defekte Kraftstoffleitungen aus.

Anfang Juli, Scheveningen, Hochseeseglerhafen. Das quirlige Leben dort machte uns Mut. Den Hafen säumten Restaurants, Lagerhäuser und Fischgroßhandlungen. Ein paar Trawler warteten am anderen Ende des großen Beckens auf ihren nächsten Einsatz. Am übervollen Steg der Marina lagen Boote aus ganz Europa. Wie alle, mussten auch wir wegen der Enge die vorgeschriebene Fluchtrichtung einnehmen, alle Bugspitzen zeigten zum Hafenausgang. Ein niederländischer Skipper gab uns wertvolle Tipps für den englischen Kanal. Spätestens Ende Juli wollten wir in Falmouth sein und mit unserem Freund Lothar über die Biskaya segeln, doch bis dorthin waren es noch ziemlich viele Meilen und bei unserem bisherigen Tempo ein sehr langer Weg.

Bordtagebuch Samstag 17.Juli – „Seit genau einem Monat unterwegs! Was für ein toller Segeltag! 40 Meilen sind es bis nach Vlissingen. Gegen neun Uhr schleusen wir aus dem Haringvliet, wo wir die letzte Nacht an einer Muring verbracht haben, zurück in die Nordsee. Leichte Nebelschleier hängen noch vor der Küste, sie lösen sich aber bald auf und geben die Sicht frei auf die wunderschöne Dünenlandschaft des Scheldedeltas. Mit 6,5 Knoten Rauschefahrt geht es voran.

Am Nachmittag wird es am westlichen Horizont zunehmend dunkel. Der Seewetterbericht im Deutschlandfunk hat schon am Morgen den Durchzug einer Gewitterfront angekündigt. Nach einem kurzen Badestop im kühlen, klaren Meer, der Wind ist schon bald völlig eingeschlafen, geht es unter Maschinenbrummen das letzte Stück die Westerschelde hinauf. Der Strom kommt uns schon bald entgegen. Das eigentlich kurze Stück wird lang und immer länger, die dunklen Wolken kommen immer näher. Eine Gewitterwalze nähert sich uns mit bedrohlicher Geschwindigkeit. Als sie uns Minuten später erreicht, beginnt es zu blitzen und der Wind erreicht Sturmstärke. Zum Glück haben wir die Segel rechtzeitig geborgen. Bald regnet es so stark, dass ich an der Pinne keine Sicht mehr habe. Maret sitzt unten am Kartentisch, plottet mit dem GPS unsere Position und teilt mir den Kompasskurs mit. Sie schreit ihn mir durch das Plexiglasschott zu. Eine rote Fahrwassertonne kommt in Sicht. Voraus liegt eine Tankerreede, an Backbord der Strand von Vlissingen, an Steuerbord Sandbänke. Von achtern fliegen die hohen und brandenden Wellenkämme. Wenn direkt neben dem Boot ein Blitz einschlägt, fahre ich zusammen. Es blitzt und knallt, als säßen wir mitten in einem Feuerwerk. Mein Arm wird lang und länger vom Steuern im Surf, meine Knie beginnen zu schlottern, die Füße stecken in hohen Gummistiefeln, die vom Regenwasser überlaufen. Immer wieder rede ich mir ein, dass ein Boot auf dem Meer statistisch nur selten, fast nie vom Blitz getroffen wird. Für den Moment hilft das! Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt die Einfahrt des Vlissinger Stadthafens in Sicht. Der Brückenwärter, der, wie ich später erfahre, auch noch die Ämter des Kneipenwirtes und des Hafenmeisters bekleidet, steht oben auf der Kaimauer und gibt uns hektische Zeichen, dass er die Brücke sofort öffnen wird. Was für ein erlösendes Gefühl ist das, als wir durch die schmale Öffnung in den alten Hafen rauschen! Doch, als wäre es noch nicht genug, geht der Trubel hier drinnen weiter. Am Hafen ist eine Kirmes aufgebaut und wir bekommen einen Liegeplatz direkt unter einem Karussell zugewiesen. Murphy lässt grüßen!“

Maret

Gewitter kommt auf!

Der Sprung über den Ärmelkanal

Drei Tage später hatten wir erstaunlicherweise sowohl die Niederlande als auch Belgien hinter uns gelassen. Seit Sonnenaufgang unterwegs, kamen wir gut voran und segelten zur Mittagszeit bereits entlang der fast geschlossenen Hochhauskulisse an der französischen Küste. Dort erweiterten wir kurzerhand unser Minimalziel Calais um die Überquerung des Ärmelkanals.

Um im stark befahrenen Verkehrstrennungsgebiet auf der Meeresenge zwischen Frankreich und England besser gesehen zu werden, setzten wir Höhe Calais den großen Radarreflektor unter der Saling und suchten mit weiten Augen die Schifffahrtswege am diesigen Horizont ab.

Die stark befahrene Schiffsautobahn ist etwa 100 Seemeilen lang, 18 Seemeilen breit und hat zwei Fahrstreifen, für jede Richtung einen. Zum horizontalen Verkehr der Großschifffahrt kommen die vielen Kanalfähren, die uns viel mehr noch beschäftigten, da sie mit hoher Geschwindigkeit oft ganz plötzlich aus dem Nichts auftauchten.

Dover Coastguard brachte auf Kanal 16 sein Endlosprogramm. Unser Funkgerät quäkte schon seit Stunden im Hintergrund. Die britische Küstenfunkstelle hat die Oberhoheit über den Schiffsverkehr auf dem Ärmelkanal. Amtssprache ist Englisch.

Große Frachter kündigten ihr Kommen bereits Höhe Cornwall an und baten um Erlaubnis, den Sicherheitsstreifen passieren zu dürfen. Dover Coastguard ermahnte, wenn die Funkdisziplin nicht eingehalten wurde. Ein französischer Funker wurde zurechtgewiesen, als er sich herausnahm, seine

Muttersprache zu benutzen. Ein Schiffsoffizier auf einem russischen Frachter, unterwegs von Skt. Petersburg nach Amerika, rang um jedes Wort.

Rechtzeitig zur Tea-Time waren wir ohne Störungen auf der anderen Seite des Kanals angekommen. Die berühmten weißen Klippen von Dover hatten wir längst gesichtet und meldeten pflichtgemäß über Kanal 74 unser Kommen bei Dover Port Control.

Während der Überfahrt malte ich mir tagträumend unseren Empfang in britischen Hoheitsgewässern aus. Die Lautsprecher unseres CD-Spielers standen an Deck, „Jerusalem“ von Sir Charles Hubert Parry dröhnte ganz laut über das glatte Wasser und brach sich an den hohen weißen Klippen der Küste Kents. Ein weißes Boot erschien am Horizont und Vanessa Redgrave stand am Bug und winkte zu uns herüber. Was für ein kitschiger Traum!

Minuten später kam uns dann tatsächlich eine Barkasse entgegen und geleitete Balu innerhalb der riesigen Mole des Hafens von Dover zur Marina, wo man uns einen Platz am Steg der Admiralty Pier zuwies. Was für ein grandioses Gefühl war das, auf eigenem Kiel hier angekommen zu sein!

Bordtagebuch Mittwoch 21.Juli – „Dover. Die Anlagen in der Marina, hier Facillities genannt, sind alt und edel. Allein im Pissoire, einem kleinen, schlossähnlichen Granithaus, fühle ich mich königlich. Das Marinabüro macht einen professionellen Eindruck. Ständig werden Informationen über Funk ausgetauscht. Die Lady im Büro hat eine ziemlich quietschige Stimme. Einige männliche Mitarbeiter in marinaeigener Uniform fliegen wie Schiffsstewards der Queen Mary durch die Gegend, immer sehr beschäftigt, nett und zuvorkommend. Es ist fast wie in einer mondänen Hotelanlage. Irgendwie, denke ich, muss das imposante Liegegeld ja aber auch zustande kommen.

Am Nachmittag rüsten wir uns für den Landfall. Die Locals, die Einheimischen sind sehr freundlich, was ich natürlich auch nicht anders erwartet hatte, denn ich war es ja, der unbedingt über England segeln wollte. War es angeborene Anglophilie, eine Erbkrankheit, die sich in mir bereits in meiner frühsten Jugend den Weg bahnte, oder waren es die nautischen Überlegungen, die uns diesen Weg wählen ließen?

Maret und ich laufen auf der Strandpromenade bis zum Kreidefelsen. Dabei erschließt sich uns ein schönes, altes Seebad mit vielen weißgetünchten Hotelbauten aus der Hochzeit des Empire. Nur der riesige Ferryquay am Ostende der Bucht stört das Idyll und entlässt unentwegt lärmende und stinkende LKW. Noch oben auf den Klippen können wir deren Abgase riechen, hören wir das Dröhnen der Motoren. Wir müssen weit wandern, um dem zu entkommen, landen aber schließlich in allerschönster englischer Wallheckenlandschaft mit grünen, hügeligen Wiesen, steilen Felsen, schnuckeligen Häusern und einem wunderschönen Leuchtturm. Entlang des Coastal Path, der ganz Brittannien umschließt, führt uns der Weg nach St. Margret Bay, einem Kleinod viktorianischer Lebensart, einen Landschaftspark und einen netten Pub am Kiesstrand gibt es inklusive. Unsere Mägen knurren schon seit Stunden, doch leider ist die Küche in dem alten Pub schon geschlossen. Mit weiterhin knurrenden Mägen im Obergeschoss eines Doppeldeckerbusses fahren wir zurück nach Dover.

Was wäre ein Englandbesuch ohne Fish & Chips? Die erste Portion davon wandert noch am Abend durch unsere Hälse und schmeckt zum abgewöhnen. Die Chips sind schlapp und fettig, der Fisch verdorben durch eine kleisterartige Panade.“

Mods, Rocker, Quadrophenia – Südenglands Küste

Bei schwachen Winden segelten wir weiter um die Kaps von Dungeness und Beachy Head. Letzteres wird markiert durch einen alten Leuchtturm, fast unscheinbar klein steht er vor einer beeindruckend hohen Felskulisse, den sogenannten Seven Sisters, sieben mächtigen Kreidefelsformationen östlich von Brighton.

Ich stand schon einmal dort oben an der Kante und schaute ehrfurchtsvoll hinunter auf eine aufgewühlte See. 1983 fuhr ein Professor der Uni Brighton meinen alten Freund Ecki und mich an einem kühlen Frühlingstag durch diese Gegend. Wir waren auf Spurensuche für eine Rockoper, eine Piratenoper, in der es auch damals schon um die Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer, die Weite der Meere und den Zauber der Karibik ging.

Seven Sisters, Piraten, Brighton, Mods own country. Erinnerungen flogen durch meinen Kopf und eine Zeile aus dem Song “Love reign o´er me” kam mir in den Sinn: „Only love can make it rain the way the beach is kissed by the sea“. Der Song stammt aus der Rockoper Quadrophenia der Band The Who. Der gleichnamige Film wurde vor genau dieser atemberaubenden Kulisse gedreht.

Die englische Kanalküste schien Balu Glück zu bringen. Der Solent zwischen der Isle of Wight und Hampshire begrüßte uns mit einer Armada weißer Segel. Endlich verbrachten wir im Schutze der großen Insel auch unsere erste Nacht vor Anker. Ein Besuch in Cowes machte uns aber noch einmal klar, wie exklusiv diese Gegend ist. Für ein kurzes Anlegen mussten wir fünf englische Pfund an den Hafenmeister berappen.

Der Needles Chanel am Westende der Isle of Wight war ruppig und die Strömung äußerst stark, doch nur einen Tagestörn weiter, in der Swanage Bay, ankerte Balu wieder wie in Abrahams Schoß auf acht Metern Wassertiefe und war von Nord bis Südwest geschützt. Sogar die Heilsarmee spielte an der Uferpromenade der Kleinstadt Swanage, als wir beim Landfall unser Dinghi den Strand hochzogen. Natürlich taten sie das nur für uns!

Die Götter blieben Balu und ihrer Mannschaft auch in den nächsten Tagen gnädig. Blauer Himmel, mäßige, nördliche, also ablandige Winde, kaum Welle. Das Segeln vor dieser Küste machte Spaß und brachte uns mit großen Schritten unserem Etappenziel Cornwall näher.

Maret

Beachy Head

Bordtagebuch Montag 26.Juli – „Devon ist für mich einer der schönsten Flecken Englands. Die kleinen Flussmündungen westlich von Torquay, der River Dart, der Salcombe River und der River Yealm, sind allesamt so schön, dass man an ihnen nicht vorbeisegeln sollte. Die Ortschaften in den Estuaries sehen aus wie aus einem Märchenbuch. Vor vielen Jahren durfte ich diese Gegend mit dem Fahrrad erkunden und hatte mir schon damals fest vorgenommen, irgendwann einmal mit dem Boot hierher zu kommen.

Seit sechs Uhr in der Frühe unterwegs, trägt der leichte Wind uns immer weiter nach Westen. Als das Frühstück gerade im Cockpit aufgebaut ist, meldet sich ein Segler auf Kanal 16 und fragt den Mann der Küstenwache: „Would you please give us a radio-check“? Eine seriöse Herrenstimme antwortet: “I can hear you loud and clear“. Na gut, funktioniert doch! Das wollen wir natürlich auch und fragen ebenfalls nach unserer Funkverbindung. Klappt auch prima! Nach uns gibt es dann kein Halten mehr. Skipper auf Skipper erfragt den Empfang auf UKW. Das geht so lange gut, bis eine harsche Frauenstimme mahnt, die Funkdisziplin auf dem Anruf- und Notkanal möge doch bitte eingehalten werden.

Es wird ein schöner und langer Sommertag auf See. Vielleicht der schönste unserer bisherigen Reise. Zur Bill of Portland, der großen Halbinsel bei Weymouth, halten wir respektvollen Abstand. Bis zu sieben Knoten Strom können hier direkt unter Land entstehen. In der Seekarte sind Races eingetragen, brandende Wellen. Die Küstenlinie von Dorset verschwindet bald hinter dem Horizont, als sich die Lyme Bay an Steuerbord öffnet.“

Nach einem 70 Meilen Tagestörn erreichten wir im letzten Abendlicht die Einfahrt des River Dart. Hoch ragten die Felsen an beiden Seiten der engen Einfahrt in den Estuary, an den Hängen standen wunderschöne Häuser. Ein paar Meilen stromaufwärts fanden wir direkt vor der Stadtmitte von Dartmouth einen guten Ankerplatz.

Wir mussten bald lernen, dass man dort besser genügend Abstand zu den anderen Sportbooten hält. Wenn die Tide kippt, kann es auf dem schmalen Ankerfeld schon mal sehr eng werden. Gleich am nächsten Tag fochten wir ein kleines, wenn auch harmloses Techtelmechtel mit der Besatzung eines einheimischen Motorbootes aus, das vor gefühlten 100m Ankerkette lag und einen riesigen Schwoikreis für sich beanspruchte. Nachdem sich unsere beiden Boote fast touchierten, wurden wir aufgefordert, den Platz zu wechseln. Nach unserem Insistieren beriefen sie sich auf Ihre älteren Rechte. „We’re locals“, tönte es da etwas bollernd aus einer plötzlich gar nicht mehr so emotionslosen stiff upper lip.

Auch hier konnten wir nicht kostenlos liegen. Für das Ankern im Fluss wurde eine Gebühr von immerhin 4,20 Pfund erhoben. Für einen Normalverdiener vielleicht ein Taschengeld, war eine Gebühr fürs Ankern eine in unserer Planung nicht einkalkulierte Aufwendung. Ein Angestellter der Hafenverwaltung fuhr am frühen Abend mit einem Boot herum, kassierte den Obolus und entschuldigte sich prompt in aller Höflichkeit dafür. Er sei ja früher auch... und so weiter! Segeln in Südengland ist und bleibt eine teure Angelegenheit, das wussten wir nicht erst, seit wir in Lymington 25 Pfund für eine Nacht an einem rostigen Steg bezahlen sollten. 25 Pfund oder 37,50€, das waren immerhin einmal 74 DM!

Duschen und Toiletten fanden wir im kleinen Stadtpark, den King–Soundso–Memorial-Gardens, einem kleinen Botanischen Garten mit vielen wunderschönen, subtropischen Pflanzen und von älteren Herrschaften in Andenken an ihre verstorbenen Angehörigen gestifteten Holzbänken. Gleich am Flussufer lockten Biergärten und alte Pubs, auf ein Pint einzukehren.

Im River Dart warteten wir auf Lothar, unseren Freund und Mitsegler nach Spanien. Es war mehr ein aktives Warten, denn Langeweile oder gar Müßiggang kam zu keiner Zeit auf. Unser Motor zog trotz der neuen Dieselleitungen immer noch Luft, das Loggen-Rädchen aus Emden passte nicht und die GPS-Tochteranzeige machte, was sie wollte. Es war zum Verzweifeln. Als Lothar an Bord kam, zog er einen riesigen Serrano-Schinken aus seinem Seesack, ebenso ein weiteres Loggen-Rädchen und eine Ersatz-Tochter. Die Stimmung stieg augenblicklich und alles wurde erst einmal auf seine Güte getestet, ganz besonders natürlich der riesige Schinken. Die Logge war in Ordnung. Das Tochtergerät jedoch brachte keine Verbesserung, so dass Maret mit ihren feinen Goldschmiedefingern so lange im Gewirr dünnster und bunter Drähtchen herumprüfte und bastelte, bis sie endlich den Fehler gefunden und behoben hatte. Während dessen schraubte ich mit Lothars Unterstützung weiter an der Kraftstoffanlage unseres Motors, leider jedoch ohne bahnbrechenden Erfolg. Gegen den Schraubfrust hobelten wir bei Zeiten immer wieder am spanischen Schinken und zogen am Abend durch die nette Altstadt von Dartmouth.

Maret

Lothar flickt das Dieselleck

Cornwall - die erste Nachtfahrt

Vor unserem Törn über die Biskaya wollten wir wenigstens einmal eine Nachtfahrt unter kontrollierbaren Bedingungen ausprobiert haben. Die Distanz zwischen Dartmouth und Falmouth betrug 63 Meilen. Geschätzte elf Stunden Fahrt hatten wir eingeplant. Fünf Stunden mit, vier Stunden gegen und wieder zwei Stunden mit dem Strom. Mit Hilfe des Reeds Nautical Almanac konnten wir die etwas komplizieren Tidenzeiten genau berechnen. Nach einem ausgiebigen Abendessen und letzten Bier im örtlichen Pub verließen wir unseren schönen Ankerplatz. Wieder hielten wir respektvollen Abstand zur Küste.

Das Wasser plätscherte bald schon ruhig am Bug, die Sterne blinkten vom Himmel. Nur ein paar Fischerboote und Fähren zogen in den folgenden Stunden an uns vorbei. Die Leuchtfeuer von Salcombe und dem Eddystone Rock südlich von Plymouth ließen wir an Steuerbord. Weit draußen am Horizont leuchteten schwach die Lichter der Tanker und Frachter auf dem Weg in den Ärmelkanal. Während meiner nächtlichen Wache kauerte ich draußen in der Plicht, den Blick meistens achteraus gerichtet und machte alle zehn Minuten meine Runde. Alles war in bester Ordnung. Die triradiale Genua 2 und das Großsegel brachten uns gut voran. Unsere Windsteuerungsanlage funktionierte hervorragend, auch bei schwachem Wind. Mehr als drei Beaufort hatten wir nicht, dafür kamen diese wie bestellt aus Südost. Aus den beiden Seekojen hinter den knallgelben Leesegeln aus Markisenstoff an Backbord und Steuerbord kam unruhiges Atmen und Geraschel. Maret und Lothar konnten wohl nicht einschlafen. Da hörte ich plötzlich gleich neben dem Rumpf ein lautes Schnaufen. War das etwa ein Delfin oder vielleicht sogar ein Wal?

Glücklich, müde, jedoch mit einer leicht gereizten Grundstimmung erreichten wir am nächsten Morgen den großen Fjord des River Fal. Da war mir am frühen Morgen irgendetwas über die Leber gelaufen. Ich hätte lieber direkt vor der Stadt geankert, aber wir wollten ja Proviant für eine Woche auf See bunkern. Also war es ratsam, in eine Marina zu gehen. Als wir uns der Hafenstadt Falmouth näherten, saß ich eine Weile schweigend auf dem Vorschiff.

In der Falmouth Marina wuselten wir noch zwei Tage lang am Boot herum. Nach Wochen ewigen Suchens fanden wir endlich den Hauptschuldigen für die Luft im Bauch unserer Balu. Der Wasserabscheider lag höher als der Dieseltank und das System zog durch den Anschluss der Kraftstoffleitung am Wasserabscheider Luft. Da reichten schon ein paar Luftbläschen täglich, um uns wochenlang das Leben schwer zu machen. Mit Teflontape war es dann ein Leichtes, den Anschluss zu dichten.

Die Falmouth Marina lag ein Stück den Fluss hoch am südlichen Stadtrand. Hinter der Marina erstreckte sich eine etwas farblose Vorstadt, graue Reihenhäuser, soweit das Auge reichte, Kulminationspunkt der Mittelmäßigkeit. Kleine Vorgärten und Straßen, auf denen während unseres Aufenthalts kaum ein Mensch zu sehen war. Über allem schwebte der für Britanniens Straßen typische Teer-Duft. Der Asphalt hier roch schon immer anders als bei uns zu Hause. Am Ende einer der langweiligen Straßen fanden wir einen Pub und einen Imbiss. Lothar bekam dort seine Portion regionaler Spezialitäten, eine geballte Ladung Fish & Chips. Wir waren längst geheilt von solchen Gelüsten. Vom nahegelegenen Supermarkt karrten wir drei Einkaufswagen voll Lebensmittel zum Boot, die wohl auch für eine Atlantiküberquerung gereicht hätten. Lothar war ganz versessen darauf, auf der Biskaya am Ende einer jeden Wache ein Gläschen Wein zu trinken. Also wanderten auch noch 10 Flaschen Rotwein an Bord.

Vom Marinabüro aus konnten wir unsere Mailkontakte pflegen und benachrichtigten vor unserem ersten großen Sprung noch einmal unsere Freunde und Familien. Der Nachtwächter, ein eher gemütlicher Mensch, ließ uns nach Büroschluss ins Office. Seit über 10 Jahren war er hier beschäftigt und fand seinen Job nach wie vor super. Jeden Abend um 20.00 Uhr begann seine Schicht. Bis 6.00 Uhr in der Frühe zog er seine Runden. Sehr stolz war er, dass in diesen Jahren noch nichts wirklich passiert war.

„Ja, ist das denn nicht furchtbar langweilig?“, fragte ich staunend. „Niemals,“ versicherte er mir im Brustton der Überzeugung.

Mir gegenüber saß ein schwedisches Pärchen. Sie kamen kurz nach uns in die Marina, beide in Blaumänner gekleidet. Wir machten uns zuerst ein wenig lustig über sie, weil die Blaumänner natürlich hypercool aussahen, aber völlig unpassend für die See waren. Auch sie arbeiteten seit Tagen an ihrem Boot und wirkten nicht besonders entspannt dabei. Außer einem freundlichen Nicken hatte sich zwischen uns noch nichts abgespielt. Überhaupt hatten wir bis dato noch keinen Kontakt zu Leuten, die das Gleiche vorhatten, wie wir. Dass wir Malin und Johann, so hießen die beiden Schweden, sechs Wochen später auf der Insel Porto Santo wiedertreffen und Freundschaft mit ihnen schließen würden, konnten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Wir alle waren viel zu busy!

Einen Tag vor der Abfahrt wurden noch einmal alle Reffvorrichtungen im Groß und in der Fock auf ihre Funktionalität überprüft. Das vierte Reff im Groß war unsere Alternative zum Try-Segel. Knapp acht Quadratmeter Segelfläche blieben damit noch stehen. Wir hofften inständigst, es niemals benutzen zu müssen. 200 Liter Wasser bunkerten wir, 65 im stationären Haupttank, den Rest in 10l-Kanistern, die unter den Salonkojen und in den Backskisten verschwanden. Mit 90 Litern hatten wir genug Diesel, um 3/4 der Strecke nach La Coruna notfalls auch unter Motorkraft hinter uns zu bringen.

Nach Abschluss unserer letzten Vorbereitungen ankerten wir in einer Bucht im wunderschönen River Fal. Sanft und grün lagen die Hügel Cornwalls mit ihren vielen Steinwällen vor unsere Bug. Maret mixte uns einen karibischen Planters Punch. Vom Serrano wurde fleißig abgehobelt. Maret und ich gingen baden. Das Wasser am westlichen Zipfel Europas war ganz schön kalt. Ein paar Grad mehr durften es ruhig noch werden bis zur Karibik.

Hier am Ankerplatz war es auch Zeit für ein erstes Resümee. Lothar nannte uns alte Seebären, so fühlten wir uns aber noch lange nicht. Mit wie vielen Handicaps waren wir gestartet. Das lange sehr stürmische Wetter, die vielen kleinen Baustellen am und im Boot, das langsame Vorankommen, unsere Ängste vor schwerwiegenden Fehlern und die fehlenden Langfahrterfahrungen, all das ließ uns oft an uns und unserem Vorhaben zweifeln, wenn nicht gar verzweifeln.

Wie oft mussten wir uns noch vor gar nicht so langer Zeit gegenseitig motivieren, doch immer noch ein kleines Stück weiter nach Westen zu segeln. Der moralische Tiefpunkt am Ijsselmeer lag erst knapp drei Wochen zurück, eine heulende Maret im Vorschiff und ein sich betrinkender Iko am Kartentisch, ein weinerliches Lamento in die Tastatur seines Laptops hämmernd. Damals hielt ich ein Aufgeben wirklich für möglich. „Bis Falmouth schaffen wir es noch und dann schauen wir weiter“, so lautete danach unser Minimalkonsens.

Wenn es einen Ort gab, an dem Maret und ich noch hätten umdrehen können, dann war es wohl dieser westliche Außenposten Europas. Aber hier und jetzt umkehren? Die Nadel auf dem Kompass unserer Pläne, Träume und Hoffnungen zeigte ganz klar Richtung Süden. Was hatte unsere Einstellung verändert? War es nur die Rückkehr des Sommers? Reichten ein paar wunderschöne und sonnige Segeltage an der englischen Kanalküste, um die Stimmung so grundlegend zu bessern?

Vor unserer Abfahrt konnten wir den bevorstehenden Törn immer nur als großes Ganzes betrachten, wie einen riesigen Berg, den es zu bezwingen galt. Inzwischen versuchten wir, unser Vorhaben in kleinere Etappen zu unterteilen, flachere und erklimmbare Höhenzüge.

Jetzt standen wir vor dem nächsten und bisher spannendsten Kapitel unserer Reise. Wir hatten uns intensiv vorbereitet, waren motiviert bis in die Haarspitzen und gingen an die kommende Aufgabe mit viel Respekt, aber auch einer kleinen Portion Angst.

Begegnungen auf der Biskaya

Bordtagebuch Sonntag 01.August – „Abfahrt Biskaya. Um 10.30 Uhr legen wir ab. 480 Meilen liegen vor uns. Wir werden wahrscheinlich 4 Tage unterwegs sein. Den Tag über haben wir guten Wind aus SO. Nach Einbruch der Dunkelheit zieht die Front eines schweren Gewittertiefes durch, das bereits am Morgen von BBC 4 auf Langwelle angekündigt wurde. Es soll in östlicher Richtung zur Bretagne wegziehen. Als das Unwetter kommt, bergen wir alles Tuch. Nachdem wir zuerst etwas kopfscheu versuchen, die Front zu umfahren, blitzt es bald von allen Seiten und der Wind briest kräftig auf.

Lothar geht es nicht so gut. Doch trotzdem geht er Wache, ist jedoch auffällig still dabei. Unser warmes Abendessen geht kaum den Hals runter. Auch Lothars Glas Rotwein fällt dem Unwetter zum Opfer. Nach ungefähr einer Stunde mit stürmischen Böen und heftigen Regengüssen ist das Gewitter durchgezogen. Noch lange sieht man das Leuchten und hört das Grollen am östlichen Horizont.“

Mitten in der Nacht wurden wir durch ein infernalisches Alarmsignal aus unserem Funkgerät aufgeschreckt. Es war ein DSC-Call, ein digitaler Notruf. So etwas hatten wir natürlich bereits in der Funkausbildung durchgespielt, bekamen aber jetzt fast einen Herzkasper von der Lautstärke unseres Funkgerätes. Dem Display konnten wir entnehmen, dass es sich um einen „all-ships-call“ handelte. Über UKW hörten wir die Anweisungen von Dover Coastguard. Der Notfall spielte sich über 100 Meilen entfernt ab, ein Frachter trieb mit Maschinenschaden im Ärmelkanal. Da wir sowieso nicht helfen konnten und dringend Ruhe brauchten, schalteten wir das Funkgerät aus.

Wir hatten unsere Wachen genau eingeteilt, einen Wachwechsel gab es alle 3 Stunden. Der Abgelöste blieb noch für die nächsten 3 Stunden auf standby, falls ein Segel geborgen, oder gewechselt werden musste. Nach dem Gewitter drehte der Wind.

Den nächsten Tag über kreuzten wir in großen Schlägen gegen einen mäßig starken Südwest. Auf dem Kartentisch ausgebreitet lag die Imray-Chart Falmouth to Vigo, darüber hing eine Petroleumlampe, die nachts für das nötige Licht sorgte.

Kurz vor Sonnenuntergang machte Lothar an Steuerbord die Positionslichter eines Schiffes aus. Rot und grün, die beiden Farben der Positionslichter waren ein sicheres Zeichen dafür, dass etwas auf uns zuhielt. Auch in den folgenden Minuten kam das Gefährt immer näher, so dass wir schließlich unseren Kurs ändern mussten. Auch das unbekannte Objekt änderte seinen Kurs und kam uns bedrohlich nah. Es war ein mindestens 100m langer Kümo, der uns mitten auf der Biskaya verfolgte! Da dieser sich nicht so leicht abschütteln ließ, machten wir eine 180° Wende und sprachen unseren Verfolger über Funk an: „Big vessel on our starboard-side, this is sailing yacht Balu“. Eine freundliche Stimme antwortete. Es war der Kapitän eines niederländischen Frachters mit Kurs auf Rotterdam. Er hatte auf seinem Radarschirm einen kleinen Punkt ausgemacht, konnte aber nirgendwo ein dazu gehöriges Schiff entdecken. Da war er dem Punkt gefolgt und fand nun ein winziges Segelboot vor sich. Der Kapitän erzählte uns, dass er selbst Segler sei und davon träumte einmal mit seinem Boot auf große Fahrt zu gehen.

„I admire you being here on this big Ocean with such a small boat! Have a good and save trip”. Mit diesen Worten schloss er die Funkverbindung ab. Eine kleine Gestalt trat auf dem Brückendeck aus einer Tür hinaus. Wir sahen ein paar schwache Fotoblitze, woraufhin der Frachter mit lautem Wummern der Maschine und brausendem Schraubenwasser drehte und sehr bald in der zunehmenden Dunkelheit in nordöstlicher Richtung verschwand. Auch wir nahmen unseren Kurs wieder auf, Südsüdwest, La Coruna.

Noch in derselben Nacht wurden wir durch eine weitere und nicht weniger mysteriöse Erscheinung aufgeschreckt. Maret holte Lothar und mich aus der Koje als sie am Horizont blinkende Warnbojen ausmachte. Der Himmel vor uns erstrahlte gelb. Was waren das bloß für Lichterscheinungen? Was sollten wir tun? Wir versuchten den Lichtern auszuweichen, aber schon bald tauchte in der Kimm das nächste Blinklicht auf, gefolgt von unzähligen weiteren. Egal, welchen Kurs wir auch einschlugen, der ganze Horizont war ein blinkendes Lichtermeer. Hatte da etwa jemand die Biskaya abgesperrt? Bei Annäherung lüftete sich das Geheimnis. Die gelben, rotierenden Warnlichter gehörten zu Fischtrawlern, die am Kontinentalsockel fischten. Es mussten Hunderte gewesen sein.