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Ernst Wyrsch

Mit Herzblut

Vom Gastgeber zum Glücksbringer

Aufgezeichnet von Franziska K. Müller

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Nachdem der Unterländer Ernst »Aschi« Wyrsch 1996 das Grandhotel Belvédère in Davos übernommen hat, avanciert das Fünf- Sterne-Hotel dank seiner ungewöhnlichen Führungsansätze und mutigen Entscheidungen innerhalb kürzester Zeit zur Drehscheibe der internationalen Prominenz. Im Rahmen des World Economic Forum (WEF) macht der Gastgeber Bekanntschaft mit vielen spannenden Menschen, darunter Bill Clinton, Muhammad Ali, Angela Merkel, Kofi Annan, Condoleezza Rice, Paulo Coelho, Nelson Mandela, Sharon Stone, Richard Gere, Tony Blair oder Bill Gates. Mit fünfzig, auf dem Zenit seines Erfolges, entschließt er sich, neue Wege zu gehen. Er verlässt das »Belvédère« und macht sich – unterstützt von seiner Frau – zu neuen Ufern auf. Heute sieht er seine Zufriedenheit vor allem in der Haltung, »von allem weniger zu wollen«, und zeigt im Rahmen von Seminaren und Vorträgen auf, wie seine Erfolgsgeheimnisse als Fünf-Sterne-Hotelier im beruflichen wie auch im privaten Alltag umgesetzt werden können.

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des

© 2012 Wörterseh Verlag, Gockhausen

Lektorat: Claudia Bislin, Zürich

Print ISBN 978-3-03763-026-6

www.woerterseh.ch

Für Sylvia, Sandro und Jessi

»Es gibt keinen Weg zum Glück –
Glücklichsein ist der Weg«

Siddharta Gautama

Inhalt

Über das Buch

Vorwort

Vom Gastgeber…

Eiliger Abschied

Weniger wollen

Katzen im Schnee

Das ist es

Wanderjahre

Sylvia

Im Zauberschloss

Erfolgsjahre

Die Welt zu Gast

Dunkle Wolken

Neues Glück

… zum Glücksbringer

Optimisten-Gen?

Nachhaltige Führung

In Kürze

Dank

Nachwort

Quellennachweise

Über den Autor

Über die Ghostwriterin

Leseempfehlungen

Vorwort

November 1998 – mein erster Arbeitstag im Steigenberger Grandhotel Belvédère in Davos – und die Begegnung mit meinem neuen Vorgesetzten: ein Mensch Mitte dreißig, ein Schulbubengesicht, umrahmt von lockigen Haaren, steht er im Freien vor dem breiten Hoteleingang, sieht überhaupt nicht aus wie ein Generaldirektor. Der Schein trügt, die Zukunft hat mir das bewiesen. Ernst Wyrsch. Wie ein Blitz schlug er ein, ein Blitz, der mein zukünftiges Leben veränderte. Zwei Minuten später rettete ich ihm das Leben. In seinen hübschen Schuhen mit den glatten Ledersohlen rutschte er aus und flog über die vereiste Außentreppe, ich reagierte sofort, und er, er landete in meinen Armen. Meinem Instinkt als Bergführer war es wohl zu verdanken, dass ich ihn auffangen konnte und er sich nicht das Genick brach.

Das war der Beginn einer Freundschaft. Damals ahnte ich nicht, dass aus den geplanten vier Monaten im Grandhotel vierzehn Jahre werden sollten. Nicht weil das »Belvédère« das schönste Hotel ist, nein, nein, es gibt schönere. Aber – es gibt nur einen Ernst – »Aschi« – Wyrsch. In den vielen Jahren teilten wir Arbeit und Sorgen und verbrachten auch die Freizeit oft miteinander. Ich fand nicht nur einen tollen Chef, sondern vor allem einen gradlinigen und aufrichtigen Menschen. Seine direkte Art wurde von einigen als heftig empfunden, und manchmal steckte in seinem Samthandschuh eine eiserne Faust. Neinsager hasste er, halb leere Gläser gab es bei ihm nie. »Ich kann nicht«, »Ich weiß nicht« hatte er aus seinem Wortschatz und demjenigen seiner Mitarbeiter gestrichen. Sein Slogan lautete: »Wir machen Unmögliches möglich«. Furchtlosigkeit zeichnete ihn aus: Welcher Neuling aus dem Unterland übernimmt schon ein HC-Davos-Präsidium? Wer revolutionierte den Davoser Sommer mit seinen Wander-, Jazz- und Golfwochen, wer machte aus einem maroden Betrieb eines der besten, wenn nicht das beste Ferienhotel der Schweiz? Und wer kann Mitarbeiter motivieren, die schon zweiundzwanzig Stunden auf den Beinen stehen? Aschi!

Einen Menschen wie Ernst Wyrsch in allen Facetten beschreiben zu wollen, ist beinahe unmöglich und vielleicht auch unnötig. Nur so viel: Was mühelos aussieht, ist hart angeeignete Selbstdisziplin, mit schwer durchlebten Stunden, mit Hochs und Tiefs, wie es sie in jedem anderen Leben auch gibt. Was er mir und anderen Weggefährten vermittelt hat, ist positives Denken, die Sicherheit, dass man gesteckte Ziele mit eisernem Willen erreichen kann, und: den Glauben an sich selbst.

Ein Freund, ein Mensch, ein Chef im wahrsten Sinne des Wortes.

Hans Escher, Arosa, im Juli 2012

Vom Gastgeber…

Eiliger Abschied

Es ist ein überstürzter Abschied; von einem Leben und jenen Menschen, die mir fünfzehn Jahre lang alles bedeutet haben. Hans umarmt mich. Ich blicke dem Chef-Concierge in die Augen und sehe eine Träne. Seit ich die Leitung des Steigenberger Grandhotels Belvédère in Davos übernommen hatte, begleitete mich der zweiundsechzigjährige Walliser durch einen aufregenden Alltag. Von drahtiger Statur, der blonde Haarschopf gelichtet, das Gesicht von Wind und Wetter gegerbt, trägt mein Freund auch heute die makellose Dienstuniform mit den winzigen goldenen Schlüsseln am Revers: Es sind die Abzeichen eines stolzen Berufsstandes.

Während meine hundertzwanzigköpfige Crew dauernd in Bewegung ist, um die reibungslosen Abläufe im Grandhotel zu garantieren, nimmt Hans in seiner Loge aus lackiertem Arvenholz die Gäste in Empfang. Immer anwesend und ansprechbar, weiß er genau, wann seine Teilnahme am Glück oder am Unglück erwünscht ist, und während sich andere in Problemen verlieren, stellt Hans als aufmerksamer Zuhörer nur wenige Fragen, die bereits eine pragmatische Lösung andeuten. Kleine und große, extravagante und rätselhafte Wünsche erfüllt er im Verlauf seiner Berufskarriere tausendmal. Egal, ob ein Hotelgast in Jahrgangschampagner baden will, jemand nur einschlafen kann, wenn echte Kunstwerke eines bestimmten Malers im Wert von einigen hunderttausend Franken an den Wänden hängen, ein vergessen gegangenes Parfüm aus Paris eingeflogen werden muss oder ein Gast ausschließlich Lebensmittel in der Farbe Grün isst: Sobald »Monsieur le Concierge«, wie ihn manche ehrfürchtig nennen, seine Kontakte spielen lässt, sind solche Anliegen innert weniger Minuten organisiert.

Seine Geduld hat durchaus Grenzen. Erscheint ihm ein Verhalten zu kapriziös oder widerspricht es seinem Moralkodex, erklärt er in einem Tonfall, der keine Widerrede zulässt: »Das geht so nicht.« Hans Escher begegnet dem Bauarbeiter und der Putzfrau mit dem gleichen Respekt und derselben Autorität wie einem Fürsten oder einem Präsidenten. Als Bergführer leitet er auch Wandertouren mit prominenten Gästen, und wenn ihm eine Prinzessin die Skier entgegenhält, damit Hans diese tragen möge, antwortet er, ohne eine Miene zu verziehen: »In den Bergen transportieren nur behinderte Menschen ihre Sportausrüstung nicht selber.« Wie kein Zweiter verkörpert Hans auch meine Philosophie: Dass man sich von Äußerlichkeiten nicht blenden lassen soll und dass so altmodische Werte wie Authentizität und Vertrauen in andere Menschen wichtigere Faktoren auf dem Weg zum Erfolg sind, als manche denken mögen.

Hans’ Charisma liegt in der Kombination von Ernsthaftigkeit und Optimismus, von Selbstbewusstsein und ehrlichem Interesse für Menschen und ihre Bedürfnisse. Seine Unbestechlichkeit und Loyalität schätzen die Mächtigen und Reichen ebenso wie manches unbekannte Sorgenkind, das ihm morgens um vier Uhr das Herz ausschüttet. Hans bringt uns Hunderte von wiederkehrenden Stammgästen und erhält pro Jahr mindestens zehn ernst gemeinte Heiratsanträge von weiblichen Gästen. Mein Freund verfügt über eine so attraktive Persönlichkeit, dass ich ihn im Scherz auch schon »Menschenfänger« nannte. Es steckt keine kalkulierte Absicht dahinter. »Ich bin einfach so, wie ich bin«, pflegt er auf die Frage nach seinem Erfolgsgeheimnis zu antworten. Auch die Männer finden ihn toll. Letzten Sommer legte er ein geprägtes Schriftstück auf den Tisch. »Von Nicolas Sarkozy«, informierte er mich, nicht sonderlich beeindruckt. Es handelte sich um eine private Einladung. Hans begeisterte den französischen Exstaatspräsidenten, als dieser dem sperrigen Bergler vor vielen Jahren zum ersten Mal begegnete. Sarkozy war ein unbekannter Minister, der zu nächtlicher Stunde gern für einen Schwatz beim perfekt französisch parlierenden Hans auftauchte. »Damals kopierten wir ohne Bodyguards zusammen die Protokolle«, erinnert sich Hans wehmütig an diese informellen Zusammentreffen, um im gleichen Atemzug zu erwähnen, dass sich zu seiner Freude auch die »schöne Christine« wieder bei ihm gemeldet habe. Ebenfalls ein Gast aus frühen Zeiten, hält Christine Lagarde, »die mächtigste Frau der Welt«, wie ein deutsches Magazin die IWF-Chefin kürzlich nannte, dem »Belvédère« – oder viel eher Hans? – die Treue.

Hans, aber auch meine anderen Mitarbeiter werden mir fehlen. Obwohl mein Abgang von langer Hand vorbereitet war, überschlugen sich die Ereignisse in den vergangenen Stunden. Der Wille, nach vielen erfolgreichen Jahren als Hotelier zu neuen Ufern aufzubrechen, hat verschiedene Gründe. Mit zunehmendem Alter scheint es mir unmöglich, weiterhin in der Komfortzone eines hochrentablen und geliebten Unternehmens zu verharren, das mir langfristig keine neuen Erlebnisse, keine Herausforderungen, keine Voraussetzungen für mein Bedürfnis nach einem anderen Glück bieten kann. Der wunderbare, glamouröse und leichtlebige Kosmos des Grandhotels war mein ganzer Lebensinhalt, und doch entwickelte ich mich als Persönlichkeit weiter, befinde mich heute in der sogenannten Mitte des Lebens, interessiere mich mit zunehmender Passion für andere Themen als in jungen Jahren.

Man soll gehen, wenn es am schönsten ist. Dieser Satz gefiel mir immer sehr gut und bedeutet für mich, dass ich mich ohne Furcht auf etwas Neues einlassen will, dessen Ausgang ungewiss ist. Im Rahmen von Seminaren, Coachings und meiner Dozententätigkeit an der Business School St. Gallen will ich meine Erfahrungen künftig jenen weitergeben, die auf der Suche nach einem gelingenden Leben sind. Grundsätzliche Überlegungen gehen also meiner Demission voraus, die ich der Steigenberger Gruppe im Januar 2011 unterbreite. Während einer neunmonatigen Übergangsfrist will ich meinen Nachfolger sorgfältig einarbeiten und alle nötigen Vorkehrungen für den Betrieb treffen, die mit meinem Weggang verbunden sind, und nicht unwichtig: Ich will die verbleibende Zeit nutzen können, um meine Zukunft in groben Zügen zu entwerfen und genauer zu planen.

Mit dem Tag meiner Kündigung verändert sich jedoch einiges, und die Eigendynamik dieses Prozesses zeigt mir, dass im Hintergrund schon länger dunkle Kräfte wirken, von denen ich – der selbsternannte Glücksritter – nichts ahne: In den vergangenen Jahren erarbeitete ich mir hinter den Kulissen des Großkonzerns offenbar den Ruf eines renitenten Erfolgsmenschen, denn an den jährlichen Generaldirektorenmeetings in Frankfurt nehme ich nie ein Blatt vor den Mund. Fünfzehn Jahre lang thematisiere ich Missstände aller Art und melde so manchen Zweifel an neuen Führungsgrundsätzen an. Die Konzernleitung schluckt meine jeweils ungeniert vorgebrachte Kritik kommentarlos, ebenso mein Beharren auf Prinzipien, die den neuen Managern eines global denkenden Unternehmens suspekt sein müssen. Und oft spreche ich im Namen der weniger erfolgreichen Hoteldirektoren der Steigenberger Gruppe, die mich jeweils bitten, ihre Anliegen zu vertreten, da sie sich aus Furcht vor negativen Konsequenzen lieber im Hintergrund halten.

Vielleicht schmeichelt es meinem Selbstbewusstsein, auf jeden Fall scheinen alle zu wissen, dass sich die Konzernspitze meine Kritik – angesichts der unbestrittenen Erfolgsgeschichte des Grandhotels Belvédère – zumindest anhören muss: Den Umsatz konnten wir innert weniger Jahre von rund sieben Millionen auf sechzehn Millionen Franken steigern. Mit einem Return on Investment (ROI) führten wir zweimal Sanierungen im Gesamtwert von rund dreißig Millionen Franken durch und steckten danach jedes Jahr über eine Million Franken allein in die laufenden Unterhaltsarbeiten. Die finanziellen und ideellen Investitionen machten aus dem über hundertjährigen Komplex – der sich bei meiner Übernahme im Jahr 1996 in einem mehr als verlotterten Zustand befunden hatte – eines der exklusivsten Fünf-Sterne-Häuser der Schweizer Bergwelt. Während des World Economic Forum (WEF) dient das »Belvédère« als Zentrum des gesellschaftlichen Lebens, vor allem aber als Unterkunft für die wichtigsten Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur, die jeweils Anfang Jahr in Davos eintreffen, um im Rahmen des Wirtschaftsforums über die sogenannt dringlichsten Fragen der Welt zu beraten. Botschaften, Länder-Delegationen, Handelskammern sowie wichtige Werbepartner veranstalten für die handverlesenen VIPs zudem Hunderte von rauschenden Partys, die außerhalb des gut geschützten Kongresshauses stattfinden und ebenfalls von uns organisiert werden.

Ich kündige nicht wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem Konzern, obwohl ein eisiger Wind durch die Teppichetagen weht, seit die Familie Steigenberger, mit der mich nach wie vor ein freundschaftliches Verhältnis verbindet, die Betriebsrechte 2009 an eine ägyptische Gruppe verkauft hat. Seither müssen die Führungskräfte nach einem global funktionierenden Konzept spätestens nach drei Jahren ausgewechselt werden. Auch enge Strukturen, die keinen Freiraum für persönliche Wünsche und Entwicklungsmöglichkeiten lassen, lehne ich ab – nicht nur für mich, sondern auch für meine über hundertköpfige Crew.

Ich sehe mich als Anti-Konzern-Menschen und fordere Individualität und Freiheit, denn sie bringt unter dem Strich die besten Resultate und die größten Erfolge. Den Mitarbeitern, so meine Erkenntnis, kann man grundsätzlich vertrauen, vorausgesetzt, sie erfahren Anerkennung. Enttäuscht wurde ich nur ganz selten. Die Zufriedenheit am Arbeitsplatz hängt maßgeblich mit der Autonomie jedes Einzelnen, aber auch mit seiner Wertschätzung durch den Arbeitgeber zusammen. Man kann nicht alle Mitarbeiter über denselben Kamm scheren, weil es verschiedene Wertvorstellungen, Stärken und Schwächen gibt, die berücksichtigt werden müssen, will man das volle Leistungspotenzial ausschöpfen. Die Gestaltung der Aufgaben nach individuellen Vorlieben und Abneigungen, die sogenannte werteorientierte Führung, ist nur in den Anfängen zeitraubend, danach bringt jeder Einzelne seine Höchstleistung mit dem Resultat, dass ich mein Team verkleinern kann, obwohl sich der Hotelbetrieb unter meiner Führung massiv vergrößert. Bei uns arbeitet zum Beispiel ein Tellerwäscher, der technisch dermaßen versiert ist, dass er sich in eine entsprechende Kaderposition hochgearbeitet hat, den Vormittag aber immer noch in der Küche verbringt.

Dieses Beispiel ist kein Einzelfall, und wenn wir für die Hotelgäste ein Jazzkonzert oder andere Attraktionen organisieren, gibt es für die Mitarbeiter und ihre Familien am Abend zuvor eine Sondervorstellung. Wellnessanlagen, Restaurants und Barbetriebe stehen meinen Mitarbeitern in der Freizeit immer offen – in anderen Hotels sind diese Orte für die Angestellten tabu. Ich sehe nicht ein, wieso meine Leute nicht gut genug sein sollten, um die Infrastruktur eines Fünf-Sterne-Hauses zu nutzen, das ohne ihre Arbeit nicht funktionieren würde. Vielen Mitarbeitern fühle ich mich freundschaftlich verbunden, meine Leute arbeiten, wenn es sein muss, zwanzig Stunden pro Tag und gehen für den Betrieb durchs Feuer. Dass ich sie gut bezahle und sie Freiheiten genießen, versteht sich von selbst. Austauschbar zu sein und nach strikten Vorgaben zu arbeiten, ist mir seit je unsympathisch.

Ich halte es auch für eine miserable Idee, die individuellen Stärken eines Betriebs zugunsten von starren Richtlinien zu verändern, die in Luxor und in Davos gleichermaßen gelten müssen. Die Eigenständigkeit und die für einen Hotelbetrieb wichtige Authentizität gehen so zwangsläufig verloren, denn was als Konzept für diverse Flughafenhotels funktionieren mag, eignet sich für ein regional verankertes Berghotel nicht a priori. So predige ich es an den Generaldirektorenkonferenzen und frage jedes Mal: »Geht man lieber zu Menschen oder zu Konzepten in die Ferien?« Von den ungeliebten Neuerungen und Veränderungen, mit denen vor allem jene Hoteliers der Gruppe zu kämpfen haben, die mich mit meinem Einverständnis jahrelang für ihre Zwecke einspannen, bekommen wir in Davos nicht viel mit. Weil wir das beste Pferd im Stall sind, kann ich jeweils mit Fug und Recht darauf bestehen, so weiterzumachen wie bisher. Wie einst meine Mutter aus ihrem Landgasthof in Dottikon eine Marke gemacht hat, geben mein Team und ich dem Grandhotel eine Identität. Es klingt frech: Aber das »Belvédère« wurde erst als Wyrsch-Hotel zu einer Erfolgsstory.

Mit meiner Kündigung schlage ich der Konzernleitung einen möglichen Nachfolger aus meinem Team vor. Mein Vertrag soll noch bis Oktober 2011 laufen. Ich bitte um eine baldige Entscheidung, damit ich meine Leute informieren kann. Nach einigen Wochen frage ich in Frankfurt nach, man lässt mich wissen, eine sechsköpfige Delegation werde übermorgen anreisen. Dem überraschenden Treffen sehe ich mit Spannung und Freude entgegen. Allerdings wächst auch meine Unruhe, denn in Vorbereitung meiner baldigen freiberuflichen Tätigkeit habe ich mich für einen ersten Auftrag in Deutschland verpflichtet, den ich unmöglich absagen kann. Spätestens am Nachmittag des gleichen Tages müsste ich aufbrechen, will ich mein Reiseziel rechtzeitig erreichen. In Davos angekommen, informiert mich die Delegation, dass die Nachfolge noch nicht geklärt sei. Etwas anderes wisse man aber bereits jetzt, und zwar mit absoluter Sicherheit: Die Ära Wyrsch sei endgültig vorbei. Künftig werde alles über Frankfurt laufen.

Konkret bedeutet dies, dass mein Nachfolger in seiner Entscheidungsfreiheit eingeschränkt wird und die Zentrale in Deutschland sogar sämtliche Mitarbeiter einstellt. Die Festlegung der saisonalen Öffnungszeiten und die Preisgestaltung durch den Hotelier fallen dem neuen Plan zum Opfer, ebenso müssen fortan auch kleinste finanzielle Ausgaben abgesegnet werden, von Menschen, die Hunderte von Kilometern weit entfernt in Großraumbüros sitzen und unseren Hotelbetrieb überhaupt nicht kennen. Bisher genossen wir finanzielle Freiheiten – damit soll Schluss sein, was der Tod jener Ideen ist, die unseren Betrieb beflügeln und erfolgreich machen. Entscheide, die ich im Verlauf des Jahres hundertmal treffe, unbürokratisch, damit sie ohne Verzögerung umgesetzt werden können, sollen nun von verschiedenen Stellen geprüft und gutgeheißen werden. Der Hotelmanager – so wird angedeutet – kann neu aus Haiti oder China stammen. Solange sich diese Person den internen Richtlinien fügt, muss sie offenbar auch nicht wissen, wie der Tourismusdirektor von Davos heißt oder wie ein Käsefondue zubereitet wird.

Ich frage: »Wieso wirft man ein Erfolgsrezept weg, obwohl es perfekt funktioniert?« Die Antwort lautet: »Weil Sie den Betrieb führen, wie wenn es Ihr eigener wäre.« Was man als Kompliment verstehen könnte, ist natürlich keines. Mein Einsatz und die Identifikation mit dem Haus, die starke regionale Verbundenheit, mein breites Networking mit den Wirtschaftsvertretern und den Menschen von Davos hätten zu Abhängigkeiten geführt, die es in einem Großkonzern nicht geben dürfe, bescheren mir die sechs Männer aus Frankfurt mit todernsten Mienen. Ihre Absicht ist schnell durchschaut: In den verbleibenden Monaten soll ich meinem Nachfolger all jene Neuerungen aufdrängen, die sich niemals mit meiner Philosophie vereinbaren lassen. Dieses Ansinnen lehne ich kategorisch ab und bitte Minuten später um die sofortige Freistellung. Nach langen Diskussionen und nachdem sich die Delegation mehrmals zurückgezogen hat, wird mein Begehren Stunden später akzeptiert. Es schließt meine Frau Sylvia mit ein, die als Kodirektorin ebenfalls zentrale Funktionen bekleidet.

Die Konsequenzen meiner raschen Entscheidung, die mich, zumindest vorübergehend, in die Leere stoßen könnten, sorgen mich in der Hitze des Gefechts nicht. Etwas anderes schon. Zwischen den einzelnen und endlos scheinenden Sitzungen blicke ich mit zunehmender Nervosität auf die Uhr: Da das ganze Prozedere viel mehr Zeit beansprucht als gedacht, laufe ich Gefahr, meinen ersten Auftrag als selbständiger Coach zu vermasseln. Als sich die Delegation endlich verabschiedet, bleibt nicht einmal genügend Zeit, um alle Mitarbeiter über meinen sofortigen Weggang zu informieren oder mein Büro in Ruhe zu ordnen und zu packen. Hans verstaut eilig Erinnerungen und Geschenke in einen Umzugskarton, den er auf den Beifahrersitz meines Wagens stellt: Kristall-Aschenbecher, ein gravierter silberner Brieföffner, Champagnerflaschen mit den dazugehörigen Karten und Briefen, die am Anfang der Bekanntschaft mit »The President of the United States« unterschrieben waren, und als sich unsere Sympathie vertiefte, mit: »Yours, Bill Clinton«. Viele Tage später packe ich den Karton aus. In Zeitungspapier gewickelt, liegen zuunterst auch jene gerahmten Erinnerungen, die jahrelang auf meinem Pult im Grandhotel standen. Familienfotos, aber auch Bilder von Persönlichkeiten, die ich im Rahmen des Weltwirtschaftsforums traf: Kofi Annan, Tony Blair, Nelson Mandela, Sharon Stone, Richard Gere, Angela Merkel, Gordon Brown, Bischof Tutu und Bill Gates.

Weniger wollen

Als ich an diesem eisig kalten Vorfrühlingstag im März 2011 die prachtvolle Auffahrt des Grandhotels verlasse – ziemlich überstürzt einem neuen Leben entgegen –, blicke ich in den Rückspiegel und hupe dreimal kurz: Eilig zusammengetrommelte Mitarbeiter stehen winkend vor dem Eingang, zuvorderst hat sich Hans postiert, majestätisch hebt er die Hand zum Gruß. Dahinter sehe ich »mein« Hotel, das ich fünfzehn Jahre lang mit Herzblut geführt habe und das mir so unendlich viel bedeutete. Das über hundertjährige, schneeweiß gestrichene Gebäude mit dem angefügten Kuppelbau erhebt sich wie ein Märchenschloss, Schnee überzieht sein Dach mit Glitzerstaub. Es ist ein magischer Moment, ein Abschied für immer, und ich würde lügen, wenn ich behauptete, mein Herz habe in diesem Moment nicht geschmerzt. Gleichzeitig muss ich mich auf das Nächstliegende konzentrieren, zu Hause den bereits gepackten Koffer abholen, um die sofortige Weiterreise anzutreten. Mein Handy klingelt. Es ist Sylvia, die über den Verlauf der – wie sie findet – durch mich provozierten Aktion wenig begeistert ist. Genau gesagt, ist sie sehr aufgeregt und gleichzeitig am Boden zerstört. Ich versuche sie zu trösten: »Immerhin müssen wir nicht unter einer Brücke campieren, Schatz.« Der Scherz findet nur mäßig Anklang. Hätten wir unsere Generaldirektoren-Suite im »Belvédère«, die wir mit den Kindern lange Zeit bewohnten, nicht bereits vor Jahren geräumt, müssten wir nun auch sofort eine neue Bleibe suchen.

Riesige Schneemassen türmen sich zu beiden Seiten der schmalen Zufahrtsstraße, die zu unserem Chalet führt. Es dämmert bereits. Das Haus ist mit hellem Holz verkleidet, verfügt über unzählige Zimmer, die sich über mehrere Stockwerke verteilen, und die riesige Fensterfront mit der Terrasse gibt eine prachtvolle Aussicht ins Tal frei. Mein Zuhause. Allzu oft nahm ich es in den vergangenen Jahren nicht bewusst wahr. Wo sich in Davos der Coop befindet, weiß ich nicht. Metzgerei oder Bäckerei sah ich ebenfalls noch nie von innen. Meine und Sylvias Kochkünste erwiesen sich glücklicherweise als überflüssig, gegessen wurde im Hotel, und andere Haushaltspflichten nahm man uns ebenfalls ab. Als ich über den Rucksack meiner Tochter Jessi stolpere, ahne ich: Die kommenden Monate halten persönliche Herausforderungen bereit, wir werden uns aber auch vermehrt mit den praktischen Aufgaben auseinandersetzen müssen, die ein neuer Alltag mit sich bringt.

Bald fliegt die Dunkelheit an mir vorbei, die Fahrbahn ist regennass. Joe Cocker singt »Leave a Light On«. Der vergangene Tag zieht in Bildern an mir vorbei: Wie sich Sylvia am Morgen schminkt, sich sorgfältig kleidet, in die roten Schuhe mit den hohen Absätzen schlüpft. Nicht ahnend, was auf sie zukommt. Die ernsten Gesichter. Mein Widerstand. Weinende Mitarbeiter. Hans. Ist das Beharren auf meinen Prinzipien und der sofortigen Freistellung egoistisch? Lasse ich mein Team im Stich? Was mögen die Davoser und Davoserinnen denken: Sind sie enttäuscht von mir? Mein Handy summt und brummt, ich lasse es läuten und stelle es schließlich ganz ab. Fragen, die ich beantwortet glaubte, als ich die Entscheidung fällte, dass ich die berufliche Veränderung wagen will, beschäftigen mich erneut. Denn nun vollzieht sich der Sprung in die Ungewissheit viel schneller als geplant.

Die nächsten fünf Tage bin ich in Stuttgart mit der Analyse sämtlicher Dienstleistungsabläufe einer Seniorenresidenz beschäftigt, wie es danach konkret weitergeht, weiß ich nicht. Die vergangenen Jahre stand ich mehrheitlich im Rampenlicht, arbeitete oft sieben Tage pro Woche. Jahrzehntelang verstand ich mich als Leader, genoss es, im Mittelpunkt zu stehen, hatte Macht, wurde umschwärmt. Werde ich in der Versenkung verschwinden? Kann ich mit der plötzlichen Ruhe und der Zeit umgehen und allenfalls mit der Bedeutungslosigkeit? Werde ich mich auf hohem Niveau in den neuen Aufgaben profilieren können? Wird der Wechsel von der operationellen auf die strategische Ebene – die Wissensvermittlung über Coachings und öffentliche Referate – gelingen? Und welche Zukunft liegt vor dem Grandhotel?

Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: In den folgenden Monaten kündigt beinahe das gesamte Kader, der Umsatz des »Belvédère« verringert sich rasant. Und jene Konzernmitglieder, die ich in den vergangenen fünfzehn Jahren immer wieder kritisierte, nutzen bald die Gunst der Stunde und erhalten zu meinem Erstaunen Schützenhilfe von den Kollegen, die mich einst zu ihrem Sprachrohr machten. Die Desavouierungskampagne zielt darauf ab, meinem Ruf zu schaden. Als man mich wehrlos glaubt, fällt man mir in den Rücken, was eine alte Vermutung nur bestätigt: Die härteste Konkurrenz und die schlimmsten Feinde liegen nicht außerhalb, sondern innerhalb der Konzerne auf der Lauer.

Bei meiner Rückkehr aus Stuttgart erfahre ich von Hans, dass in Davos viel Klatsch und Tratsch und einige Gerüchte kursieren würden, was in meiner Abwesenheit zu einem großen Artikel in der »Davoser Zeitung« geführt habe: »›Belvédère‹-Direktor musste vorzeitig seinen Tisch räumen«, liest mir Hans am Telefon den Titel vor, verschont mich aber mit dem weiteren Inhalt, der Ungereimtheiten zu meinem schnellen Abgang andeutet. In der Zwischenzeit sind meine ehemaligen Mitarbeiter mit der Organisation einer großen Abschiedsparty beschäftigt, die in einigen Tagen im »Belvédère« stattfinden soll.

Der negative Wirbel um meine Person lässt mich nicht kalt, aber nach dem intensiven Kontakt mit den tapferen Senioren in Stuttgart – sie verbinden mit dem Begriff »Abschied« etwas anderes als ein angekratztes Ego und eine Party mit Champagner – betrachte ich die Ereignisse rund um meinen Weggang bereits mit einem emotionalen Sicherheitsabstand. Es gab in meinem Leben andere Brüche, und stets befasste ich mich mit ihnen, jedoch ohne in ausgeprägten Leidensphasen zu verharren. Man mag diese Haltung als oberflächlich kritisieren oder die gut funktionierende Selbstmotivation als Geschenk des Schicksals betrachten, das der eine in die Wiege gelegt bekommt und der andere nicht. Ich bin der Meinung, dass wir durchaus in der Lage sind, selbst zu bestimmen, ob wir pessimistisch oder optimistisch durchs Leben gehen wollen. Wie wir denken, ist ausschlaggebend, die Gedanken beeinflussen unsere Gefühle und unser Handeln. Mein Umgang mit dem Glück lehrt mich später, auch das Unglück genauer zu betrachten. Von krampfhaftem Optimismus halte ich nichts, doch heute denke ich: Vorausgesetzt, man leidet nicht an einer psychischen oder physischen Erkrankung, sollte der Einzelne sein Unglück nach einer gewissen Zeit bewusst in die Schranken weisen. Wenn man sich nachhaltig schlecht fühlt, leidet zwangsläufig das Selbstwertgefühl. Das ist nicht per se schlecht, hält die Menschen aber davon ab, Neues und Gutes erleben zu wollen.

Die Erlebnisse in Stuttgart haben den positiven Nebeneffekt, dass ich mich beinahe versöhnt fühle, und wenn ich daran denke, dass man mir nach fünfzehn erfolgreichen Berufsjahren das Messer an den Hals gesetzt und Unmögliches verlangt hat, was zu einem Eklat führen musste, empfinde ich keine Bitterkeit. Im Gegenteil. Hätte ich sonst die Gelegenheit, mich mitten am Nachmittag ohne jegliche Verpflichtungen und in friedlicher Stimmung auf einem Liegestuhl auszuruhen? Das Leben ist schön! Die Sonne scheint mir heiß ins Gesicht, auf dem Tisch steht ein Glas Weißwein, daneben liegt ein Buch zu den neusten Erkenntnissen aus der wissenschaftlichen Glücksforschung. Es ist eine Thematik, die mich seit Jahren beschäftigt. Manche nennen es Glück, ich spreche lieber vom Vermögen, Veränderungswünsche zu erkennen und dann jene oft winzigen Schritte anzuregen, die zu einer vertieften Zufriedenheit beitragen können. Schnell anwendbare Formeln für Reichtum, Erfolg, Liebesglück, innere Ruhe, Ausgeglichenheit, ein gutes Selbstbewusstsein – sprich mehr Glück im Leben – ignorieren meiner Meinung nach fast immer einen simplen Grundsatz: Es ist einfacher gesagt als getan und geht weniger schnell, als man denkt. Tipps und Tricks können eine oberflächliche Verbesserung der Lebensqualität bewirken, aber mit der individuellen Problematik haben sie meist wenig zu tun.

In meiner Zeit als Hotelier führte ich Hunderte von ausführlichen Gesprächen mit Gästen, viele glücklich, manche nicht. Jenen, denen es trotz vielerlei Privilegien wie Erfolg, Schönheit und Reichtum an Zufriedenheit mangelt, nicht aufgrund eines spontanen Ärgers oder einer missglückten Investition, sondern weil in ihrer Wahrnehmung Grundsätzliches nicht stimmt, können oft keine näheren Angaben zu ihrem Unglück machen. Das Fehlen von Glück wird als diffuse Missstimmung wahrgenommen. Heute weiß ich: Das vertiefte Appellieren an das Glück ist immer ein Infragestellen jener Umstände, die es scheinbar verhindern. Will man die Zufriedenheit nachhaltig verbessern, kommt man nicht umhin, Zeit zu investieren, um jene unbequemen Fragen zu formulieren, deren Beantwortung Licht ins Dunkel der eigenen Befindlichkeit bringen können.