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Mario Desiati

Zementfasern

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MARIO DESIATI

Zementfasern Roman

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

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Die italienische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Ternitti bei Arnoldo Mondadori Editore in Mailand.

© 2011 Arnoldo Mondadori Editore, Milano
This edition is published in arrangement with Grandi & Associati.

© 2012 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978 3 8031 4112 5

Für die Frauen der Via Pio XII

Dies sind meine Leute, und ich werde zu
ihnen und zur Liebe meiner Mutter zurückgekehrt sein.

John Fante

Schneidet mir die Pulsadern auf
und macht aus dem Blut
Blumen für mein kleines Mädchen

Stefano Coppola

1975

Das Haus aus Glas

Die Vorfahren hatten ihr Leben damit zugebracht, einen sicheren Fleck Erde zu suchen. Jeder kann auf einen Ahnen zählen, der einen solchen Ort fand und dort seinen Schlupfwinkel baute. Einen Schutzraum, wo man abwarten kann, bis die Zeiten sich bessern, der Wind sich legt, die Luft milder wird, der Sohn erwachsen ist und den Vater pflegen oder ihm die Augen schließen kann. Vielleicht auch einfach einen Zufluchtsort, wo man friedlich einschläft.

Domenica Orlando, die alle als Mimi kannten, lernte das früh.

Sie hieß Domenica, weil das eine mächtige Heilige war, gemartert durch wilde Tiere, zum Leben in Bordellen gezwungen, von scharfen Klingen zu Tode gefoltert. Sie wurde mit einem Schwert aus Metall und Licht dargestellt.

Die Orlando lebten nicht weit von Scorrano, einem Städtchen, das sich alljährlich Anfang Juli zwei Wochen lang einem Fest zu Ehren seiner Schutzpatronin hingab. Es war ein Rausch aus Lichtern, die größte und prächtigste Festbeleuchtung Europas: Unzählige Lichterketten an Giebeln, Pavillons, Fassaden und Spalieren ließen den kleinen Ort von Weitem wie eine Blase aus blendenden Lichtreflexen erscheinen.

Domenicas Eltern kamen abends mit der letzten littorina, einer kleinen Triebwagenbahn, im Ort an und hörten die ganze Nacht lang den Musikkapellen zu, die sich unter Baldachinen aus bunt lackiertem Holz abwechselten. Am Morgen bestiegen sie nach der Messe den Regionalzug Richtung Gagliano, der von Wohlgerüchen erfüllt war, von Süßigkeiten und gezuckerten Mandeln, und geschmückt mit Lavendelblüten und getrockneten Olivenzweigen, und ihre Augen waren vom Fest noch immer geblendet.

Im Sommer 1960 erlebten die jungen Eheleute Orlando, Antonio und Rosanna, eine besondere, denkwürdige Nacht. Sie warteten darauf, dass die Lichter angezündet wurden, dann spazierten sie die ganze Nacht lang durch den Ort, bis die Glocken den feierlichen Gottesdienst bei Sonnenaufgang einläuteten. In dieser Nacht sprachen sie lange miteinander unter dem Himmel von Scorrano, das künstliche Licht der Bögen und Spaliere zu Ehren der Heiligen erhellte die Umrisse aller Dinge. In einem Garten neben einer pajara* machten sie halt, um das Stadttor zu betrachten, die von den Giebeln gezeichneten rechtwinkligen Linien, die dunklen Gestalten der Menschen, die durch die Straßen zogen. Von der Sonne über den Feldern gebräunt und gesalbt von den Lichtern der Heiligen Domenica, schmiegten sie sich mit blitzenden Augen aneinander, Rosanna suchte Antonios Nähe, dann, als sie die Hand auf sein Gesicht legte und ihm mit den Fingerknöcheln über die Wange fuhr, um den dichten Bartwuchs zu spüren, küssten sie sich innig.

So kam Mimi an.

* Die pajara ist eine typische Bauform in Apulien. Pajare wurden von den Bauern aus Trockenmauern errichtet. Sie erinnern an die Trulli.

Manchmal bewegen die Umstände dazu, bestimmten Phasen unseres Lebens eine Überschrift zu geben. Mimi nannte ihre Jugend »die Zeit im Haus aus Glas«.

Durch eine dünne, mit Kondenswasser beschlagene Fensterscheibe, über die sie gerne mit den Fingerspitzen Striche zog, erblickte sie das Schicksal der kommenden Monate. Ein schwarzgekleideter Mann schritt über die Felder, seine Gummistiefel sanken im Boden ein. Von draußen drang ohrenbetäubend lautes Donnergrollen, das ein Sommergewitter ankündigte. Die Blitze kamen aus der Wolkenwand gegenüber dem Rio, wo die kleinen Äcker der Bauern lagen. Mimi hatte immer in einem von Olivenbäumen und Zichorie umgebenen Häuschen gelebt, aber noch nie hatte sie einen so fahlen Himmel gesehen, einen von Blitzen durchzogenen Himmel, spinnwebfeine Zeichen mit nervös zuckenden Enden, die roten Fäden von Arterien und Muskeln wie in einem Schulbuch der Naturwissenschaften. Als Hagelkörner träge auf das Dach zu schlagen begannen, trat der schwarzgekleidete Mann ins Haus, süßliche Duftschwaden hereintragend, den Geruch der Felder, der an den Kleidern hängenbleibt und sich bei Feuchtigkeit als Duft welker Kirschblüten zersetzt. Es war ihr Vater, der mit ernster Miene ankündigte: »Morgen ist der letzte Schultag, wir gehen in die Schweiz.«

Mimi hatte schon beschlossen, dass sie auch an diesem Morgen nicht zur Schule gehen würde. Sie hatte niemals hingehen wollen, und auch nur ein letztes Mal dorthin zurückzukehren, erschien ihr unerträglich und ungerecht. Bei Sonnenaufgang würden Vater und Mutter eine Weile auf den Feldern arbeiten, dann würden sie die Oliven zur Ölmühle auf der Piazza Santa Sofia bringen.

Zwei Kilometer von ihrem Haus entfernt lagen die Klippen der Serra, pajare, Feigenkakteen und Felszacken. Mimi hatte den ganzen einsamen Sommer zwischen den spitzen Steinen von Scalamacio und Funnuvoiere zugebracht, den beiden felsigen kleinen Buchten des Ortes. Dort hüpfte sie barfuß herum, und wenn man sie so sah, erschien sie wie ein flinkes Meerestier, eine streunende Katze, ein wilder Luchs. Wer sie an sonnigen Tagen suchte, wusste, dass er sie auf einem Felsvorsprung aus Granit finden würde, wo sie in der von Gischt erfüllten Luft hockte, die Arme um die Knie geschlungen, den Duft nach Jod in den Haaren.

An diesem Herbstmorgen, jahrhundertweit vom Sommer entfernt, grollte Mimi, aber nur für kurze Zeit, dann hatte sie verstanden und traf eine Entscheidung.

Sie ging zur Haustür, legte die Hand auf das Fensterglas, drückte die Tür vorsichtig auf und rief ihren Eltern einen Abschiedsgruß zu. Eine lange, eindrückliche Sekunde verstrich, dann stieß sie die Tür energisch zu, mit der ganzen Kraft, die sie in den Armen hatte. Der Türrahmen knarrte, man hörte das Knallen der zuschlagenden Tür, gleich darauf kehrte die vertraute morgendliche Stille ins Haus zurück.

Der Bus, der die Kinder in die Schulen von Tricase brachte, fuhr über den Schotter der Landstraße. Mit hustendem Motor hielt er an, jeden Tag stiegen hier drei Kinder ein. An diesem Morgen waren es nur zwei.

Mimi hatte die Eingangstür wirklich zugeschlagen und sich auch verabschiedet, aber sie war nicht nach draußen gegangen.

Sie hatte sich nur einen Augenblick lang von der kühlen Luft aus Wasser und Mistral stechen lassen, dann war sie wieder hinter die Tür geschlüpft, mit angehaltenem Atem und gespitzten Ohren, um jedes Geräusch zu erhaschen, das vom Gewohnten abwich.

Die Eltern aßen das Frühstück der Bauern, Brot und getrocknete Tomaten, es war acht Uhr, sie hatten schon drei Stunden gearbeitet und genossen diesen Moment der Ruhe. Sie glühten noch von der Plackerei, aber sie waren zufrieden. Aus dem Augenwinkel sah Mimi den Vater mit einem großen Laib Brot vor der Brust, es war wie ein Tier, ein zur Schlachtung bereites Opfertier. Der Mann schnitt das harte Brot mit einem alten Dolch mit abgebrochener Klinge, und die Anstrengung blähte seinen Hals.

Mimi ging in ihr Zimmer, fand den Bruder noch schlafend. Gebeugt unter ihrem Schulranzen knöpfte sie den langen Filzmantel auf, der sie daran hinderte, sich frei zu bewegen, kniete neben den Beinen des Bettes auf dem Boden, schob einige mit Stoffmustern gefüllte Schachteln beiseite und legte sich unter das Bett, wobei sie die Schachteln sorgfältig wieder an ihren Platz rückte, so dass sie versteckt, fast begraben war.

Und sie begann zu warten.

An die Wand gepresst, atmete sie leise, damit keiner sie hörte. Die Mutter kam ins Zimmer, um Biagino zu wecken. Durch einen Spalt zwischen den Schachteln sah Mimi nackte Fesseln in den Holzschuhen aufragen. Die Mutter blieb vielleicht eine Minute im Zimmer, aber Mimi erschien diese Minute wie eine Ewigkeit.

Biagino rollte wenig später vom Bett herunter. Seine Augen waren noch verklebt vom Schlaf, die zerzausten schwarzen Haare glichen einem umgedrehten Vogelnest, das Gesicht war rosig, eierschalenfarbig. Biagino wusste, dass Mimi unter dem Bett lag, und er stützte sich am Boden auf die Ellenbogen, um sie zu erspähen.

»Gehst du heute auch nicht in die Schule?«

»Still, Biagino«, hörte man Mimis Stimme schwach und erstickt hinter den Schachteln hervorkommen.

»Was gibst du mir, wenn ich dich nicht verrate?«

»Ich zahle dir eine Spielmarke für den Tischfußball.«

»Mit wem soll ich denn spielen?«

»Mit mir.«

»Ich spiele nicht mit Mädchen.«

»Ich zahle dir zwei Marken. Aber sei still, Biaggì.«

Sie blieb den ganzen Vormittag dort liegen, gedeckt vom erkauften Schweigen des kleinen Bruders, in ihr Versteck verkrochen, ein verletzter Vogel, der der kalten, nassen, unliebsamen Welt einen Unterschlupf abgetrotzt hat. Dort blieb sie oft, um nicht in die Schule oder zum Katechismus gehen zu müssen, um sich fernzuhalten von den Jungen, die an ihren langen schwarzen Haaren zogen, vom bösen Gerede der Schulkameradinnen, die ihre Einsamkeiten nicht verstanden, ihre sonderbaren, wirrköpfigen Launen – barfuß über die Klippen der Serra laufen, auf die höchste Stelle klettern und mit einem Purzelbaum von dem flachen Felsen, der »Sprungbrett« hieß, ins Meer springen – etwas für Jungen.

Mimi Orlando war das Mädchen, das seine Tage fern von allen anderen zubrachte, verächtlich und erhaben, obwohl sie die Tochter von Tagelöhnern war, das Mädchen, das lange Kleider, Kleider wie Tuniken trug, aus dem Musselin irgendeiner Aussteuer zusammengeschneidert, und das immer in Selbstgespräche versunken war.

»Das Mädchen hat ’ne Menge Phantasie, ist nichts normal an ihr und spricht immerfort mit sich selbst, entweder ist sie verrückt oder sie hat den Teufel im Leib.« Das sagte man über sie.

In ihrem kurzen Leben hatte Mimi sich nur ein einziges Mal ganz und gar verstanden gefühlt: Der Mann war kräftig, sein Gesicht rot, Hosen aus weißlichem Flanell, die purpurfarbene Jacke eines Tierbändigers, ein weißes Taschentuch und ein Strohhut. Er stand in der Sonne vor dem tiefen Loch auf der Piazza, wo die neue Kirche gebaut wurde, und spielte Akkordeon. Seine schmalen Hände waren rosige Spinnen, die Melodienfäden aus dem Instrument zogen, und die verdrehten Augen in faltigen Höhlen suchten bei den Leuten nach ihrer Bereitschaft zu einer Gabe. Als Mimi, sie war damals zehn Jahre alt, an dem Mann vorbeiging, spürte sie, dass ihre Fußsohlen sie drängten, einen Tanzschritt zu versuchen, und so begann sie, allein zu tanzen. Es war Sonntag, die alten Frauen gingen in ihre Mieder aus Samt geschnürt und wagten einen Blick auf den Musikanten, der ganze Ort blieb auf den Bürgersteigen, um den Fremden respektvoll und distanziert zu betrachten. Er war nicht aus Tricase, vielleicht war er nicht einmal Italiener, aber er kannte die musikalischen Romanzen, und ob er die kannte!

Als er zu spielen aufhörte und Mimi aufhörte zu tanzen, gab er ihr einen türkisfarbenen Ring: »Behalt ihn, denn er beschützt dich, in dir trägst du die Tragödie und die Herrlichkeit.« Mimi verstand keines der beiden Worte, sie waren nur zwei unartikulierte, genuschelte Laute – die Musik war so mitreißend und klar gewesen wie die Investitur verworren. Doch von diesem Tag an dachte Mimi, immer wenn sie sich fern von ihren Landsleuten, ihrer Familie und ihren Kameraden fühlte, an die magische Erwählung durch den fremden Musikanten.

Eine alte, seit vielen Jahren verlassene Glashütte war das erste Dach der Orlando in der Schweiz. Denen, die sie entworfen, die sie gebaut und die dort gearbeitet hatten, wäre niemals in den Sinn gekommen, was später aus ihr werden sollte: eine von Menschenleben pulsierende Lunge.

Seit über zwanzig Jahren diente sie als erste Unterkunft der italienischen Emigranten, die keinen Platz zum Schlafen hatten. Sie lag am Ende einer Schotterstraße auf dem Ausläufer eines kleinen Berges wie ein Quader aus abgestoßenen, von großen Rissen durchzogenen Blöcken. Der Boden war mit Glasscherben übersät, noch immer lagen sie bis in die hintersten Winkel der alten Fabrik verstreut. In der einzigen großen Halle ragten Trennwände aus Sperrholz und Wellblech auf, die hohe Decke aus Zinn und Asbest widerstand dem winterlichen Schnee und den langen, unablässigen Regenfällen, die die Nächte begleiteten. Sie widerstand dem Hagel, dem Wind, sie widerstand fast allem, nur der Kälte ergab sie sich augenblicklich. Die Kälte drang ein und setzte sich heimtückisch an den Gegenständen fest. Die Kälte der Dinge war am schwersten zu ertragen. Die Kälte der Betten, der Decken, der Stühle, die Kälte des ersten Schlucks Milch, der hart und bröcklig wie Geröll aus den Bergen die Kehle hinunterrann.

Doch es waren dies die Jahre des Glases, weil das Privatleben der Menschen, die um Mimis Dasein kreisten, zu Glas wurde, weil alles, was sie umgab, aus Glas war. Durchsichtig und ungeschützt, ohne einen Zufluchtsort.

Für Mimi hatte alles den vagen Geschmack eines Abenteuers, das sich um sie herum ereignete. Während der Fahrt in der littorina hatte sie, umringt von vielen Verwandten, einen Rosenkranz in der Hand gehalten. Aber sie hatte eher nachgedacht als gebetet.

In Bari sah sie sich von den Koffern einer unbekannten Familie bedrängt. Diese Leute, die den Gang in Besitz nahmen, brachten sie mehr als alles andere zum Staunen: Sie ähnelten ihr, wie Schildkröten trugen sie ihr Leben mit sich herum, in riesigen Schachteln und Koffern mit prallen Bäuchen.

Sie waren zu sechst, zwei erwachsene Männer, Brüder vielleicht, eine Frau und drei Kinder. Sie waren mager, fast unterernährt, misstrauisch beäugten sie die Orlando, und dieselbe Empfindung wurde von diesen erwidert. Vor ein paar Jahren hatte die Cholera in Bari gewütet, und Mama Rosanna ermahnte Mimi, sich von den Fremden unbedingt fernzuhalten.

Die Reise war ihr wie ein Fest erschienen, ein Weihnachten entlang einer mit Eisen beschlagenen Strecke: Alle waren da, Mutter Rosanna, Vater Antonio, ihr Bruder Biagino, die Tante, die Cousins. Die Körbe wurden aufgemacht, und sie aßen das weiche, feine Brot, über das die kleinen gelben sonnengetrockneten Tomaten gerieben wurden. Biagino, zehn Jahre aus Trotzanfällen und wütendem Geschrei, rannte durch die Gänge des Zuges und versetzte die nach Kerosin stinkenden Abteile in Aufruhr.

Im Bahnhof von Zürich angekommen, dachte Mimi, dass sie noch nie zuvor in einem so großen Gebäude gewesen war, und noch viele Jahre später sollte sie sich daran erinnern, dass sie sich damals gefragt hatte: »Was machen wir jetzt?«, worauf ihr einer geantwortet hatte: »Dafür gibt’s Governo, der hilft.« Es war wie ein Wunder, als hätte man ihre Gedanken gelesen.

Die Luft roch nach Eisen und Rauch, ein Strom Männer und Frauen schob Wagen voller Gepäck, und er schien die Mauer aus Menschen, die an den Gleisen wartete, zum Einsturz bringen zu müssen. Und wieder meinte Mimi, ein Wunder zu erleben, als der durch die schmalen Bahnsteige zusammengedrängte und zu langsamen Schritten gezwungene Strom der Reisenden sich in der Menschenmauer verlor, von der auch die Orlando verschluckt wurden wie von Nebel.

Onkel Peppe erwartete sie. Der Onkel war seit dem Vormonat da und hatte einen Platz zum Wohnen gefunden, wo man sehr wenig zahlte: »Ein Palast ist es nicht, aber man kann anständig leben.«

»Aus Lecce seid ihr?« Spöttisch, in entstelltem Dialekt ausgesprochen, war dies der erste italienische Satz, den die Orlando zu ihrer Begrüßung hörten, als sie im Haus aus Glas ankamen.

»Ihr habt Glück, ihr werdet nur wenige Nächte in diesem Haus bleiben, ich habe ein ganzes Jahr hier gelebt und war fast immer allein«, sagte ein Mann mit einem Gesicht voller Falten, einem einzigen Zahn, der ihm vorne im Mund baumelte, und einem Besatz fettiger grauer Haare.

Governo – er war Lukaner – regelte die Neuankünfte und zweigte einen Teil der Mietzahlungen für sich ab.

Er beschrieb den mit weit aufgerissenen Augen lauschenden Orlando ihr erstes Heim jenseits der rosaroten Alpen, die sie hinter sich gelassen hatten. Es war Ende Oktober, aber schon jetzt herrschte eine Kälte wie im tiefsten Winter, die Schals aus rauer Wolle genügten nicht, und auch die Hoffnung, weniger arm zu werden, war zerbrechlich geworden wie Glas.

Woran erinnerte sich Mimi, wenn sie an jenen ersten Morgen weit weg vom Meer dachte?

Ihre Füße rutschten in den Überschuhen aus Plastik, die Gummisohlen knirschten auf dem unebenen Boden der alten Fabrik; das Knirschen unter ihren Füßen war der erste Eindruck von diesem Haus. Die Feldbetten, hintereinander aufgestellt, bildeten mit ihren geraden Linien ein exaktes Quadrat, Trennwände markierten die kleinen Zellen und schufen viele kleine Zimmer, in denen viele andere Domenicas und Orlandos ihr neues Leben beginnen würden.

Die Ecke, wo die Familie Orlando unterkam, war für Leute aus Lecce bestimmt. Davon gab es gut zwanzig, mindestens drei andere Familien, und sie kamen alle aus dem Capu, dem Salento, aus Orten wie Corsano, Acquarica, Salve oder Presicce.

Die große Halle des Hauses aus Glas war nach einer strikten geographischen Ordnung unterteilt: Sizilianer, Kampanier, Sarden, Lukaner und Apulier. Ein verzerrtes Abbild des italienischen Stiefels.

Die Kalabresen gehörten nicht mehr dazu, eines Nachts hatten sie Stühle verbrannt, um sich zu wärmen, und den ganzen Raum mit Flammen und Rauch erfüllt. Viele bekamen eine Rauchvergiftung, die Frauen löschten den kleinen Brand, indem sie mit Decken auf die Flammen schlugen und Schüsseln mit Regenwasser auf dem Boden ausgossen. Die Spitze des Stiefels sollte geräumt werden. Governo hatte entschieden, dass all ihre Landsleute für die Schuld der drei verantwortungslosen Kalabresen zahlen mussten. Vielleicht hieß er darum Governo, »Regierung«, vielleicht aber auch, weil er der erste Italiener gewesen war, der mit dem gearbeitet hatte, was sie dort »Ternitti« nannten.

Ternitti war eine entstellte Form des Wortes Eternit, Ternitti wurden auch die Fabriken genannt, wo man mit Asbestzement zu tun hatte; schließlich war Ternitti im Salento das Synonym für Dach, Ziegel, Zement und den Großteil des Materials, das auf Baustellen benutzt wurde, auch wenn es kein Asbest war.

Pionier zu sein hatte seine negativen Seiten und seine Privilegien. Governo galt als einer, der im Krieg gewesen war, einer, dem der Geruch von Schießpulver am eigenen Leib haften geblieben war. Aber das waren nur die Reste des Krokydoliths, des Blauasbests, den er seit zehn Jahren Tag für Tag mit der Harke in große Säcke einsammelte. Das Privileg bestand darin, jeden Zentimeter, jeden einzelnen Menschen und alle Regeln dieses Stücks Italien außerhalb von Italien zu kennen.

»Man lebt ein bisschen beengt hier, aber bald werden die von der Ternitti euch ein Haus geben.«

»Ein großes Haus?«, fragte der kleine Salvatore, der Sohn von Onkel Peppe.

»Ein Haus aus Holz in der Nähe der Fabrik, klein, aber warm.«

Mimi ignorierte den scharfen Ton, mit dem Governo das Adjektiv »warm« hervorhob.

Das Haus aus Glas wurde im kommenden Winter Mimis Zuhause, und die Kälte begleitete sie wie eine Strafe. Sie drang ihr in die Knochen, brannte auf ihren Handrücken, die Zehen platzten auf wie reife Früchte. Auf der Nase wuchsen Frostbeulen, kleine gelbliche Blasen voller Blut, die ihr das Atmen schwermachten. Mama Rosanna arbeitete als Schneiderin im Akkord, wie viele andere Frauen in der Glasfabrik. Mimi half ihr, die Säume umzunähen und die Rückkehr der Männer von der Ternitti angenehmer zu gestalten. Jahre später sollte Mimi die Zeit des Glases wie die Frühgeschichte vorkommen, als die Männer draußen auf Jagd gingen, eine urzeitliche, primitive Jagd jedoch, von der man jeden Tag mit mehr Verletzungen zurückkehrte, Wunden vom Krallenhieb wilder Tiere, Kratzern, die keiner sehen konnte: Sie stammten von der Ternitti, Furchen im Fleisch, die die Membran der Eingeweide offenbarten.

Bevor sie emigrierten, hatte Mimi einen langen, unvergesslichen Sommer erlebt. Wie Blitze aus einem unerreichbaren Jenseits kehrten in den eiskalten Nächten und an den langen Nachmittagen, die nie zu Ende gingen, der Abdruck von den warmen, spitzen Felsen auf der Serra und in Tricase Porto wieder, und ihr Duft, ein kostbarer Balsam des nachmittäglichen Meeres.

In der Ternitti arbeitete, wer in der Glashütte hauste, darunter auch zwei neunzehnjährige Burschen, die ein Jahr Wehrdienst hinter sich hatten; einer der beiden hatte sich in Mimis Herz einen Platz verschafft. Sie sah ihn jeden Tag in der Menge der gebeugten Köpfe, die am Eingang des Lagers ankamen. Er war der Dunkelste, eine Haut wie ein Inder, er kam auf sie zu, eine schwarze Maulbeere inmitten der roten, und sein Blick verlor sich in der Weite des großen Raumes, aber sie war noch klein, wohlgestaltet, doch zu klein und fern, um für einen jungen Mann sichtbar zu sein, von den Frostbeulen entstellt und unter Lumpen begraben, damit die laue Körperwärme nicht verflog. »Sieh mich an«, flehte sie, aber sein Blick ging über sie hinweg.

Nachts teilte Mimi das Bett mit Mama Rosanna, und oft waren die Augenblicke kurz vorm Einschlafen die schönsten des Tages, wenn der starke, lauwarme Atem der Mutter, der ihr glühendheiß erschien, über ihr Gesicht strich wie ein Hauch Schirokko. Oft spürte Mimi mitten in der Nacht, wenn sich durch die Zuckungen des Schlafs die Kleider lockerten, die warme, nackte Haut der Beine der Mutter an ihren bloßen Füßen. Dieser Abschnitt lebendigen Fleisches, Teil eines vertrauten Körpers, den sie nie beachtet hatte, stieg in den Winternächten wie eine Eroberung am Horizont der Alltäglichkeit auf. Dieses Stück Haut weckte in ihr ein Zugehörigkeitsgefühl ohne eindeutigen Ursprung, das in den geheimsten Winkeln ihres Inneren verborgen blieb. Die Tochter dieses Streifens warmen Fleisches zu sein, gab ihr Sicherheit und ein Gefühl der Befriedigung.

Mama Rosanna bewahrte noch den alten Zauber der Zwanzigjährigen, einen Zauber, der Gestalt annahm in ihren Bewegungen und im Mienenspiel ihres länglichen, rechteckigen Gesichts, ein Gesicht wie das der Heiligen, die die Wände von Santa Sofia schmückten: Heilige mit großen Gesichtern und einem kleinen Körper, aber schön, strahlend, mit klar gezeichneten Zügen wie eine feine Temperamalerei auf Wänden aus Kalk und rohem Stein.

Abends kam pünktlich und reichlich das Bier. In den Ausschänken rund um die Ternitti war es leicht zu bekommen, es kostete wenig, und die Männer der Fabrik tranken es, weil es »Kraft zurückbringt«. Das Bier landete in einem kupfernen Topf, dort tunkte man das Brot ein und aß zu Abend; während es für die Kinder Wasser und Salz gab: hartes Brot, im Brunnenwasser aufgeweicht, und Meersalz.

Wenn es dunkel wurde, versammelten die Orlando sich um den Tisch und verharrten dort schweigend mit wachsamen Blicken; die Stimmen der anderen Ecken Italiens fielen vom Himmel, in dem großen, offenen Raum, wo es von Menschen wimmelte, erlaubten die Wände aus Blech und Sperrholz nur schamhafte Zurückhaltung, sonst nichts. Durch die Stille drangen Sätze in unbekannten Dialekten, manchmal ein verständliches Wort oder Bemerkungen von den Leuten aus Lecce, ihren Nachbarn. Die Familie Orlando wechselte Blicke des Einverständnisses, des Zusammenhalts und der Zustimmung. So waren ihre Abende, eine Bemerkung mit leiser Stimme, ein Flüstern, und dann auffangen, was in den anderen »Wohnungen« erzählt wurde: ein Drangsalieren am Förderband der Fabrik, ein Missverständnis im Lebensmittelgeschäft, eine Drogerie, die geschlossen hatte, neue Italiener, die ankamen, eine Gruppe italienischer Jungen, die man aus einer Schänke geworfen hatte, weil sie mit lauter Stimme gesprochen hatten. Wegen dieser Neigung zum Schweigen, und weil sie Fremden wenig Vertrauen entgegenbrachten, wurden die Orlando die »scurnusi« genannt, die Schamhaften.

Manchmal tauchte von wer weiß woher eine Korbflasche Wein auf. Ein Glaskolben ohne Korb, in dem ein roter Trester aufbewahrt wurde, der die Innenwände schwärzte, als wäre Tinte daran geschwappt. Wenn er den Wein getrunken hatte, der so dickflüssig war wie die Weine der Römer, stand Antonio Orlando auf und nahm Rosanna beiseite, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Alles verstummte, die Augen der Kinder richteten sich auf die Eltern, während deren Blicke umherschweiften, um unsichtbaren Bewegungen von Nachtfaltern zu folgen, den Flattergeistern der Diskretion.

Im schwachen Licht der brummenden Glühbirnen drückte Mimis Vater mit geröteten Wangen Rosanna an seine Brust und küsste sie, später in der Nacht hatte Mimi nicht den warmen Körper der Mama im Bett, sondern den nervösen, zappeligen von Biagino.

Alle schliefen, Mimi nicht, sie lauschte dem keuchenden Atem des Vaters, und in einem unbekannten Winkel ihrer Seele spürte sie ein unerklärliches Missbehagen.

Governos Prophezeiungen hatten sich nicht erfüllt, aus den wenigen Tagen Behelfsunterkunft waren Monate geworden. Eingemummelt in Hosen aus Barchent und einen langen Wollpullover, die Hände hinter dem leicht angelehnten Rücken, nur um eine Pose einzunehmen, beobachtete Mimi die von der Fabrik zurückkehrenden Jungen und wartete darauf, dass sie von ihrer ersten unerwiderten Liebe erblickt wurde. In diesem Aufmarsch der Männer, deren Gesichter rot und deren Augen immer feucht waren, als hätten sie geweint, war eines Tages auch Governo. Wenn er erschien, standen unvermeidlich Veränderungen bevor: Neue Familien kamen an, oder jemand musste gehen. Wohin, wusste man nicht.

Viele Monate waren vergangen, und die Orlando hatten es aufgegeben, weiter auf das schimärische Haus aus Holz zu warten, von dem Governo gesprochen hatte.

Mimis Augen begegneten dem verschlagenen Blick des Mannes. Sie wollte etwas sagen, doch sie senkte den Kopf.

»Heb die Augen, Mimi, wirst mal ’n schönes Mädchen, wenn du groß bist …«

Mimi wurde flammendrot und richtete sich auf, als müsste sie strammstehen, doch sie wich diesem zornigen und schamlosen Blick aus.

»Was ist mit dir, schämst dich wegen dem Kompliment, Mimi? Fang an, dich dran zu gewöhnen, du wirst noch viele kriegen.«

Governo kam immer näher, während alle anderen schon in die Glasfabrik hineingegangen waren, um sich in ihre kleinen Verschläge zurückzuziehen; der Hintergrund füllte sich mit Stimmengewirr, Governo kam auf sie zu wie ein Raubtier, er war nur noch einen Meter entfernt, und Mimi wusste nicht, ob dieses Gehen nur eine harmlose Geste männlicher Arroganz war oder eine Bedrohung darin lag.

Governo war wenige Zentimeter von Mimis Gesicht entfernt, der Kopf des Mannes erschien ihr gewaltig, unermesslich groß, ein bitterer Geruch stieg aus seinen Kleidern, Jahre später sollte sie erfahren, dass es der Geruch des Blauasbests war, den Governo sich seit einem Jahrzehnt mit nach Hause nahm. Mimi spürte keine Kraft mehr in den Beinen, als wären sie am Boden festgeschraubt, sie wollte fliehen, doch der Körper gehorchte ihren Wünschen nicht. Governo hob zwei Finger und legte sie unter ihr Kinn, Mimi empfand Abscheu, als sie die schwieligen kalten Finger spürte, sie schloss die Augen und hörte die leise gesprochenen Worte Governos in der Luft: »Und ganz schön stark bist du auch, alle laufen weg, wenn ich näherkomme … so hässlich bin ich doch gar nicht … wirst auch eine mutige Frau sein, wenn du erwachsen bist.«

Ein Mann allein war auf dem Steg, darunter brodelte der Zement und ließ graue Wolken aufsteigen. Der Mann ging mit großen Schritten durch den Vorhang aus Kondenswasser und Asbest auf die Güsse zu. Einmal im Jahr flog jemand vom Steg und endete im Blauasbest. Es war ein kurzer Weg, aber gefährlich wie kaum etwas anderes. Der Mann, der dort oben lief, zeichnete jeden Tag mit der Schaufel wirbelnde Kreise in die Luft, und er riskierte viel, aber er wusste, dass das Risiko ihn vor der größten Gefahr schützen würde: der Gewöhnung. Für einen Mann, der immer auf schmalem Grat geht, gibt es keinen ärgeren Feind als die Gewöhnung.

In der Abteilung wurden Rohre und wellenförmige Platten aus Asbestzement hergestellt. Die Decke der Fabrikhalle war hoch, damit der Rauch sich verziehen oder wenigstens den Anschein geben konnte, er verzöge sich. Dutzende Wannen umringten den Querbau, wo die Arbeiter einer hinter dem anderen standen und einen Reigen aus gleichförmigen Bewegungen bildeten. Harken, wässern, sieben, trennen und das Material zu Haufen zusammenschieben, die geformt werden konnten.

In jeder Abteilung gab es eine andere Sorte Asbest, jeder Arbeiter der Fabrik sah sich seinem eigenen Freund-Feind gegenüber, und sie hatten so komplizierte Namen wie Chrysotil, Amosit oder Krokydolith. Letzterer, auch als Blauasbest bekannt, war der gefährlichste. Er wurde bei Mischungen verwendet. Ihn hatten alle in dieser Halle wenigstens einen Augenblick lang eingeatmet und sich vom Arbeitskittel geklopft.

Der Mann, der auf dem Rand der Wannen ging und sich um die Mischung kümmerte, hieß Ippazio. Er ließ Zement und Asbest in die Wasserwannen rinnen, dort wurde das Material bei höllischen Hitzegraden unter der Aufsicht eines höchsten Regelsystems gemischt, eines Regelsystems mit einem überzeugenden Namen: Ippazio, der Name eines Gottes.

Ippazio war der Schutzpatron von Tiggiano, einem kleinen Ort aus goldbraunen Gehöften, ein Heiliger, dem der Schutz vor Leistenbruch und die Fruchtbarkeit der männlichen Hoden oblag, darum brachten ihm die Frauen der umliegenden Ortschaften die Unterhosen ihrer Männer als Weihegabe.

Dort oben – doch es konnte auch die Unterwelt sein, wegen der Hitze, des Qualms, des Gestanks aus den Eingeweiden der Erde – schien Ippazio eine Art Teig für eine große Focaccia anzurühren. Die Farbe des Teigs aber war hässlich und sein Geruch unerträglich, stechend, er blähte die Nasenlöcher und drang wie unsichtbare Nadeln unter die Haut, fuhr durch die Glieder bis in den Brustkorb, schließlich in die Lunge. Jeweils eine Nadel. Eine nach der anderen, und wie alles Böse sorgsam darauf bedacht, langsam, unkenntlich und unabwendbar zu sein.

Am Ende des Tages glich die Nase einem Mangoldblatt, die Blutgefäße platzten. Draußen in der Kälte verstopfte sie im Wind, und Ippazio, der Gott der Unterwelt, bedeckte seine Nase mindestens eine Stunde lang mit beiden Händen, als wäre sie gebrochen. Er schnaubte die Luft, die er in der Brust hatte, in ein Baumwolltaschentuch, um den Stoff zu wärmen und seine Nase darin einzuhüllen.

Dort oben strich Ippazio die Mischung, die so dickflüssig war wie eine Paste, jeden Tag auf Leinentücher, um das Wasser herauszufiltern, dann wurde die Masse in Formen gegossen, in denen sie zu Röhren und Platten modelliert wurde. Wenn er den Zement in die Gussformen gegeben hatte, fing Ippazio meistens an zu husten, ein Husten, der ihm in den ersten Monaten nur trocken aus der Kehle kam, mit der Zeit aber heiser wurde, seine Bronchien waren ständig voller Schleim.

»Lat-te, lat-te, trinken latte«, schrie eine Stimme mit teutonischer Färbung, die sich bemühte, den Klang des Italienischen wiederzugeben, um dann wieder Befehle auf Deutsch zu erteilen. Ippazios Vorarbeiter war Österreicher, ein Mann aus den Bergen, der vor ein paar Jahren begonnen hatte, in der deutschen Schweiz zu arbeiten, und in eine Fabrik geraten war, wo er eine Gruppe Italiener anführen musste, die seine Sprache nicht verstanden. Vielleicht war Signor Thaur, wie er genannt werden wollte, nein, vielmehr Herr Thaur, sogar der Verstörteste an diesem Ort, gefangen im Netz dieser dunklen Spinnen, der Süditaliener, von denen er nur unverständliche Worte in einem verzerrten Deutsch hörte.

Herr Thaur, der Mann ohne Vornamen und mit unklarem Nachnamen, beaufsichtigte den Mischvorgang, indem er einen kleinen Spaten schwang, der die Mischschaufel genannt wurde.

Sie diente zur Feinbearbeitung der Formen, die Ippazio und die anderen Arbeiter an der Mischung herstellten. Herr Thaur schritt mit seiner tropfenden Schaufel über das hängende Schutzdach und erschien in den metallischen Lichtern wie ein Riese, ein monströser Golem mit menschlichen Zügen, schwer bewaffnet wie ein kriegerisches Gespenst und zunehmend überzeugt, dass die tieferen, unerforschlichen Gründe für seine Rolle inmitten dieser Italiener auf eine Bestrafung hinausliefen.

Monatelang bewegte Ippazio sich jeden Tag zehn Stunden lang ohne Unterbrechung auf kleinstem Raum, umgeben von den Dämpfen des Blauasbests, der in den Wannen abkühlte: Kondensat, Mischung, Sieben und Formen. Manchmal vergaß er, dass die Zementgebilde, die sich in Wellen auf den Boden der Gussformen senkten, Asbest waren. Dann ließ Ippazio, der erst seit kurzem volljährig war, sich von der Phantasie weit fort von Zürich an einen lehmigen Strand bringen, wo er die graue, übelriechende Masse modellieren konnte.

Formen, es waren nur Formen, aber wenn Herr Thaur außer Sichtweite war, zeichnete Ippazio einen Mund, zwei Schlitze für die Augen und ein Loch als Nase, lachte vor sich hin und löschte mit der Mischschaufel alles wieder aus, ein befreiendes Scheitern im Herzen.

Nach einem Jahr Arbeit war sein Körper verändert: Das Wachstum war stehengeblieben, die Muskeln hatten sich verhärtet, die Widerstandskraft hatte abgenommen. In den ersten Monaten hatte er dreißig, vierzig Mal am Tag sieben können, nach einiger Zeit schaffte er mit Mühe ein Dutzend Mal. Seine Brust schmerzte, und abends konnte er nicht mehr sprechen.

Antonio Orlando war den Säcken zugeteilt worden, ein paar Monate lang hatte er Jutesäcke mit Krokydolith gefüllt, dann war er zu den Wasserschneidern übergewechselt: Dort spaltete er die Blöcke aus Asbestzement mit präzisen Schnitten. Ein Arbeitsvorgang, bei dem sehr viel Staub aufwirbelte; trotz der Absauganlagen husteten die über hundert Männer in dieser Abteilung am Abend mit heiserer Kehle, als plagte sie eine Bronchitis. Nur einer hatte aufgehört zu husten, das war Governo, der Einzige, der wusste, wann der richtige Zeitpunkt gekommen war, sich zu verdrücken. »Nur die Dummen sterben früh!«, sagte er von Zeit zu Zeit, er sagte es zu sich selbst, aber mit lauter Stimme, wie ein Verrückter, einer, der gehört werden will und gleichzeitig gefürchtet.

Einmal in der Woche brachte Antonio Orlando den kleinen Biagio zu einem Tischfußballspiel, das nicht weit von der Fabrik in einer Kneipe voller Absperrgitter stand. Das geschah einige Monate lang, jeden Samstag gab es immer wieder dasselbe Bild: Biagio wartete, in den Wollmantel geknöpft, an der Schwelle des Hauses aus Glas, Hand in Hand mit Mimi. Diese Stunde, in der er und sein Vater einander an der Platte aus Kunststoff und Holz herausforderten, war der einzige Moment in der Woche, in dem Biagio glücklich war. Er fühlte sich nicht allein und empfand angesichts der Plastiksilhouetten, die den weißen Ball schossen, ein tröstliches Gefühl, dem er noch keinen Namen zu geben vermochte.

Eines Samstags schaffte Antonio Orlando es nicht. Das metallische Dröhnen des Riegels, das die Arbeiter beim Verlassen der Fabrik begleitete, hallte durch die Räume. Im Halbdunkel der Flure versammelten sich hier und da die verschwommenen Umrisse des Reinigungspersonals und beugten sich vor, die Augen mit der Hand abgeschirmt, um etwas zu erkennen, was sich in der Ferne bewegte. Es war der letzte Arbeiter. Antonio hatte sich wirklich verspätet. Er streifte seinen Arbeitsanzug ab, die Hose und die Jacke, als wären es Fetzen seines eigenen Körpers. Er spürte, dass alles, was von ihm blieb, sich auflöste.

Als er nach Hause kam, stand ein stiller kleiner Junge an der Hand einer Kindfrau auf der Bühne seines Blickfelds und wartete. Aber Antonio konnte nicht. »Ich bin sehr müde, heute Abend gehen wir früher zu Bett.«

»Papa, ich bring Biagino hin«, sagte Mimi mit ernstem Gesicht.

»Still. Nichts tust du.«

»Doch, Papa, ich tu es, wer soll denn auf Biagino aufpassen. Siehst du nicht, dass dieser Junge immer brav ist, bockt niemals, ist aber immer allein. Lassen wir ihn ausgehen, damit er ein bisschen Spaß hat.«

Das Kind stand auf Zehenspitzen, umklammerte die Eisenstangen mit seinen vor Anstrengung weißen kleinen Händen, und die Hälfte seines Gesichts verschwand in der Dunkelheit. Die Augen glänzten, wie Spiegel. Auf der anderen Seite des Spieltischs stand Mimi leicht vorgebeugt, ihre Augen blitzten hinter den fast weißen Wimpern, sie richtete sich auf, schob sich mit der Hand, in der sie den Ball hielt, eine schwarze Strähne aus dem Gesicht, klopfte mit dem Ball auf die Ecke des Spieltischs und warf ihn hinein.

Der Ball sauste von einer Seite zur anderen. Er klackerte viele Male, und ebensolche klackernden Geräusche erzeugten die Stangen, die Mimi und Biagino zogen und drehten.

»Nicht kurbeln, das gilt nicht!«, schimpfte Mimi ein paar Mal; ihr Bruder war unaufmerksam, schaffte es nicht, ein Tor zu schießen. Sie hatte die eigenartige Kugel voll grauer klebriger Flecken schon dreimal hintereinander an dem von Biagino manövrierten Torwart vorbei ins Tor schießen können.

Als es 5:0 stand, beugte sich Mimi zu dem schwarzen Loch hinunter, wo die weißen Kugeln lagen, die aussahen wie Wachteleier, nahm wahllos eine heraus, und nachdem sie die Kugel auf die Tischkante geschlagen hatte, damit der Dotter herauskam, warf sie sie mitten aufs Spielfeld. Das Bällchen prallte einmal vor den Mittelfeldspielern ihres Bruders auf, der ohne eine Sekunde zu zögern einen scharfen Schuss gegen Mimis Torwart ausführte. Tor. Biagio streckte die Zunge heraus, auf der Spitze saß der Rest eines leuchtendroten winzigen Bonbons, eine Stechpalmenbeere.

Das Match endete unentschieden.

Als Ippazio seinen ersten Lohn bekam, konnte er nicht fassen, dass er auf einmal so viel Geld in der Hand hatte. In Tricase hätte er mit diesem Geld monatelang als reicher Mann leben können. In Zürich aber reichte es gerade, um in einem Haus aus Holz zu wohnen, einem Haus aus Holz, das noch immer aus Glas war.