image

image

Für Wayne

»Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen,
als man umgeworfen wird.«

Winston Churchill

»Nimm ein Fahrrad. Du wirst es nicht bereuen,
falls du es überlebst.«

Mark Twain

Inhalt

Aufwärmrunde

Startaufstellung

  1. Etappe – Anfangskilometer

  2. Etappe – Mallorca

  3. Etappe – Autofahrer

  4. Etappe – Trainingsgruppe

  5. Etappe – Mountainbiking

  6. Etappe – Hunde

  7. Etappe – Polizeimotorrad

  8. Etappe – Zeitfahren

  9. Etappe – Über alle Berge

10. Etappe – Tuning

11. Etappe – Ein Tag im Leben

12. Etappe – Norwegen

13. Etappe – Osenberg

14. Etappe – Eine RTF ist kein Rennen

15. Etappe – Roubaix

16. Etappe – Hungerast

17. Etappe – Expedition

18. Etappe – Jedermänner

19. Etappe – Siegprämie

20. Etappe – Bergpreis

21. Etappe – Rasender Reporter

22. Etappe – Langdistanz

23. Etappe – Eine Reise nach Paris

24. Etappe – Zuschauer

25. Etappe – Eiskalt erwischt

26. Etappe – Die Triathletin

27. Etappe – C-Rennen

28. Etappe – Sparringspartner

29. Etappe – Santiago de Compostela

30. Etappe – Ötztaler

31. Etappe – Doping

32. Etappe – Radkeller

33. Etappe – Velodrom

34. Etappe – Vollprofi

Schlussetappe

Finale

Ausrollen

Siegerehrung

Erste Stimmen zu diesem Buch

 

 

 

 

 

Obwohl es sich bei sämtlichen Geschichten um wahre Begebenheiten handelt, sind alle Namen frei erfunden. Sollte dennoch jemand meinen, sich wiederzuerkennen, liegt es bestimmt daran, dass alle Radfahrer irgendwie gleich sind. Manche Erlebnisse wurden aus dramaturgischen Gründen in einer Geschichte zusammengefasst.

Die Chronologie könnte eventuell nicht ganz stimmen, denn der uns mit seinen Erinnerungen durch das Buch führende Erzähler liegt währenddessen im Krankenhaus und steht dabei vermutlich unter dem Einfluss intravenös zugeführter Dopingmittel.

image

 

Aufwärmrunde

Es ist kurz nach Mitternacht. Weit entfernt krachen die letzten Donnerschläge eines abziehenden Gewitters. Vereinzelt fallen noch einige Regentropfen. Ansonsten hört man nichts in dem belgischen Ardennendörfchen Bastogne. Außer ein paar metallisch kratzenden Schritten vor der örtlichen Filiale der ING Banque de Belgique.

Im Halbdunkel des schwachen Lichts der Straßenlaternen nähert sich beinahe geräuschlos ein Mann. Kurz darauf macht er sich an der Eingangstür zu schaffen und wirft immer wieder unruhige Blicke hinter sich und zum Himmel. Er zieht einen kleinen Gegenstand in der Größe einer Scheckkarte seitlich des Türgriffs auf und ab. Ganz eindeutig: Er manipuliert an der Sicherheitstür und will sich offenbar mitten in der Nacht Zugang verschaffen.

Da geht urplötzlich die Beleuchtung im Vorraum an, und gleichzeitig öffnet sich die automatische Tür. Ein warmer Luftstrom aus dem Innenraum der Bank ist in der feuchtkalten Nacht zu spüren. Der eigenwillig maskierte Mann nimmt einen kleinen Rucksack ab und dreht sich nun nach einem etwas größeren Gerät um, das er in die Bank schieben will.

In diesem Moment schließt sich die schwere Tür der Bank wieder mit einem satten »Klack«. Der Mann reißt verwundert die Augen auf. Damit hat er offenbar nicht gerechnet. Sein Plan scheint nicht ganz aufzugehen. Er versucht, zunehmend nervöser, nochmals mit der Karte die Tür zu öffnen, doch das raffinierte Sicherheitssystem verwehrt ihm einen erneuten Zugang innerhalb eines gewissen Zeitfensters. Jetzt muss schnell ein Entschluss gefasst werden.

Mit einer warmen Übernachtung wird es hier nichts. Dem Mann bleibt nichts anderes übrig, als wieder auf sein Rennrad zu steigen, die Regenpause für beendet zu erklären und seine Reise durch die Nacht fortzusetzen.

Ohne zu pennen durch die Ardennen. So fährt er also weiter auf seiner Tour nonstop nach Paris.

image

 

Startaufstellung

Mein Vater ist 80 Jahre alt und spielt immer noch zweimal die Woche Tennis. Das macht er schon seit seiner Jugend. Tennis scheint also ein sehr gesunder Sport zu sein. Mein Ding ist es aber nicht, nie gewesen, trotz einiger Erfolge als Heranwachsender.

Ich bin jetzt Mitte vierzig und liege im Krankenhaus. Nicht zum ersten Mal nach einem Fahrradsturz. Man vergisst oder verdrängt seine Unfälle ja gerne. Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, fallen sie mir alle wieder ein. Selbst mein erster Sturz als fünfjähriger Fahranfänger beim Umkurven des ersten Hindernisses meines Lebens ist mir noch präsent. Oder einer, den ich im Teenageralter hatte, als mir bei einem Rad mit Rücktrittbremse im Bergabfahren die Kette abflog, ich aber im wilden Rodeo den Absprung im Seitengraben »stehen« konnte.

Es gab sogar einen spektakulären Sturz bei einem Kinderrennen, der mir gerade wieder einfällt. Die Ziellinie war irrsinnigerweise eine Bordsteinkante. Ich hatte gewonnen, fand mich aber nach meinem Flug über einen Zaun im weichen Gebüsch wieder. Nach diesem Sieg hätte ich eigentlich das Signal des Schutzengels erkennen und meine Radfahrerkarriere sofort beenden müssen. Komisch, und ich hatte mir bis eben noch eingeredet, mein einziger Unfall sei meine Schultereckgelenksprengung vor ein paar Jahren gewesen. Als ich meinen Mountainbikefreunden im »Bombenkrater« zeigen wollte, wie man die Schanze richtig springt. Da lag ich dann mit »Tossy III«, musste die Bänder operieren lassen und konnte wochenlang nicht aufs Rad.

Aber auch bevor ich meine Leidenschaft zum Radsport entdeckte, gab es dramatischere Unfälle. Dazu gehört die Kollision mit einem Auto, das mich beim Spurwechsel übersehen hatte und mich mit der Kraft einer umstürzenden Hauswand einfach zu Boden warf. Ebenso ein Unfall, bei dem ich in eine Straßenbahnschiene geriet und nach einem Salto mortale auf dem Heck eines gelben Opel Kadett landete.

Bei dem Klassiker, dem Flug über eine sich öffnende Autotür, hatte ich noch Glück, dass zwei Notärzte in Zivil im Wagen saßen. Der Aufprall kam wie der berühmte Boxschlag in einem schwarzen Tunnel. Ich knallte gegen die Tür des Golfs und schrammte schon im nächsten Augenblick mit dem Gesicht über den Radweg. Trotz der Soforthilfe der beiden Ärzte fiel ich wiederholt in Ohnmacht und wurde mit einem Rettungswagen zur stationären Behandlung ins Krankenhaus gebracht. Hey, die haben nicht mal das Blaulicht angemacht! Wochenlang lief ich danach mit dem aufgeschürften Gesicht eines Zombies herum.

Die Kollision mit dem fahrenden Audi war weniger schmerzhaft, aber weitaus gefährlicher. Ich kugelte durch den fließenden Verkehr einer vierspurigen Straße und glaubte, gleich sterben zu müssen. Die Innenflächen meiner Hände, mit denen ich den Großteil des Aufpralls abgefangen hatte, schmerzten noch einen ganzen Monat lang. Zum Glück hatte ich früher beim Judo das richtige Abrollen gelernt.

Der Audifahrer stieg aus, besah sich die Lackkratzer an der rechten Seite seines Wagens, beschimpfte mich, setzte sich wieder ins Auto und verschwand. Eindeutig Fahrerflucht. Es gab zwar drei Zeugen, die alle etwas anderes gesehen hatten, aber niemand hatte sich das Autokennzeichen gemerkt.

Weil mir der Audi schon vorher wegen seiner blöden Fahrweise aufgefallen war, wusste ich, aus welcher Seitenstraße er gekommen war. In den folgenden Tagen durchsuchte ich in detektivischer Kleinarbeit so lange das Viertel, bis ich den Audi mit den Lackkratzern bei der Polizei melden konnte. Als Vorbestrafter wusste der Fahrer, dass es besser war, die Aussage zu verweigern. Wenigstens erhielt ich ein Schmerzensgeld.

Bei diesen Unfällen damals war ich natürlich ohne Helm unterwegs gewesen. Ebenso bei meiner ersten MTB-Tour in den Alpen, 1988 auf dem Engadiner Höhenweg, wo ich mit Turnschuhen, Tennishose und Polohemd bekleidet den Blick in die schöne Landschaft schweifen ließ, anstatt auf den Trail zu achten. Prompt kam ich vom Weg ab und stürzte kopfüber in ein Geröllfeld. Das alles hätte viel schlimmer ausgehen können. Aber jetzt liege ich schon wieder im Krankenhaus und frage mich ernsthaft, ob Radfahren wirklich gesund ist.

1. Etappe

Anfangskilometer

Es war ein entscheidender Tag im Herbst und der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, als ich nach meiner Mittagspause im Büro den Entschluss fasste: Jetzt werde ich ein Mountainbiker! Die Jahre davor hatte ich so gut wie überhaupt keinen Sport mehr getrieben. Der Job machte mir keinen Spaß. Das konnte so nicht weitergehen. Ich brauchte etwas, worin ich wieder Ausgleich, Anerkennung und ein positives Lebensgefühl finden konnte. So begann meine Entwicklung vom Gelegenheits- zum Freizeit-, zum Hobby-, zum Lizenz-, zum Extremradfahrer.

Als Erstes musste ein neues Rad besorgt werden. Meine Freundin wollte mich beim Einkauf unbedingt begleiten. Wohl um sicherzugehen, dass ich auch wirklich ein cooles Bike erstehen würde. Wenn sie geahnt hätte, welche Veränderung diese Anschaffung mit sich bringen würde, hätte sie mich bestimmt zum Kauf eines Klaviers zu überreden versucht.

Mit Cowboystiefeln betrat ich damals den Laden und geriet an einen Verkäufer, der mir einen ellenlangen Vortrag über Metalllegierungen hielt. Dabei war die Sache ganz einfach: 1500 D-Mark sollten investiert werden, und die Rahmenfarbe musste gut aussehen. Dass es verschiedene Schaltungen oder gar Naben gab, war mir weder bewusst noch interessierte es mich. Die passende Fitness war ja auch nicht vorhanden.

Sportkleidung bedeutete: lange, weite Jogginghosen und Baumwoll-Sweatshirts. Und in diesem Outfit fuhr ich mit meinem Freund Sven im Wald querfeldein oder über Großbaustellen wie die angeschütteten Seitenwälle einer neuen Autobahn. Da stürzten wir uns Abhänge hinunter, die ich heute als unfahrbar einstufen würde. Im Sommer trugen wir nur Boxershorts, die bei solchen Aktionen gerne mal am Sattel aufrissen. Hatte das Laufrad dann einen Achter, glaubte ich, das Fahrrad hätte einen Totalschaden. Am Ende unserer Touren riefen wir uns stolz die Zahl auf unserem Tacho zu: 13 Kilometer!

In einem nächsten Schritt kauften wir uns Radbeleuchtung und konnten von da an auch im Winter abends fahren. Waren wir nicht total extrem? Es gab bestimmt niemanden außer uns, der so etwas machte, dachten wir. Aber das alles taten wir nur sporadisch.

Bis ich dann auf eine Gruppe von Leuten traf, die sich gerade erst kennengelernt hatte und die genauso naiv wie ich in die Welt des Radsports vorstieß.In dieser Zeit sagte jemand auf einer Geburtstagsparty zu meiner Freundin: »Dein Freund fängt mit Radsport an? Den wirst du jetzt immer seltener sehen!« Sie lächelte gequält, und ich verstand nicht, was er damit ausdrücken wollte. War ich doch immer nur eine Stunde weg gewesen.

image

 

Ich saß also im Büro und dachte mir kurze Touren aus, die ich täglich nach Feierabend in die Tat umsetzte. Von der Haustür aus ging es zuerst in einen tollen minutenlangen Downhill, und schon nach wenigen Sekunden hatte ich den ätzenden Büroalltag vergessen. Langsam, ganz langsam weiteten sich die Touren und damit auch die Ortskenntnis aus.

Mein täglicher Arbeitsweg betrug damals nur 15 Kilometer. Um dem Berufsverkehr im Stadtzentrum zu entgehen, lud ich mein Rad manchmal morgens in meinen VW-Bus und fuhr die halbe Strecke mit dem Auto, um dann den restlichen Weg mit dem Fahrrad zurückzulegen. Ziemlicher Quatsch, würde ich heute dazu sagen. Meine Freundin fand das damals schon unsinnig und meinte, ich solle ausschließlich mit dem Auto fahren. Eine gute Radtrainerin wäre aus ihr wohl nicht geworden. Ihr taktischer Ratschlag bestand später immer nur aus einem »Fahr schön vorsichtig!«.

Motiviert wurde ich durch die Zeitschriften Bike und Mountainbike. Während ich abends im Bett die Fachmagazine durchblätterte, lag meine Freundin neben mir und las die Freundin oder irgendeine Mordgeschichte. Komisch eigentlich, dass ich mich nachts trotzdem immer sicher fühlte.

Inzwischen trug ich Radhosen mit Sitzpolster, die sich zugegebenermaßen zu Anfang anfühlten wie vollgeschissene Windeln. Nach kleinen Ausrutschern im Wald trug ich schöne gehäkelte Radhandschuhe, damit sich keine Steinchen mehr in die Handinnenflächen bohren konnten. Zu jeder Fahrt zog ich jetzt außerdem meine tolle neue Regenjacke an, auch im Sommer. Es gab ja niemanden, der mir Tipps geben konnte, und meine neuen Radfreunde waren teilweise zwar stilsicherer, aber trainingstechnisch ebenso ahnungslos wie ich.

Letztendlich war es aber diese Gruppe – sie sollte später unter dem Teamnamen »Radexpress« für Aufsehen sorgen –, die mir den richtigen Schub gab. Die Strecken wurden immer länger, das Tempo immer höher, die Wege immer komplizierter. Außerdem musste ich ein Rennrad kaufen, um auch bei den RTFs dabei sein zu können. Bei meiner ersten RTF war ich noch mit dem MTB auf Slicks gefahren, und wir hatten zwei Frauen in der Gruppe. Kein Wunder, dass sich kein Rennopa von zwei Mädels und einem »Traktor« überholen lassen wollte. Wir mussten einen 35er-Schnitt im hügeligen Gelände fahren, um alle abzuhängen. Dennoch kamen wir geschlossen zum letzten Anstieg. »Hey, ich habe 100 Kilometer auf dem Tacho!«, rief ich hocherfreut. »Und ich habe noch Kraft!« Nie zuvor war ich so weit gefahren und hatte im Peloton einen ähnlich dummen Spruch gebracht. Das Tempo zog nun dermaßen an, dass ich ganz schnell hinten rausflog. Mit der Folge, dass ich noch mehr trainierte, damit mir das nicht noch einmal passierte.

Und ich fuhr weiterhin abenteuerliche Touren mit Sven in den Alpen. Wir übernachteten bei einer Fahrt durch das Karwendel nicht in Berghütten, sondern höchstens in verfallenen Heuschobern, vorzugsweise ohne Bodenbretter, aber voller Kuhscheiße.

Noch angenehmer wurde es auf einer brillant geplanten Tour zur Uina-Schlucht Anfang Mai. Wir blieben schon kurz hinter Ischgl im knietiefen Schnee stecken. Also schliefen wir wie gewohnt erst mal in einer verfallenen Hütte, ohnehin total übermüdet von der nächtlichen Anreise auf der Autobahn. Außerdem konnten wir die Bikes nur in den ganz frühen Morgenstunden ohne allzu tief einzusinken über den dann noch gefrorenen Schnee zum Futschölpass schieben und tragen.

Während dieser Strapazen schrien wir uns lautstark an und schworen uns, ähnliche Touren nie wieder mit dem jeweils anderen zu machen. Vermutlich in höchster Lawinengefahr bewegten wir uns nur schrittweise vorwärts und brachen immer wieder bis zur Hüfte in den Schnee ein. Eine Gruppe von Skitourengehern grüßte uns wortlos beim Überholen. Hysterische Lachanfälle überkamen uns angesichts der schier endlos scheinenden weißen Weite vor uns. Aber letzten Endes erreichten wir irgendwann auf der anderen Seite einen fahrbaren Pfad in Richtung Unterengadiner Tal und waren die glücklichsten Menschen der Welt.

In der berüchtigten Uina-Schlucht gab es dann angesichts der Schneemassen endgültig kein Weiterkommen mehr. Wir mussten umkehren. Nach einer weiteren Nacht in einer zugigen Scheune bekamen wir auf dem Rückweg über das Zemblasjoch wieder eine traumhafte Schneelandschaft präsentiert. Die Frau im Verkehrsamt von Samnaun hatte noch gesagt, ein Durchkommen sei unmöglich. Die hatten doch alle keine Ahnung!

Es folgten erste Teilnahmen an Rennen. Bei der Inspektion der Strecke am Vorabend des Uphill-Rennens war ich mir sicher: NIEMAND außer mir würde die steile Skipiste überhaupt hochfahren können. Auf dem Parkplatz einer Bergbahn bei St. Moritz erfolgte ein Le-Mans-Start. Ich war zwar nicht, wie ich mir vorgenommen hatte, als Erster bei meinem Bike, lag aber nach der zweiten Kurve in Führung. Die wollte ich nun nicht mehr abgeben, was mir auch bis zur nächsten Ecke gelang, wo der eigentliche Anstieg begann.

Den Zuschauern war ich mit meiner gefleckten Kuh-Hose längst aufgefallen. Doch nun wurde ich ganz schnell selbst zum Zuschauer. Die Hälfte des Feldes war nämlich in der Lage, das Tempo auch im Anstieg hoch zu halten und reichte mich durch wie einen stehenden Eimer. Ich traute mich nicht, mich umzusehen, in der Angst, längst Letzter zu sein, und war froh, die Rampen hochzukommen, ohne absteigen zu müssen.

Ein paar Körner hatte ich mir für den Zielsprint aufgehoben. Wozu eigentlich? Ich wurde bester Deutscher, wobei ich nicht mehr weiß, ob überhaupt noch ein weiterer am Start war. Das nächste Rennen gewann ich dann sogar in meiner Altersklasse. Auf Fuerteventura. Der Prophet gilt eben nur in der Ferne etwas …

Ein erster Tipp:
Hast du beim Radfahren Seitenstechen,
steig’ niemals als, sonst musst du brechen!

image

 

2. Etappe

Mallorca

Ganz allmählich bekam ich Probleme, das neue Hobby mit meiner Beziehung in Einklang zu bringen. Während die Trainingspartner Singles oder gemeinsam fahrende Paare waren, musste ich an Wochenenden auch immer genug Zeit für meine Freundin reservieren. Wurde dann ein zweiwöchiges Trainingslager vorgeschlagen, war die Teilnahme für mich so gut wie unmöglich. Und ich wollte doch so gerne dazugehören.

Da erschien im Magazin Tour der klimatechnisch fragwürdige Reisetipp für ein Last-Minute-Weekend auf Mallorca. Ich war begeistert. Das bedeutete ja nur eine Übernachtung außer Haus. Aber am meisten beeindruckte mich das Foto, auf dem der Redakteur in Radklamotten im Flugzeug saß.

Am Samstag ging es in aller Herrgottsfrühe los. Ich fuhr also am 1. April im dünnen Radtrikot zum 30 Kilometer entfernten Düsseldorfer Flughafen und buchte Hin- und Rückflug für 99 D-Mark. Mein gerade neu gekauftes Cannondale gab ich so, wie es war, am Sondergepäckschalter ab und bekam es auf Mallorca tatsächlich fahrbereit und ohne Kratzer wieder ausgehändigt. Auf weiteres Gepäck musste ich ja nicht warten, und so fuhr ich direkt durch die Eingangshalle hinaus in die Sonne. Zu Hause hatte es bereits wochenlang geregnet.

Die erste Aufgabe bestand nun darin, eine Straße zu finden, die vom Flughafen weg und dabei nicht direkt auf die Autobahn führte. Solche Wege gibt es erstaunlicherweise an allen Flughäfen. In meinem kleinen Rucksack hatte ich keine einzige Peseta und außer Proviant für zwei Tage nur noch einen Schlafsack, den ich abends nach einem langen Fahrtag am Scheitelpunkt der spektakulären Serpentinenstraße nach Sa Calobra ausrollte.

Zwar hatte mir meine Schwester die Adresse einer Freundin gegeben, auf deren herrschaftlicher Finca ich hätte übernachten dürfen, aber man kennt das ja: Erst kommt die Einladung zum ausgiebigen Frühstück, und dann kann man ja nicht gleich unhöflich wieder abhauen. Ich wollte keine Zeit verlieren und stattdessen lieber mehr Kilometer machen. Außerdem hätte meine Freundin es bestimmt blöd gefunden, wenn ich bei einer anderen Frau geschlafen hätte. Ob sie es aber besser fand, dass ich nun einsam und allein im Gebirge lag?

Die Nacht wurde eisig kalt. Kurz nach Sonnenuntergang war die Temperatur bereits so sehr gefallen, dass der Komfortbereich meines leichten Schlafsacks längst unterschritten war. Zum ersten Mal im Leben schlief ich unter freiem Himmel. In der sternenklaren Nacht konnte ich deutlich Satelliten um die Erde kreisen sehen. Ich zitterte stundenlang der Morgendämmerung entgegen. Meinen Schlafplatz im Schachtelhalmgras hatte ich so gewählt, dass mich die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages sofort treffen würden. Es dauerte aber noch eine Stunde, bis die Sonne genug Power hatte, einen durchgefrorenen Radler in kurz-kurz während der ersten Abfahrt zu wärmen. Ich fuhr noch zum Cap Formentor, bis die Kälte endgültig aus den Knochen vertrieben war.

Dann wurde es auch schon wieder Zeit, nach Palma zurückzukehren, um den Rückflug nicht zu verpassen. Auf dem Weg dorthin mischte ich, anstatt deren Windschatten zu nutzen, einige Radgruppen auf. Das führte unweigerlich zu einer Unterzuckerung und später auch noch zu einem kleinen Sturz. Mit blutverschmiertem Knie und bestimmt ganz schön stinkend saß ich nach insgesamt 378 Kilometern wieder im Flieger. Ja, ich hatte es der Putzfraueninsel richtig gegeben! Bisher hatte ich immer eine Abneigung gegen diese Destination gehabt, und meine Tour sollte ausdrücken, wie Mallorca abzuhandeln wäre.

Aber Mallorca ist zweifelsfrei DAS Ziel für Rennradfahrer. Und in den folgenden Jahren probierte ich auf der Insel noch weitere Reise- und Trainingsformen aus. Meine Freundin als passiven Gast mit ins Radsporthotel Hürzeler zu nehmen, war beispielsweise keine gute Idee. Während die anderen nach den Ausfahrten zum Zwecke der Regeneration die Beine hochlegten, um am nächsten Tag in Randa oder beim Küstenklassiker zur Attacke blasen zu können, stand für mich nach der Rückkehr ins Hotel noch ein komplettes Touri-Programm auf dem Plan. Und so stand ich mir vor Schuhgeschäften und anderen Sehenswürdigkeiten die Füße platt, während mir das angestaute Laktat der Schwerkraft folgend in die Unterschenkel sackte.

Wir haben es zu zweit auch mit einer kleinen Unterkunft und Selbstversorgung versucht. In dieser Variante fuhr meine Freundin im Leihwagen mit Tempo 50 und geöffneter Heckklappe vor mir her, damit ich schneller auf meine gewünschte Tageskilometerleistung kam. Den Rest des Tages bemühte ich mich, die Stimmung hochzuhalten und auch ihr das Gefühl zu geben, auf ihre Urlaubskosten zu kommen. Im Grunde war es aber ein Teufelskreis. Wenn ich vom Rad runtermusste, um mit meiner Freundin etwas zu unternehmen, wäre ich immer gerne noch weitergefahren und blickte jedem Radfahrer neidisch hinterher. Hing ich aber mit dicken Beinen im Windschatten meiner Freunde und drohte, jeden Moment wegzuplatzen, dann sehnte ich mich so sehr nach meiner schönen radfreien Parallelwelt.

Beim nächsten Trainingslager des Radexpress war ich dann mit dabei. Irgendwie war für mich jede Ausfahrt ein Rennen. Über Begriffe wie Grundlage, Schwelle und Pulskontrolle wurde zwar in allabendlicher Runde doziert, doch spätestens wenn am nächsten Tag ein anderer Radfahrer oder gar eine ganze Gruppe in Sichtweite kam, hieß es für mich nur noch Anschlag, Maximalbelastung und Laktatspülung. Die Hackordnung musste jeden Tag erneut festgelegt werden. Alle anderen waren doof, wir waren die Besten, und das sollte jeder sehen oder zu spüren bekommen.

Wenn ich allein unterwegs war, konnte mir die Tour nie lange genug dauern. Ich wollte an der frischen Luft bleiben und möglichst viele Kilometer fahren. Mit meiner Trainingsgruppe ging es aber eher darum, eine möglichst hohe Durchschnittsgeschwindigkeit zu fahren und sich unter gar keinen Umständen überholen zu lassen. Da sehnte ich immer schon recht bald das Ende der Runde herbei. Das wiederum war natürlich sehr im Interesse meiner Freundin. Ihr war es plötzlich sehr recht, dass ich mich dem Tempodiktat der anderen unterordnete und so tatsächlich immer zur verabredeten Zeit zurückkehrte, statt eine oder zwei oder drei Stunden später.

Mit dem Radexpress bin ich in den folgenden Jahren auch nach Zypern gereist. Wir wollten ausprobieren, ob sich die Insel für ein Frühjahrstraining eignete. Dani meinte, im östlichen Mittelmeer regne es weniger, und wurde in dieser Ansicht von Jörg unterstützt. Rainer wollte mal etwas anderes als immer nur Mallorca sehen. Frank und Roger war das Ziel eigentlich egal, sie hatten aber erfahren, dass auch das Tour-Trainingslager dieses Jahr auf Zypern sein würde. Nur Horst wollte partout nach Mallorca und kam nicht mit. Ich wäre überall mit hingekommen. Hauptsache Sport mit Gleichgesinnten!

Schon während der Anreise fühlten wir uns wie ein Profiteam, und ganz sicherlich sahen wir für die Gäste der Tour, die im Nachbardorf im Hotel logierten, auch so aus. Die Insel unterschied sich nicht großartig vom Radrevier Mallorcas. Es gab kurvige, auf Klosterberge führende Stichstraßen, auf denen man den Bergkönig ermitteln konnte, Zitrusplantagen, einsame Gebirgszüge und eine windige Küstenstraße. Insgesamt war der Asphalt aber in einem schlechteren Zustand, die Berge waren endlos steil, und ständig wehte ein strammer Wind aus Westen. Zudem trugen die Schilder gewöhnungsbedürftige griechische Buchstaben. Und gefährlich war es auch. Manuel brach sich in den engen Gassen von Tochni die Hand. Roger, der Pechvogel, fuhr an letzter Position unserer Einerreihe durch ein Kleingewerbegebiet, als er sich einen dicken Nagel durch Reifen, Schlauch und Felge (!) bohrte. Über einen achtlos hingeworfenen Haufen Nägel waren wir anderen zuvor noch schadlos hinweggefahren.

In den folgenden Tagen kämpften wir erst mit dem Linksverkehr und dann die Tour-Truppe nieder und machten uns damit ziemlich unbeliebt. Das hätten wir die ganze Woche so weitertreiben können, wenn es nicht wie blöd geregnet hätte.

Mein Radverein aus Dortmund fuhr jedes Jahr in ein größeres Häuschen nach Südfrankreich. Das probierte ich als Nächstes aus. Weil kaum andere Radfahrer auf der Straße waren, blieb uns nichts anderes übrig, als uns gegenseitig aus den Schuhen zu fahren. Abends ließen die Jungs dann alle den Macho raushängen und zeigten, dass sie von Haushalt nichts verstanden. Kette putzen, ja. Aber Geschirr abtrocknen? Ich hatte einen einfachen Speiseplan mit täglich Nudeln und Soße erwartet. Aber der Hobbychefkoch der Truppe überforderte die Geschmacksnerven der Mannschaft mit exquisiten französischen Spezialitäten. Gemeinschaftskasse sollte man auch besser nur mit seinen engsten Freunden machen.

Dafür fuhren wir in der Provence so schöne Ziele wie die Gorges du Verdon an. Auf den halben Kilometer genau wurde der Streckenverlauf vorausberechnet, aber mangels Sprachkenntnissen hatte niemand auf den Wetterbericht geachtet. Am berühmten »weit entferntesten Punkt« wurden wir deshalb in frühsommerlicher Kleidung von einem Schneeschauer überrascht. Jetzt musste jeder selbst sehen, wo er blieb.

Es war ein Tag, an dem Legenden geboren wurden. Erstaunlich, dass es keine Toten gab. Wer zuerst kam, konnte seine Schuhe am Kamin in optimaler Position zum Trocknen bringen, die anderen hatten am nächsten Tag eben immer noch nasse Füße.

Diese Trainingsreisen unternahm ich längst ohne Begleitung meiner Freundin. Um noch exzessiver fahren und meine eigenen Radreiseziele ohne Diskussion erreichen zu können, war ich inzwischen des Öfteren ganz allein unterwegs.

So reiste ich auch allein zur ultimativen Herausforderung der Provence, dem Mont Ventoux. Horst, nach eigenen Angaben sachkundiger Experte, hatte mich daheim eindringlich gewarnt: Der Mistral würde eine Befahrung quasi unmöglich machen! Im Fernsehen sah das doch immer so leicht und irgendwie flach aus. Und nur wer gedopt war, erreichte den Gipfel nicht, sondern musste kurz vorher an den Bergflanken sterben. Ich hatte also nichts zu befürchten, da war ich mir sicher. Das letzte Durchfallzäpfchen war schon Jahrzehnte her. Und viele andere Radfahrer aus aller Herren Länder schienen am Ventoux auch nichts zu befürchten.

Die Auffahrt auf diesen Berg war aber ein einziger Kampf. Wie machten das nur all die anderen Radfahrer, deren Kondition größtenteils viel schlechter wirkte? Ein besonders alter Franzose fuhr so langsam den Berg hinauf, dass ich fürchtete, er würde den Gipfel in diesem Leben nicht mehr erreichen.

Ab dem Chalet Reynard begann dann der ultimative Showdown. Weißbeinige Wadenpelzträger entstiegen dort ihren Autos und wollten denjenigen, die von Bedoin oder Sault kommend bereits Körner gelassen hatten, das Leben schwer machen, während diejenigen, die in Malaucène gestartet waren, auf ihrer Abfahrt entgegenkamen und blasiert guckten. Auf dem Asphalt konnte man immer noch die aufgemalten Anfeuerungen für Ulle und Lance lesen. Und auf den letzten sechs Kilometern standen insgesamt vier Profifotografen, die jeden ablichteten und ins Internet stellten.

Unglaublich, wer dort so alles mit einem Rad unterwegs war! Halb nackte Frauen waren ja noch sehr reizvoll. Aber sämtliche Dresscode-Sünder versuchten, hier ganz groß rauszukommen und die Leistung ihres Lebens zu bringen. Für einen halbwegs trainierten Fahrer waren sie einerseits willige Opfer, andererseits suggerierten sie mir, ich käme schnell voran.

Für solch ein Erlebnis musste ich auf Mallorca nie weit fahren. Dort scheint immer RTF zu sein. In alle Richtungen.

image

 

3. Etappe

Autofahrer

Eingequetscht zwischen meinen Geschwistern saß ich als kleiner Junge hinten im Auto meiner Eltern und sah oft sehnsuchtsvoll mit großen Kinderaugen Rennradfahrern nach, wie sie mit ihren chromblitzenden Geräten auf Serpentinenstraßen in den Dolomiten oder durch das liebliche Felderbachtal im Niederbergischen Land fuhren, während ich nicht nur Sonntagsspaziergänge hinter mich bringen musste, sondern nun auch noch gefangen in diesem Auto war. Dieses Gefühl des Gefangenseins hatte ich auch, wenn ich mit meiner Freundin im Auto saß. Von Stau ganz zu schweigen. Ich wollte immer raus. Freiheit im Verkehr verspricht nur das Fahrrad. Und ich glaube, insgeheim weiß das jeder Autofahrer. Auch stellte ich fest, dass die Fahrt mit dem Auto immer schon zur Arbeitszeit gehört, während der Feierabend in der Sekunde einsetzt, wenn man sich auf sein Rad setzen kann.

Um täglich lange genug auf dem Rad sitzen und in diesem Lebensgefühl richtig aufgehen zu können, hatte ich angefangen, mit dem Rad morgens von Wuppertal nach Düsseldorf zur Arbeit zu fahren. Das machte sogar doppelt Sinn. Erstens war ich aufgrund der allmorgendlichen Stausituation genauso schnell am Ziel wie mit dem Auto, und zweitens konnte ich die Zeit, die ich im Auto verbracht hätte, zum Training nutzen. Für meine Beziehung war das also eher förderlich, denn mittlerweile kam mein Verhalten meiner Freundin zunehmend befremdlicher vor. Auch die Kollegen konnten nicht nachvollziehen, was so toll daran sein sollte, morgens bei Regenwetter das Auto stehen zu lassen. Argumente wie Sauerstoffdusche oder Endorphindröhnung verstanden die Couch-Potatoes nicht. Sie waren eben leidenschaftliche Autofahrer.

Und mit dieser Gattung geriet ich während der Rushhour immer wieder aneinander, wenn ich mich weigerte, Radwege zu benutzen, oder wenn ich wie geistesgestört durch die langen Staureihen schoss. Ich kannte irgendwann die Ampelschaltungen und wusste, wie schnell man wo fahren musste, um die grüne Welle zu halten. Mit Rücksicht kam man da nicht weiter, zumal jeden Morgen die Stoppuhr lief, um im Düsseldorfer Innenstadtverkehr eine neue Rekordzeit aufzustellen.

Ein Mercedesfahrer aus Mettmann wollte mich eines Morgens unbedingt auf den miserablen Radweg zwingen. Ja, genau dorthin, wo man von den aus den Seitenstraßen anrauschenden Autos so gerne übersehen wird. Sowieso ist das definitiv keine Option für jemanden, der sich nicht ausbremsen lassen will. Nach mehreren geschickten Ausweich- und Überholmanövern meinerseits war es nur noch eine Frage der Zeit, wer zuerst ausrasten würde.

Es war der Mercedesfahrer, der den entscheidenden Zug machte und sich mit quietschenden Reifen so vor mir quer stellte, dass kein Vorbeifahren mehr möglich war. Na, jetzt konnte ich ihm mal schön die Meinung sagen! Welche der Typ aber gar nicht hören wollte. Stattdessen krempelte er die Ärmel seiner Lederjacke hoch und entblößte seine tätowierten Unterarme. Radschuhe und ein Rucksack sind eine denkbar ungünstige Kampfmontur. Außerdem bin ich kein guter Hooligan. Ich würde wohl bei jedem Schlag besorgt nachfragen, ob’s wehgetan hat.

Also versuchte ich, zu deeskalieren. »Alter, es ist doch Freitag!«, schien mir der geeignete Einstiegssatz zu sein. Nachdem ich ihm auch noch bestätigte, dass er den Kampf mit Sicherheit gewonnen hätte, und weitere nette Worte für ihn fand, kam heraus, dass auch er manchmal Rad fuhr. Na also, da hatten wir ihn doch gefunden, den gemeinsamen Nenner! Abschließend musste ich noch eine Versöhnungsumarmung über mich ergehen lassen. Ich hatte nun einen neuen Freund, und wir konnten beide weiterfahren.

Nachdem ich die Arbeitsstelle gewechselt hatte, musste ich morgens bis nach Köln fahren, was mit 58 Kilometern einfacher Strecke gleich doppelt so weit war wie vorher. Ich musste deshalb eine Stunde früher aufstehen, wenn ich nicht das Auto benutzen wollte, das bei der Streckenlänge gut doppelt so schnell gewesen wäre. Insofern hatte meine Freundin wenig Verständnis, denn sie wurde regelmäßig wach, wenn ich um halb sechs das Haus verließ. Aber zumindest im Sommer war es mir so möglich, an einem ganz normalen Arbeitstag über 200 Kilometer zu fahren, wenn ich es nachmittags noch rechtzeitig zum Treffpunkt der Trainingsgruppe schaffte.

Die Fahrten zur Arbeitsstelle waren alles andere als landschaftliche Attraktionen und die Konflikte mit den Autofahrern allgegenwärtig. Also verlegte ich neuerdings den Rückweg auf eine schönere Strecke. Die war zwar ein Umweg, aber bis zur »Tagesschau« war ich meist wieder zu Hause, sofern ich nicht noch ein Abendtraining mit den Freunden absolvierte. Vermutlich dachte meine Freundin, diese Phase hätte bald ein Ende. So idiotisch konnte ich doch wohl nicht sein.

Doch bald fuhr ich auch an den Wochenenden weiter. Dann natürlich über ausgesucht schöne und verkehrsarme Strecken, wo es trotzdem zu Auseinandersetzungen mit Autofahrern kommen konnte. Ein Von-der-Straße-Hupen durften wir uns natürlich nicht bieten lassen, und gerne wurden den Autofahrern die klebrigen Inhalte unserer Trinkflaschen an die Seitenscheiben gespritzt. Es war zweifellos die wesentlich bessere Strategie, Angriffe von Autofahrern möglichst zu ignorieren und dann auch schnell wieder zu vergessen, als sich großartig aufzuregen, den Puls unnötig in die Höhe zu treiben, womöglich eine Sachbeschädigung zu begehen, sich in Gefahr zu bringen, dass der Autofahrer am Ende noch sein Auto als Waffe einsetzte, und sich so stimmungsmäßig den halben Sonntag zu versauen. Aber in der Radgruppe waren sich nicht immer alle einig, und die Reaktionen waren vorher ja auch nie abgesprochen.

Die hupend vorbeifahrenden Autofahrer dachten meistens nicht daran, dass man sich womöglich schon eine Minute später an einer roten Ampel wiedersehen könnte. Das Rentnerehepaar aus Dortmund war jedenfalls sehr überrascht, als plötzlich der eben noch wegen gefahrener Doppelreihe übel geschnittene und angehupte Radverein nun zur Hälfte auf seiner Motorhaube hing und an Außenspiegeln und Wischerblättern zerrte, während die andere Hälfte penetrant auf das Autodach trommelte.

Oft war mir aber in solchen Situationen das rabiate Verhalten meiner Begleiter sehr peinlich. Wenn das Ansehen der Radfahrer im Straßenverkehr auf diese Weise mal wieder in Misskredit gebracht wurde, war es mir unangenehm, dabei zu sein. Es waren oft nur einige wenige Radfahrer, die durch ihr gewalttätiges Verhalten die ganze Gruppe in Schwierigkeiten brachten.