Cover

Barbara Bosshard

Verborgene Liebe

Die Geschichte von Röbi und Ernst

WÖRTERSEH

»Wir müssen noch mehr Menschen klarmachen: Der Kampf gegen Diskriminierung und für gleiche Bürgerrechte ist kein Nischenthema. Denn hierbei geht es um die Grundregeln unseres Zusammenlebens. Es geht um die Achtung der Menschenwürde und um die Freiheit, andere anders sein zu lassen. Auch deshalb sind Bücher wie dieses so wichtig. Denn die Geschichte von Röbi und Ernst liest sich auch als Appell für Selbstbestimmung, Eigenverantwortlichkeit und für das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit – was gerade in demokratischen und aufgeklärten Gesellschaften wie den unseren für jede Bürgerin und jeden Bürger unabhängig von Religion, Herkunft oder Lebensweise selbstverständlich sein sollte. Röbi und Ernst mussten sich diese Normalität immer wieder hart erkämpfen. Und doch haben sie nie aufgegeben. Ich habe sie kennen gelernt als zwei eindrucksvolle Persönlichkeiten voller Charme und Energie, deren Lebensmut Vorbild sein kann.«

Klaus Wowereit, Regierender Bürgermeister von Berlin in seinem Vorwort

Trailer zu »Verborgene Liebe«:
www.woerterseh.ch

In »Verborgene Liebe« erzählen Röbi Rapp und Ernst Ostertag, beide 1930 geboren, von einem Leben, in welchem sie alles, was sie öffentlich als Homosexuelle hätte erkennbar machen können, tunlichst unterlassen mussten. Jung verliebt, sie waren 26, konnten sie ihre Liebe über Jahrzehnte hinweg nur im Verborgenen leben. Öffentlichkeit hätte damals Ernsts Stelle als Sonderklassenlehrer gefährdet. Ihre Träume lebten Röbi und Ernst in der Schwulenorganisation Der Kreis, einer 1932 in der Schweiz gegründeten Organisation, die in einschlägigen Kreisen große internationale Beachtung fand und in deren Theatergruppe Röbi, von Beruf Coiffeur, ab 1948 in Frauenrollen auftrat und Chansons vortrug. Nach der Pensionierung von Ernst machten die beiden ihre Liebe nach 46-jähriger Partnerschaft öffentlich und besiegelten sie am 1. Juli 2003 auf dem Zürcher Standesamt. Dies als erstes gleichgeschlechtliches Paar im Kanton Zürich. Ihre Biografie ist Teil der homosexuellen Befreiungsbewegung in der Schweiz und ihre jetzt vorliegende Geschichte eine Zeitreise durch das Leben eines ungewöhnlichen Paares, das auch im Alter neue Wege beschreitet und vor etlichen Jahren ein abermals unkonventionelles Glück gefunden hat: in einer Dreierbeziehung.

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe

Ein Spinnenfaden
Zittert über der Wiese –
Schmetterling, gib acht!

Flandrina von Salis

Inhalt

Über das Buch

Vorwort

Einleitung

Kindheit, Jugend und Homosexualität

Der Kreis, Partnerschaft und Repression

Neuorientierung, Reisen und Buddhismus

Pensionierung, Coming-out und Aufbruch

Ausklang

Anhang

Zeittafel

Quellen

Danke

Bildteil

Über die Autorin Barbara Bosshard

Leseempfehlungen

Vorwort

»Röbi und Ernst«: Das ist die Geschichte einer großen Liebe. Es ist aber auch die Geschichte vom steinigen Weg eines homosexuellen Paares, das für sich etwas eigentlich Selbstverständliches einforderte: den persönlichen Lebensentwurf frei von rechtlichen Benachteiligungen und gesellschaftlichen Stigmatisierungen entfalten zu können.

Ein unbeschwertes und selbstbestimmtes Leben – das sollte jedoch auch für Homosexuelle in der vergleichsweise liberalen Schweiz lange ein Wunschtraum bleiben. Röbi Rapps und Ernst Ostertags Lebensbilanz hätte deshalb bitter sein können. Nicht nur, dass sie ihre nun schon rund 56 Jahre alte Liebe die meiste Zeit verheimlichen mussten. Auch wurden sie mehrfach von der Polizei bedrängt, ihre Namen fanden sich im sogenannten Schwulenregister wieder, sie lebten in ständiger Sorge vor Ausgrenzung und Repression. Da ist es keineswegs selbstverständlich, so versöhnlich auf die Vergangenheit zurückzublicken, wie Röbi und Ernst es tun.

Dass sich die beiden trotz allem nie haben einschüchtern lassen, dass sie sich immer gegen Diskriminierungen engagierten (und es bis heute tun) und dass sie ihre Beziehung schließlich unter großer medialer Aufmerksamkeit öffentlich machten und sich – noch am Tag des Inkrafttretens des entsprechenden Gesetzes – als erstes gleichgeschlechtliches Paar im Kanton Zürich standesamtlich registrieren ließen, verdient unser aller Respekt. Und größten Respekt verdient es auch, dass Röbi und Ernst so offen über ihre Lebensgeschichte berichten. Ich bin sicher, dass dies auch anderen Mut machen kann.

Vieles von dem, wofür sich Menschen wie Röbi und Ernst über Jahrzehnte hinweg eingesetzt haben, ist heute zwar Wirklichkeit: Das gesellschaftliche Klima ist toleranter geworden – in der Schweiz ebenso wie in meinem Land. Und auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen haben sich geändert. Man denke nur an das Lebenspartnerschaftsgesetz in Deutschland und an das eidgenössische Partnerschaftsgesetz – das waren Meilensteine der Emanzipation.

Trotz zahlreicher weiterer Fortschritte in Sachen Gleichstellung und gesellschaftlicher Respektierung bleibt jedoch nach wie vor viel zu tun, bis Lesben und Schwule im Alltag völlig gleichgestellt sind. In vielen Köpfen sind Stereotype und Vorurteile über Homosexuelle nach wie vor fest verankert. Oft genug bereiten sie den Boden für Stigmatisierungen und Benachteiligungen aller Art. Und auch die vollständige Gleichheit vor dem Gesetz ist noch nicht erreicht. In Deutschland werden zum Beispiel eingetragene Partnerschaften gegenüber Ehen nach wie vor steuerlich und auch beim Adoptionsrecht benachteiligt.

Da ist noch viel Arbeit zu leisten. Wir müssen noch mehr Menschen klarmachen: Der Kampf gegen Diskriminierung und für gleiche Bürgerrechte ist kein Nischenthema. Denn hierbei geht es um die Grundregeln unseres Zusammenlebens. Es geht um die Achtung der Menschenwürde und um die Freiheit, andere anders sein zu lassen.

Auch deshalb sind Bücher wie dieses so wichtig. Denn die Geschichte von Röbi und Ernst liest sich auch als Appell für Selbstbestimmung, Eigenverantwortlichkeit und für das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit – was gerade in demokratischen und aufgeklärten Gesellschaften wie den unseren für jede Bürgerin und jeden Bürger unabhängig von Religion, Herkunft oder Lebensweise selbstverständlich sein sollte.

Röbi und Ernst mussten sich diese Normalität immer wieder hart erkämpfen. Und doch haben sie nie aufgegeben. Ich habe sie kennengelernt als zwei eindrucksvolle Persönlichkeiten voller Charme und Energie, deren Lebensmut Vorbild sein kann. Ihre fast schon romanhafte Lebensgeschichte, die Barbara Bosshard nun mit viel Empathie aufgezeichnet hat, steht beispielhaft für die Repressionen, denen Homosexuelle im 20. Jahrhundert in der Schweiz (ähnlich wie in Deutschland) ausgesetzt waren.

Sie steht aber auch für den erfolgreichen Kampf um ein selbstbestimmtes, glückliches Leben. Ohne das Engagement von Menschen wie Röbi und Ernst wären wir heute längst nicht so weit.

Möge Barbara Bosshards berührende Biografie viele Leserinnen und Leser finden.

Klaus Wowereit

Klaus Wowereit, Regierender Bürgermeister von Berlin

Einleitung

Die Vorfreude ist groß, als er im Zürcher Stadttheater sitzt und darauf wartet, dass es dunkel wird und sich der Vorhang für die Tanzgruppe Les Ballets Africains zur Seite schiebt. Doch noch bevor die Truppe als Botschafterin für ein unabhängiges Guinea ihren Auftritt hat, ist es um ihn geschehen. Er fällt aus allen Wolken, als ein Zauberwesen – blond und schlank, wie es ihm drei Jahre zuvor die Zigeunerin im spanischen Granada prophezeit hatte – wie ein Engel an ihm vorbeischwebt. Allerdings, auch das sieht er, geht an dessen Seite ein Begleiter. Er denkt: chancenlos. Er unternimmt nichts und bleibt auch in der Pause neben seiner Begleiterin, einer Berufskollegin, im Polster sitzen.

Der Zufall will es aber, dass er dem Engel wenige Monate später wieder begegnet, und er hofft, dass dieses Mal sein Traum in Erfüllung geht – also doch nicht chancenlos … oder doch … Jedenfalls platzt die erste Abmachung im letzten Moment … und er akzeptiert, dass es so ist, wie er nun glaubt, denken zu müssen, bis der Engel seinerseits ihn zu suchen beginnt … Und bei diesem Zusammentreffen nun auch Amor anwesend ist.

Nach vier Jahren kauft sich das Liebespaar gemeinsame Eheringe. Es sind in Gold gefasste Edelsteine – ein dunkelroter Rubin und ein grüner Turmalin –, die auch in ihrer Fassung unterschiedlich sein müssen, damit sie das Paar nicht als Paar verraten.

Ihre Liebe verstecken sie über Jahrzehnte.

Sie getrauen sich erst nach vierzig Jahren, als Paar so in Erscheinung zu treten, dass auch die Öffentlichkeit zur Kenntnis nimmt, dass sie – er und der Engel – zusammengehören. An einem Demonstrationsumzug durch die Bundeshauptstadt schwenken sie sogar ein Transparent und schauen, dass das, was sie zu Hause eigenhändig daraufgepinselt haben, für alle lesbar ist: »Ein Paar seit 43 Jahren, rechtlos …« An ihrer linken Hand leuchten ihre Ringe, mit denen sie früher für Uneingeweihte ihr Zusammengehören kaschiert und ihre Liebe verborgen haben. Die Innenseite der Goldfassung lassen sie erst fünf Jahre später mit der für sie verbindenden Botschaft gravieren: »E + R, 1. Juli 2003«, was übersetzt so viel heißt wie: Nach 47 Jahren gemeinsamem Lebensweg können »E« und »R« heiraten.

Ernst Ostertag und Röbi Rapp sind das erste Paar im Kanton Zürich, das seine Lebensgemeinschaft legalisiert, weil Zürich nach einer Abstimmung als zweiter Schweizer Kanton nach Genf die Partnerschaft homosexueller Frauen- und Männerpaare anerkennt.

Knapp vier Jahre später treten Röbi und Ernst noch einmal vor den Standesbeamten, um ihre Partnerschaft ein zweites Mal juristisch zu bezeugen, da das Recht auf anerkannte homosexuelle Partnerschaft auf eidgenössischer Ebene eingeführt worden ist und das kantonale ersetzt. Damit geht für die beiden ein weiterer Traum in Erfüllung: Nun sind sie wirklich ein richtiges Paar – eines auch mit schweizerischen Rechten.

Zu diesem Feiertag tragen Röbi und Ernst auch noch richtige Eheringe, die im Gegensatz zu ihren allerersten schon beim Tragen offenbaren, dass sie zusammengehören. Auf der Innenseite steht auch diesmal wieder »E + R«, doch das Datum ist das Datum ihrer ersten Liebesnacht und des Beginns ihrer Partnerschaft, die schon ein halbes Jahrhundert überdauert hat: »3. November 1956«.

Für Röbi und Ernst steht dieses Datum für viel mehr als für den Beginn ihrer Liebe. Es symbolisiert den langen Weg, der hinter ihnen liegt. Und beim Überstreifen der Eheringe sind sie sich bewusst, dass dies auch ein Zeichen der Versöhnung mit der Vergangenheit ist, in der sie es sich sogar verboten haben, auch nur daran zu denken, dass auch für sie einmal eine Zeit kommen könnte, in der sie sich so etwas wünschen dürften. Auch diesbezüglich sind sie sich, wie fast immer in ihrem Leben, einig – »es ist einfach wunderbar«.

Dieses Versöhnliche hat mich bei Röbi und Ernst von Anfang an beeindruckt. Und auch ihre Heiterkeit.

Ich habe sie kurz nach ihrem erstem Gang aufs Standesamt mehrmals getroffen und sie über ihr Leben befragt, weil ich ihre Geschichte als Kinodokumentarfilm realisieren wollte. Dieser kam jedoch nicht zustande, da beim Bund, bei dem ich mein fertig ausgearbeitetes Konzept eingereicht hatte, damals im Gegensatz zur Stadt Zürich ein Reglement bestand, das keine Fördergelder an festangestellte Fernsehschaffende mit einem Arbeitsvolumen von mehr als fünfzig Prozent vorsah. Mein Dokumentarfilmvorhaben fand also keine Fortsetzung, der Kontakt mit Röbi und Ernst blieb aber bestehen.

Jedes Mal, wenn wir uns sehen, fällt mir auf, dass keine Bitterkeit ihrer Geschichte gegenüber zurückgeblieben ist – und das, obwohl die Gesellschaft über Jahrzehnte auf Menschen, die wie sie ihr Leben mit dem gleichen Geschlecht lebten, mit Repression und Stigmatisierung reagierte und damit dafür verantwortlich war, dass sich vor allem homosexuelle Männer nicht so entwickeln konnten, wie sie es getan hätten, wenn sie heterosexuell gewesen wären. So aber waren, bis zum Wandel der gesellschaftlichen Moral, Homosexuelle gezwungen, sich zu verstecken.

Als lesbisch lebende Journalistin, um eine Generation jünger als Röbi und Ernst, interessierte mich deren Biografie seit der ersten Begegnung. Denn ihr Leben repräsentiert letztlich ein Stück Schweizer Geschichte und handelt von einer Vergangenheit, die heterosexuell Lebenden verborgen geblieben ist, weil sie in dieser Gesellschaft wie selbstverständlich die Norm bestimmten und ihre Lebensweise nie infrage gestellt wurde. Deshalb können sie sich kaum vorstellen, wie es ist, wenn man als homosexuell lebender Mensch von ebendieser Gesellschaft allein aufgrund des Sexualverhaltens, das nicht dasselbe ist, ins Ghetto gedrängt wird.

Bis Ende der Neunzigerjahre war das Leben von Röbi und Ernst ein Leben im Schatten dieser Gesellschaft, in der auch ich als frauenliebende Frau meinen Weg finden musste. Diese Prägung war letztlich meine Motivation, ihrer Prägung nachzugehen und ihrem Leben nachzuspüren.

Bei meinen regelmäßigen Besuchen für die Recherchengespräche für dieses Buch, mit denen ich im Sommer 2011 beginne, werde ich von Röbi und Ernst stets liebevoll empfangen. Vor der Wohnung im ersten Stock, in der Röbi früher mit seiner Mame gelebt hat, erwartet meist er mich. Er küsst mich zur Begrüßung auf die Wangen, und schon im Gang, noch während ich meine Schuhe ausziehe, fragt er, ob ich den Kaffee jetzt oder später serviert haben möchte. Bei einer positiven Antwort folgt, noch bevor er in der Küche verschwindet, die Präzisierung, ob ich wie immer einen Espresso wünsche, »gell, den schwarzen?«.

Ernst sitzt in diesem Moment meistens noch am Stubentisch am geöffneten Laptop und ist beschäftigt mit der Aufarbeitung der schweizerischen Schwulenemanzipation, seinem übers Internet abrufbaren Lebenswerk mit dem Titel »Es geht um Liebe«1. Meist bleibt er noch eine geraume Zeit am Tisch sitzen. Nicht weil er nicht weiß, was sich gegenüber mir, dem Gast, gehört, sondern weil wir über die Jahre eine fast familiäre Beziehung zueinander entwickeln konnten, die es ihm möglich macht, ohne unhöflich zu sein, seine Gedanken abzuschließen.

Ich bin fasziniert von der Achtsamkeit, die Röbi und Ernst mir und auch sich selber entgegenbringen. Häufig denke ich, zum Glück sind beide schwul, sonst hätten sich ihre Lebenswege wahrscheinlich nie gekreuzt, obwohl beide in Zürich aufgewachsen sind, im gleichen Jahr auf die Welt kamen und schon ganz jung ähnliche Interessen hatten: Theater und klassische Musik.

Die Lebensbiografien von Röbi und Ernst könnten aber bis zu jenem Zeitpunkt, als sie einander begegneten, nicht unterschiedlicher sein.

Kindheit, Jugend und Homosexualität

Ernst, geboren am 21. Januar 1930, wächst zusammen mit seinem um zwei Jahre jüngeren Bruder und seiner zehn Jahre jüngeren Schwester in Zürich auf. Sein Vater ist Redaktor einer Fachzeitschrift und Privatdozent an der ETH. Und dessen Vater, Ernsts Großvater, ist Direktor des Technikums in Winterthur. Die Eltern von Ernsts Mutter sind Unternehmer im Getränkebereich, die unter anderem als Erste alkoholfreie Limonade herstellten und auf den Markt brachten. Zur Mutter der Mutter hat Ernst ein inniges Verhältnis. Er verehrt sie, nennt sie Großmama. Unter allen Großkindern schließt sie Ernst ganz besonders ins Herz. Für ihn, ihren Liebling, hält sie ein ständiges Gastbett bereit und verwöhnt ihn mit wertvollen Weihnachtsgeschenken. Einmal erhält er von ihr einen Füllfederhalter mit goldener Feder.

Röbi kommt ein knappes halbes Jahr später, am 27. Mai 1930, in Zürich zur Welt. Seine Schwester ist sieben Jahre älter. Die beiden wachsen in einem komplett anderen Umfeld auf als Ernst: Vater Rapp, der »schöne Robert«, ist Deutscher. Er kennt seine leibliche Mutter nicht, sie ließ ihn als Säugling in der Gaststube eines Hotels verwaist zurück. Allerdings hat er insofern Glück, als sein Vater – Röbis Großvater –, der zuvor die Verantwortung für die junge Familie nicht übernehmen wollte, dennoch für seinen Sohn sorgt. Er nimmt ihn zu sich und heiratet wenig später eine ausgewanderte Schweizerin – der kleine Knabe erhält dadurch eine Stiefmutter und mit den Jahren fünf Geschwister. Die neue Mutter plagt ihren Stiefsohn wie im Märchenbuch. Als ihr Mann, Röbis Großvater, stirbt, kommt sie, die in der Schweiz geboren ist, mit allen Kindern zurück in ihre Heimat. Um ihre leiblichen Kinder ist sie besorgt und unternimmt alles, damit sie den Schweizer Pass erhalten. Den ungeliebten Stiefsohn aber, Röbis Vater, schickt sie, als er noch keine zwanzig Jahre alt ist, wieder zurück nach Deutschland. Dort lernt er Goldschmied, wie schon sein Vater, und begegnet Röbis Mutter.

Mame, wie Röbi seine Mutter noch heute mit viel Liebe nennt, ist kein Kind des Glücks. Als junge Frau sorgt sie sich um ihre Mutter, und daneben stellt sie in Heimarbeit Schmuck her. Während des Ersten Weltkrieges ist damit aber kein Geld mehr zu verdienen. Sie beginnt, gezwungen durch die finanzielle Überlebensnot, Einzelteile für Granaten zusammenzubauen. Ein halbes Jahr vor Kriegsende erleidet ihre Mutter einen Schlaganfall – von nun an pflegt sie sie rund um die Uhr, und bei Bombenalarm flieht sie nicht wie andere in den Luftschutzkeller, sondern bleibt solidarisch an der Seite der nun gehbehinderten, halbseitig gelähmten und bettlägerigen Mutter, die sie nicht ihrem Schicksal überlassen will.

Nach Kriegsende und nach dem Tod ihrer Mutter lernt die junge Frau Röbis Vater, den »schönen Robert«, kennen. Die beiden heiraten, und als das erste Kind, Röbis Schwester, drei Jahre alt ist, kommt Röbis Vater Mitte der Zwanzigerjahre in die Schweiz zurück – dieses Mal mit seiner jungen Familie. Angesichts der wirtschaftlich hoffnungslosen Lage Deutschlands vermittelt seine Stiefmutter dem ungeliebten Sohn und auch dessen Frau eine Stelle. Der junge Familienvater arbeitet von nun an bei einem Goldschmied in Zürich, und Mame putzt und rackert sich – auch nach Röbis Geburt – für wenig Geld im Restaurant der Schwiegermutter ab. Trotzdem schenkt ihr diese über Jahre keine Zuneigung und Anerkennung.

Als Röbi noch keine sieben Jahre alt ist, stirbt sein Vater. Ihm wird zu Unrecht nachgesagt, dass er, der Ausbildner der Lehrlinge, im Betrieb Goldstaub gestohlen habe. Schon wenig später stellt sich heraus, dass die Lehrlinge das fehlende Edelmetall versteckt hatten. Was für die Heranwachsenden ein harmloser Streich ist, hat für den Vater fatale Folgen, denn das Bekenntnis der Lernenden erreicht ihn nicht mehr.

Röbis Vater kommt durch seine Arbeit leicht an Zyankali, weil es für den chemischen Prozess beim Vergolden eingesetzt wird. In seiner Verzweiflung, die er vor seiner Familie verheimlicht, packt er sich etwas vom Gift ein und nimmt es mit, als er eines Samstagmorgens aus dem Haus geht … An seinem Arbeitsort kommt er nie mehr an.

Schock und Trauer schweißen die zurückgebliebene Kleinfamilie zusammen – prägen sie ein Leben lang. Die sogenannte Schande, die mit dem freiwilligen Ausscheiden des Vaters aus dem Leben über die Familie gekommen ist, hat zur Folge, dass sich die drei in ihren engsten Kreis zurückziehen; hier finden sie Halt, weil man sich gegenseitig vertraut. Aber auch hier ist man wortlos gegenüber dem tragischen Ereignis.

Noch heute spricht Röbi lieber nicht darüber und verdrängt zu einem Teil, was dies für sein Leben bedeutet hat.

Röbi kenne ich inzwischen seit fast zehn Jahren. Wir führten, auch zusammen mit Ernst, schon manch vertrautes Gespräch. Aber erst jetzt, nach mehreren Wochen intensiver Interviewsitzungen, fokussiert auf das Buchprojekt über die biografische Zeitgeschichte der beiden, erfahre ich – fast per Zufall –, dass der Grund für Röbis Aufwachsen als Halbwaise ein anderer ist als der in der bis anhin von ihm vage erzählten Version einer Grippeerkrankung mit tragischem Ende.

Nun, da ich weiß, weshalb Röbi ohne seinen Vater aufgewachsen ist, frage ich ihn: »Hast du dich damals dafür geschämt, dass sich dein Vater umgebracht hat?«

Röbi: »Ja. Damals war es ein wenig so. Wie soll ich es dir sagen – wir haben uns geschämt, obwohl wir uns dafür nicht hätten schämen müssen. Wir wollten es den Leuten einfach nicht erzählen. Für Mame, meine Schwester Hedi und mich war es ein Schock, einfach unfassbar. Wir wussten nicht, wie weiter. Ich war zu klein, um alles zu realisieren. Als Kind hatte ich deshalb kein schlechtes Gewissen – wie hätte ich Vater auch davon abhalten können?!«

Röbi erinnert sich noch heute »ganz genau«, wie er, Mame und Hedi in der Abdankungshalle zusammen in der vordersten Bankreihe sitzen. Vor ihnen der Sarg und dahinter das Türlein, das sich öffnet … Darin das Feuer, in das der im Sarg liegende Vater geschoben wird. Röbi sagt: »Weißt du, wir saßen zuvorderst, der Sarg verschwand hinter dem Türlein, und wir wussten, jetzt wird Vater verbrannt. Das sehe ich noch heute plastisch vor mir.«

Mit dem Tod des Vaters legt sich über die Familie eine tiefe Trauer, deren Schwere auch auf Röbi lastet, der damals vor allem die Spaziergänge vermisst, die sie als Familie an den Sonntagnachmittagen unternahmen.

Auch Ernst erwähnt in unseren Gesprächen nie etwas zum Tod von Röbis Vater, obwohl ich diese fast immer mit jedem der beiden einzeln führe. Weil ich das Männerpaar so gut kenne und weiß, dass Röbi fast immer verstummt, wenn Ernst zum Reden ansetzt, wählte ich bewusst das Einzelinterview. Während all der Monate, in denen ich Röbi und Ernst für meine Recherchen besuchte, zogen wir uns jeweils zu zweit ins Gästezimmer zurück und unterhielten uns bei geschlossener Tür.

Beide fanden diese Vorgehensweise gut; Ernst besonders, da er seine Schwäche nur allzu gut kennt. Als ich ihn einmal frage, ob sie einander jeweils nach meinem Weggehen erzählen würden, worüber wir gesprochen haben, verneint er dies vehement: »Nein, das machen wir nicht; dies wäre ja nicht in deinem Sinne, wenn wir alles, indem wir darüber reden, aufeinander abstimmen und uns so neutralisieren würden.« Stimmt, dies könnte sehr wohl geschehen – gerade bei Röbi, der sich, seitdem sie ein Paar sind, immer wieder an Ernst orientiert.

Sowohl mit Ernst als auch mit Röbi rede ich jeweils auch über das Leben des andern. Denn mich interessiert, neben ihrer Lebensgeschichte, welche Gedanken sich der eine über gewisse Situationen seines Partners macht. Und dies erfahre ich nur, wenn ich die beiden unabhängig voneinander befrage.

Deshalb kann ich nun mit Ernst, nachdem mir Röbi den Grund des frühen Todes seines Vaters anvertraut hat, die Selbsttötung thematisieren. Zuvor analysierte Ernst Röbis vaterloses Aufwachsen nur, wenn ich danach fragte. So ist Ernst. Er ist achtsam und respektiert Röbis Art. Er erzählt nichts, was seinen Partner verletzen könnte. Ernst redet also erst darüber, als ich von Röbi vom Freitod weiß und ihn deshalb direkt darauf ansprechen kann: »Hast du eine Erklärung, weshalb Röbi nie den Suizid seines Vaters erwähnte?«

Nach kurzem Überlegen sagt Ernst: »Ich brauche ausnahmsweise das Wort Selbstmord; Selbstmord macht man nicht.« Dabei betont er das »man« bewusst und fast mit einem Ausrufezeichen und fährt weiter: »Wer jedoch Selbstmord beging, übertrug seinen Angehörigen eine Schuld, eine Art Sünde. Dies war damals noch sehr tief im Bewusstsein der Menschen verankert. Und dies brachte es mit sich, dass die Tat versenkt wurde – heute würde man dazu sagen: verdrängt. Sie war zwar immer da, aber man sprach nicht darüber. Es war fast eine Familienschande. Vor allem Mame fragte sich immer: Warum? Warum? Warum? Sie kam nicht darüber hinweg. Einmal erzählte sie mir die Geschichte ihres Mannes. Ich wies sie darauf hin, dass es, so wie sie mir die Situation schildere, möglich sei, dass ihr Ehemann in einer Depression gewesen war und es deshalb nur noch einen Auslöser wie den Vorfall mit dem Goldstaub gebraucht hatte, um die Tat zu begehen. Er hatte sich vermutlich in eine Art Verzweiflung gesteigert, die keine andere Lösung zuließ, als das Leben zurückzugeben.«

Jedenfalls, das erzählen sowohl Röbi als auch Ernst unabhängig voneinander, litt die Mutter ihr Leben lang darunter. In den Wochen um den Todestag sei sie jeweils besonders still geworden und habe auf Nachfragen zur Antwort gegeben, dass es halt wieder einmal »diese Tage« seien.

Damit ist Röbi aufgewachsen – mit diesem Schweigen und Verdrängen, mit dem man vermeintlich die Mutter und sich selber schonen will. Zum einen Stigma kommt, noch lange vor dem Entdecken der anders gelebten Sexualität, ein zweites. Wie Vater und Mutter hat auch Röbi einen deutschen Pass, obwohl er hier geboren, aufgewachsen, integriert ist und akzentfrei Mundart spricht. Doch Deutsches ist 1937, als sich Röbis Vater umbringt, für die Schweiz bedrohlich, weil Hitlers Nazireich auf dem Weg zur Großmacht ist. Die vaterlose Familie Rapp wächst nun erst recht wie vielfach gewaschener Filz zusammen. Ohne einander wären sie verloren. Sie wissen und spüren, dass sie einander vertrauen dürfen. Sicherheit bietet ihnen – sowohl der Mutter wie auch den beiden Kindern – nur dieser innerste Zirkel. Röbi sagt: »Es war eine schwierige, aber auch wichtige Zeit.«

Die Mutter, die Alleinernährerin, spannt fürs Geldverdienen auch Tochter und Sohn ein. Röbi ist schon als Siebenjähriger, noch vor Beginn des Schulunterrichts, für den Bäcker unterwegs und liefert mit dessen Fahrrad und Anhänger der Kundschaft, was diese bestellt hat. Anschließend geht er zur Schule, im Tornister seine Hausaufgaben, für die ihm, wenn überhaupt, nur wenig Zeit geblieben ist und die er deshalb nur rudimentär machen kann.

Und Mame putzt und wäscht nach wie vor bei der Stiefschwiegermutter und in den Haushalten von deren zwei verheirateten Töchtern. Da diese Einnahmen bei weitem nicht reichen, hat sie am Schauspielhaus noch zusätzliche Arbeit als Garderobiere angenommen. Röbi erinnert sich noch gut an diese Zeit: »Sie arbeitete den ganzen Tag, kam dann nach Hause und sagte jeweils zu mir: ›Richte mir schnell ein Butterbrot, mach mir dies und jenes‹, damit sie abends um sieben Uhr im Schauspielhaus pünktlich mit ihrer Arbeit beginnen konnte. Gewaschen und gepflegt stand sie jeweils im schwarzen Kleid an der Garderobe.«

An einem Abend verdient sie aber nicht mehr, als Röbi den Eintritt auf der Kunsteisbahn Dolder kosten würde. Deshalb ist dieses Vergnügen rar, so wie andere auch. »Ich konnte auch nicht wie andere Kinder an die ›Chilbi‹«, erzählt er ohne Gram.

Röbis Mutter ist als Garderobiere beliebt. Auch der emigrierte deutsche Schriftsteller Thomas Mann und dessen Ehefrau Katja Mann schätzen ihre Aufmerksamkeit und übergeben ihre Mäntel lieber ihr als anderen. Die Wartezeiten füllt die Mutter, indem sie Pullover strickt, für die eigene Familie und für ein kleines Entgelt auch für Mitarbeiter des Schauspielhauses. Dabei lernt sie unter anderen dessen Direktor Oskar Wälterlin sowie die Regisseure Leopold Lindtberg und Kurt Hirschfeld persönlich kennen. Einmal fragt Lindtberg die Garderobenfrau, ob ihre Kinder für einen kleinen Zustupf als Statisten eingesetzt werden könnten.

Und so wird die Not der Familie mit einem Mal Röbis große Chance. Denn Röbi, der talentierter ist als die Schwester, wird nicht Statist, sondern Kinderschauspieler. Sein erster Auftritt ist 1938 in Goethes »Götz von Berlichingen«. Es ist die Geschichte eines Burgherrn und Freiheitshelden, der sich über die Stände hinwegsetzt und den Bauern hilft.

Noch heute besitzt Röbi das Programmheft. Er zeigt es mir mit Stolz, der durchaus berechtigt ist. Die Hauptrollen sind besetzt von Heinrich Gretler und Lotte Lieven. In der Auflistung der bekannten Schauspieler wird auch Robert Rapp als »Karl, der Sohn« prominent aufgeführt.

Als Achtjähriger steht er bei der Premiere am 22. Oktober 1938 auf der Bühne. Die Spannung im Publikum ist spürbar – vor dem Hintergrund von Hitlers bedrohlich größer werdenden Macht klatscht es jedes Mal frenetisch und ruft »Bravo!«, wenn das Wort »Freiheit« aus dem Mund des Titelhelden zu hören ist, dessen Sohn Röbi spielt.

Mich schaudert, als ich die Situation vor mir sehe – Röbi, noch ein Kind, das durch den tragischen Tod des Vaters Teil dieser geschichtsträchtigen Situation auf kleinstem Raum wird: Der Knabe mit deutschem Pass sowie emigrierte Schauspielerinnen und Schauspieler, für die das Zürcher Theater während des Krieges als zensurfreie deutschsprachige Bühne Überlebensinsel ist, stehen vor einem Publikum, das sich mit seinem Applaus lautstark zum Inseldasein der Schweiz und zu deren Eigenständigkeit bekennt.

Als Kurt Hirschfeld und Oskar Wälterlin 1940 auch noch für ein Filmprojekt einen Knaben suchen, kreuzen sie erneut bei ihrer pulloverstrickenden Garderobiere auf und fragen sie nach ihrem Sohn. Da sie weiß, was Röbi die Theaterwelt bedeutet, darf er zu Probeaufnahmen ins Filmstudio. Er wirkt in allem, was er auf Anhieb interpretiert, so überzeugend, dass schnell klar wird, dass er für diese Hauptrolle im Schweizer Film »Das Menschlein Matthias« unter der Regie von Edmund Heuberger die ideale Besetzung ist. Einzig sein femininer Schritt muss durch Üben der Knabenfigur Matthias angepasst werden. Röbis Augen leuchten, wenn er darüber spricht: »Das war keine Frage: Die Rolle bekam ich – das war meine Welt.« Und er fügt zur Bestätigung hinzu: »Sie ist es bis heute geblieben.«

Nach den Probeaufnahmen folgen die eigentlichen Filmarbeiten für den Schweizer Film »Das Menschlein Matthias«, der Röbi definitiv zum Kinderstar macht. Er spielt als Matthias an der Seite von Leopold Biberti, Walburga Gmür und Sigfrit Steiner den unehelichen Knaben einer mittellosen Mutter, der unter der strengen Obhut seiner Tante aufwachsen muss, bis er es nicht mehr aushält und zu seiner Mutter flieht.

Der Zehnjährige ist in seiner Rolle, auch im inzwischen knabenhaften Gang, so authentisch, dass die Großmutter, die Stiefmutter seines verstorbenen Vaters, am Ende der Premierenvorführung in einen Heulkrampf ausbricht. Röbi sagt: »Als sie sah, wie ich im Film von der Tante geschlagen werde, hat sie es nicht ertragen. Es ging ihr zu nahe, weil sie meinen Vater auch ungerecht behandelt hatte, einfach auf eine andere Art. Aber er war immer der Sündenbock.«

Wenn Röbi über die Zeit von damals erzählt, weist er immer wieder darauf hin, dass er, damals noch ein Drittklässler, von den Schauspielern – auch von Therese Giehse oder Maria Becker – bereits wie ein Erwachsener behandelt worden sei. Sie hätten ihn ernst genommen: »Wir waren alle zusammen, inklusive der Frauen an der Garderobe, praktisch eine einzige große Familie.«

Wie wichtig Röbi die Akzeptanz der Schauspiel-Familie ist, wird mir erst recht bewusst, als er sich zum Büchergestell wendet und diesem ein eben erst erschienenes Buch über den damaligen langjährigen Direktor des Zürcher Schauspielhauses entnimmt. Der Biograf von »Oskar Wälterlin und sein Theater der Menschlichkeit«2, der Wälterlin als »einen der bedeutendsten Protagonisten des deutschen Theaters« beschreibt, hat während des Entstehungsprozesses des Buches auch Röbi zu Wälterlins Zeit in Zürich befragt. Nun öffnet es Röbi an der mit einem Zettel markierten Stelle und sagt, hier stehe nun erstmals schwarz auf weiß, dass er, Robert Rapp, als »Schweizer Schauspieler« zum Ensemble gehört hatte. Diese Erwähnung, die vor allem Anerkennung bedeutet, macht Röbi stolz. Er erzählt mir in diesem Zusammenhang, dass diese Zeit für ihn zugleich auch eine Lehre fürs Leben gewesen sei. Er sagt: »Ich lernte Disziplin, Verantwortung übernehmen, eine gute Aussprache und mich in verschiedene Personen einzuleben.«

Nach den ersten Erfolgen auf der Bühne und im Film ist Röbi definitiv beseelt von der Schauspielerei, wo es für ihn keine Grenzen gibt. Er tanzt und singt, hat weitere Auftritte, auch im Stadttheater – dem heutigen Opernhaus. Bei dessen erstem künstlerischem Leiter, Willi Haeusslein, nimmt er Gesangsunterricht.

Auch zu Hause lebt er seine Leidenschaft und schenkt dabei Mame und Hedi – aber auch sich selber – immer wieder gemeinsame Momente des Glücklichseins, während deren sie wenigstens vorübergehend vergessen können, dass sie das Leben ohne Vater und Ernährer auszuhalten haben. Am liebsten interpretiert der stimmlich geschulte Röbi die Königin der Nacht. Er liebt es, sich für die große Sopranrolle aus Mozarts »Zauberflöte« entsprechend feminin zu bewegen und zu kleiden. Ihren Part kann er auswendig. »Die beiden Arien sang ich wunderbar, mit allen Koloraturen. Ich sang sie auch alleine für mich.«

Das Feminine, das Röbi schon im Kindesalter eigen ist, bringt ihn auf mädchenhafte Ideen. Er erzählt von seiner schwarzen Pelerine mit Kapuze und der damit ermöglichten Verwandlung: »Wenn ich sie als Regenschutz trug, sah ich darin wie ein Zwerglein aus. Ich wickelte sie aber meistens um die Hüfte. Das sah dann aus, als würde ich einen langen Rock tragen, ein langes Abendkleid. So ging ich auch zur Schule.«

Röbis Mutter findet daran nichts Verwerfliches. Sie unternimmt nichts, um ihrem heranwachsenden Sohn das weibliche Verhalten abzugewöhnen. Sie ist tolerant und akzeptiert ihn, so wie er sich wohlfühlt. Deshalb erstaunt es auch nicht, wenn Röbi, im Tonfall schon fast zärtlich, nur liebevoll von seiner Mutter spricht. Er sagt: »Mame sah es nicht so gerne, wenn ich wie ein Mädchen durch die Stadt ging. Aber sie hat es mir nie verboten.«

Ernsts Welt ist eine komplett andere. Er wächst in einer Familie auf, in der genügend Ressourcen vorhanden sind, um Ernsts Neugier zu fördern. Der Vater gibt seinem Kind mit den vielen Fragen bereits als Zweitklässler die »Neue Zürcher Zeitung« zum Lesen mit dem Nachsatz, dass nicht jede Zeitung über dasselbe gleich berichte, er solle vergleichen und sich eine eigene Meinung bilden. Trotz des differenzierten Eingehens auf die Sache erfährt Ernst allerdings schon früh, dass ihm die größte Sicherheit nur die eigene Welt bietet, weil er so anders ist und fühlt als andere.

Das permanent hinterfragende Kind, das im Gegensatz zum geistig wie auch handwerklich begabten Vater und zum um zwei Jahre jüngeren Bruder zwei linke Hände hat, wird von der Familienwelt nur teilweise verstanden. Die Eltern sind mit ihm, so wie er ist, spürt und denkt, überfordert – und zwar schon lange bevor er realisiert, dass seine aufkeimende Sexualität eine andere ist als die gesellschaftlich akzeptierte.

Familie Ostertag ist Mitglied der evangelikalen Oxfordgruppenbewegung, einer religiösen Bewegung, die davon ausgeht, dass der Mensch ein Sünder ist und die Voraussetzung für Vergebung das Sündenbekenntnis sein muss. Im Elternhaus wird diese moralische Vorstellung täglich praktiziert.

Aber Ernst empfindet dies als Enge. Schon als kleiner Knabe sucht er Weite, wenigstens eine bildhafte, träumerische, geistige. Auch weil er sich gegen seine körperliche Einengung, gegen seine erdrückenden Kopfschmerzen, die ihn fast täglich bedrängen, nicht wehren kann. Deshalb geht es ihm am besten, wenn er mit sich alleine sein kann – in der Stille, abgeschirmt vom grellen Licht, im eigenen Zimmer oder unter den Bäumen des nahe gelegenen Friedhofs. Alleine, im Schutz vor Grelle und Lärm, kommt er auf Erkenntnisse, die in der Erwachsenenwelt keinen Platz haben. Er wählt darum die Strategie, dass es genügt, wenn er der Einzige ist, der davon weiß.

Ernst erzählt ein Beispiel: »Am Familientisch wurden jeweils täglich gemeinsame Gebetsübungen praktiziert: Ein Stuhl blieb leer, dort saß ›Herr Jesus‹. Man gab sich die Hand. Man hatte einen Bleistift und einen Zettel vor sich, auf den jeder fünf Punkte aufschreiben musste, wogegen er oder sie verstoßen hatte. Die fünf Vergehen, zum Beispiel Unehrlichkeit, beichtete man vor allen, und zusammen legte man sie ad acta. ›Herr Jesus‹, der dabeisaß, vergab jedem Einzelnen. Ich konnte damals als Sechsjähriger noch nichts aufschreiben. Aber ich wusste sowieso nichts zu beichten. Für meine Eltern ging dies nicht. Sie sagten, ohne Beichte könne mir Herr Jesus nichts vergeben. Da hatte ich plötzlich die erlösende Idee: Wenn Herr Jesus unter uns war, konnte ich es ihm selber sagen und brauchte die andern nicht dazu. Wenn er hier auf diesem leeren Stuhl saß, dann sah er ja sowieso alles. Und ich beschloss, fünf ›Vergehen‹ zu beichten, die alle erfunden und erlogen waren. Ich zählte sie auf, und die Eltern waren zufrieden. Sie sagten: ›Du bist ein braver Bub.‹ Daraufhin wurde mir vergeben. Ich wusste aber, es waren alles Lügen. Ich wartete, dass etwas passierte. Denn wenn es Jesus gab, würde er mich jetzt bestrafen. Doch es geschah nichts. Ich rannte über die Straße – und kein Auto überfuhr mich. Ich kletterte auf den Baum im Garten – und ich fiel nicht runter. Es passierte einfach nichts. Da wusste ich: Diesen Jesus gibt es gar nicht.«

Geschichten, die dieser ähnlich sind, gibt es im Leben von Ernst viele. Es wundert mich deshalb auch nicht, dass Ernst bereits als Knabe an vielem zweifelt, sinnend nach seinen Antworten sucht, sich dahinter aber noch sehr viel mehr Fragen eröffnen. Dies geschieht auch auf dem Weg in die Schule – er lässt sich von allem ablenken und verpasst dadurch fast regelmäßig den Beginn der ersten Lektion. Die Lehrerin will ihn dafür nicht bestrafen und holt ihn deshalb zu Hause ab, in der Hoffnung, dass er, zusammen mit ihr, die Distanz zeitlich schafft. Doch ihr fürsorgliches Handeln ist zum Scheitern verurteilt. Denn Ernst, der wache Schüler, löchert nun unterwegs auch die Lehrerin mit all seinen Fragen, welche mit ihrer Beantwortung sogleich wieder neue Felder auftun. Und weil sie, die Pädagogin, auf alles eingeht, kommen letztlich beide zu spät. Nach kurzem bricht die Lehrerin das Experiment wieder ab.