Umschlag
Verlagslogo

Erik Peters

Oman–Island

Mit dem Motorrad
aus 1001 Nacht zur Mitternachtssonne

Delius Klasing Verlag

 

1. Auflage

© by Delius, Klasing & Co KG, Bielefeld

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-7688-5326-2 (Print)

ISBN 978-3-7688-8122-7 (pdf-eBook)

ISBN 978-3-7688-8323-8 (EPUB-eBook)

Lektorat: Klaus Bartelt, Ute Maack

Fotos: Erik Peters

Schutzumschlaggestaltung: Buchholz/Hinsch/Hensinger, Hamburg

eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis

des Verlages darf das Werk, auch Teile daraus,

nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

 

www.delius-klasing.de

In zwanzig Jahren wirst du die Dinge, die du nicht getan hast,

mehr bedauern, als die Dinge, die du getan hast.

Lichte also den Anker und verlasse den sicheren Hafen.

Lass die Passatwinde deine Segel füllen.

Erkunde.

Träume.

Entdecke.

(Mark Twain 1835–1910)

Inhalt

»Peters, zum Chef!«

Über die Alpen

Zaziki »Made in Germany«

Das Tor zum Orient

Welcome to Iran

Höher, schneller, teurer

Oman

Zurück im Übermorgenland

Mit Vollgas ins Abendland

»Schön willkommen in Bulgarien«

Liebe auf den zweiten Blick

Auge um Auge

Mücken, Leichtbier und Weihnachtslieder

Als Gott die Welt erschuf

Das Beste kommt oft zum Schluss

Ende

Anhang

Reisetipps und Ausrüstungsliste

Danksagung

»Peters, zum Chef!«

Peters, zum Chef!« Als ich meine ungeliebte Kollegin diese drei Worte über den Flur schreien höre, bin ich mir sicher, eine deutliche Spur Häme und Schadenfreude in ihrer Stimme erkennen zu können. Ich muss die Augen verdrehen, weiß ich doch sofort, dass man mir an den Kragen will. Als ich das Büro meines Abteilungsleiters nach einem kurzen Anklopfen betrete und in dessen hochrotes Workaholic-Gesicht blicke, ist mir sofort klar, dass er gerade damit hadert, mir eine vermeintlich schlechte Nachricht mitteilen zu müssen. »Nehmen Sie bitte Platz«, werde ich aufgefordert und sacke in einen Sessel vor dem mit Arbeitsutensilien und Tablettenschachteln vollgepackten Schreibtisch. Nach dem üblichen Geplänkel kommt mein Gegenüber endlich zum Punkt: »Herr Peters, uns ist zu Ohren gekommen, dass Sie eine längere Reise planen. Dabei haben Sie uns doch bei Ihrer Einstellung versichert, dass Sie sich in den nächsten Jahren voll und ganz auf den Job konzentrieren wollen.« Ich komme gar nicht dazu, eine Antwort zu geben, denn mit einem »Jetzt rede ich!« wird mir das Wort abgegraben und der Versuch, mich zu rechtfertigen, im Keim erstickt. Ein sintflutartiger Redeschwall ergießt sich stattdessen über mich. Keine Basis für ein vernünftiges Gespräch in Sicht. Lediglich ein nicht enden wollendes Blabla und die beängstigende Information, dass zwei Wochen Urlaub am Stück doch völlig ausreichend seien.

Während ich gedankenverloren in das Gesicht meines Gesprächspartners blicke, habe ich plötzlich mein eigenes beim morgendlichen Kontrollblick in den Spiegel vor Augen, ein Gesicht, das mir allmählich immer fremder wird, da es vor dem Gang ins Büro leer und unglücklich wirkt. Tag für Tag die gleiche demütigende Prozedur: Ohrringe raus, die Krawatte zurechtgerückt und mit dem feinen Hemd sorgfältig die Tätowierungen versteckt. All das nur, um meinem »Ich-mach-diesen-Job-gerne«-Umfeld zu signalisieren, dass ich mich den Regeln des Arbeitslebens ergeben und mit der Unterschrift unter den lausigen Arbeitsvertrag meine Individualität begraben habe. Mir nichts, dir nichts drehte sich mein Leben nach dem zweiten Bildungsweg nur noch darum, von Wochenende zu Wochenende zu hecheln. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht, Karriere machen zu wollen. Plötzlich fällt mir auf, dass ich die Schnauze gestrichen voll davon habe, etwas zu tun, was mir nicht im Ansatz Freude bereitet und worin ich mich zukünftig in keiner Form werde verwirklichen können. Warum sonst zähle ich morgens die Schritte zur Bürotür?

»Hören Sie mir überhaupt zu?«, vernehme ich die belehrende Stimme aus dem Off, während meine Welt sich immer schneller dreht. Meine Gedanken kreisen um so viele elementare Dinge und ich will nicht einsehen, dass man mich wegen meiner Leidenschaft fürs Reisen zum Sündenbock macht. Wut und Entschlossenheit kochen hoch. »Sie müssen sich schon entscheiden, wenn Sie in unserem Haus Erfolg haben wollen. Entweder reisen oder arbeiten – da gibt es keine Kompromisse«, verkündet Herr S. großspurig, wobei er pastorenhaft die Hände faltet. Sekunden scheinen wie eine Ewigkeit zu vergehen. Schweiß dringt aus allen Poren. Unendlich viele Fragen, die durch meinen Kopf jagen. Soll sich meine Zukunft ausgerechnet in diesem Moment entscheiden? Kann ich das Ganze nicht verschieben? Angst vor der Arbeitslosigkeit auf der einen Seite und andererseits Angst davor, noch in zig Jahren meine Träume vor mir und dem kleinen Schreibtisch, an dem ich sitze, herzuschieben, erschweren die Entscheidungsfindung.

»Schluss mit all dem Getue!«, sagt mir meine innere Stimme. Plötzlich bin ich wieder da. So klar wie selten zuvor. Der ungeduldige Blick meines Gegenübers verrät mir, dass er auf eine Antwort wartet. Knarzend schiebe ich den Sessel nach hinten und stehe auf. »Reisen!«, sage ich und beerdige damit alle Karriereaussichten. Das war’s. Kurz und schmerzlos. Mein Fernweh hat über das Bedürfnis nach materieller Sicherheit gesiegt. Deutlich kann ich erkennen, dass mein Chef nicht mit dieser Reaktion gerechnet hat.

Der Rest ist nur Formsache und geht in Rekordzeit vonstatten. Als ich meinen PC zum letzten Mal herunterfahre und meine wenigen persönlichen Dinge aus der Schublade räume, bin ich erstaunt, wie gut ich mich trotz der ungewissen Zukunft plötzlich fühle. Immerhin habe ich gerade meinen Arbeitsplatz verloren. Ich nehme meinen Hut und verlasse das Firmengebäude. Für immer.

Island und der Oman – gegensätzlicher können zwei Länder sowohl in landschaftlicher als auch in kultureller Hinsicht kaum sein. Da sind zum einen der mystische Zauber von 1001 Nacht, goldener Wüstensand, sattgrüne Palmenhaine und der Geruch von Weihrauch in den engen Gassen der Basare. Geschichtsträchtige Orte mit majestätischen Festungen aus einer Zeit, als Gewürze zu den wertvollsten Handelsgütern zählten und der Seeweg von Europa nach Indien hart umkämpft war. Ein krasses Gegenstück dazu die Feuerinsel Island, hoch oben im sturmgepeitschten Nordatlantik gelegen. Vulkane, Gletscher und Geysire – wilde Urkräfte der Natur, die eindrucksvoll ihre Macht demonstrieren und einem das Gefühl vermitteln, Millionen Jahre zurück in die Schöpfungsgeschichte versetzt worden zu sein. Schon immer zogen mich die Reize beider Länder magisch in ihren Bann. Viele Bildbände und Reportagen habe ich verschlungen und mir immer wieder vorgenommen, selbst einmal auf den Spuren von Sindbad dem Seefahrer und Erik dem Wikinger zu wandeln.

Referenzpunkt Abbildung 1

Genau genommen war Island einer der Hauptgründe dafür, dass ich vor knapp zehn Jahren vom Chopper- zum Endurofahrer wurde. Ich kam gerade mit meiner Yamaha Virago aus den Pyrenäen zurück und musste einsehen, dass sie nicht unbedingt geeignet war, um mit ihr abseits der Wege zu fahren, geschweige denn große Abenteuer zu erleben. Irgendwann in jener Zeit kam mir in einem Buchladen das Mängelexemplar eines Island-Reiseführers in die Hände, den ich für ein paar Mark erwarb. Ich war sofort angetan von dem Land und nahm mir vor, sobald wie möglich dorthin zu reisen. Ich brauchte also ein neues Motorrad. Meine erste Enduro, eine Yamaha XTZ 660 Ténéré, komplettierte meine Motorradsammlung. Irgendwann jedoch, ich kann heute nicht mehr genau sagen, wann und warum, geriet das Land aus meinem Fokus. Es muss mir etwas dazwischengekommen sein. Vielleicht war es eine längere Rucksackreise, eine neue Freundin oder es waren sonstige Verschiebungen der Interessenlagen. Erst vor Kurzem, als der Oman eigentlich als mein nächstes Reiseziel feststand, fiel mir der Island-Reiseführer zufällig wieder in die Hände. »Das ist die Idee«, schoss es mir durch den Kopf. Warum nicht beide Länder auf einer Reise miteinander kombinieren? Zeit genug war ja nun da. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr begeisterte mich der Gedanke, Wüstensand und Gletschereis auf ein und derselben Tour erleben zu können. Sofort setzte ich mich vor den Leuchtglobus und begab mich gedanklich auf eine spannende Reise. Mit dem Daumen nahm ich Maß und überschlug die Entfernung – grob 25 000 Kilometer – eher mehr.

Noch am selben Abend kontaktierte ich meinen langjährigen Freund Carsten. Er hatte in der letzten Zeit mehrfach den Wunsch geäußert, einmal eine längere Motorradreise zu machen. Worte wie »unbedingt« und »jederzeit« waren dabei gefallen, an die ich mich jetzt erinnerte. »Ich hab einen Anschlag auf dich vor!«, meldete ich mich, als Carsten das Gespräch entgegennahm. »Hast du immer noch Lust, mit dem Motorrad auf Reisen zu gehen?«, kam ich schnell zum Punkt. »Wenn ja, wüsste ich gerne, wie flexibel deine Urlaubsplanung ist.« »Oje, was ist denn jetzt los?«, fragte er und ich erklärte ihm den Stand der Dinge. »Nun, was soll ich sagen? Freizubekommen war vermutlich noch nie so leicht wie zurzeit. Bei der momentanen Arbeitslage, inklusive Kurzarbeit, sind die bestimmt froh, wenn ein Lokführer unbezahlten Urlaub nimmt. Wann wolltest du denn starten?« »Bald. Wie wär’s mit April?« »Das sind ja nur noch vier Monate!«, antwortete er und ich hörte dabei förmlich, wie er schlucken musste. »Okay, ich bin dabei!« Eine anfänglich noch ziemlich unausgegorene Idee, die auch meinen Freund Carsten schnell begeisterte, ging in eine kurze Planungsphase über.

Die Umsetzung einer längeren Reise, mit dem Motorrad oder welchem anderen Fortbewegungsmittel auch immer, ist längst kein so schwieriges Unterfangen, wie die meisten denken. Im Grunde gibt es nur zwei entscheidende Erfordernisse: Zeit und Geld. Im Idealfall möglichst viel von beidem. Die tatsächlich benötigte Menge Geld hängt einzig und allein davon ab, wie bequem man reisen möchte. Will man in weichen Hotelbetten schlafen oder gibt man sich mit dem Erdboden in Mutter Natur zufrieden? Geht man in teuren Restaurants speisen und lässt andere für sich kochen oder verpflegt man sich selbst und schleppt die Outdoorküche mit? Die Antwort auf diese beiden elementaren Fragen entscheidet in erster Linie darüber, was neben den zu Hause anfallenden Fixkosten, wie Miete und Versicherungen, unterm Strich auf einen zukommt. Da wir beide, Carsten und ich, nicht ansatzweise über ein dickes Bankkonto verfügten, stand für uns von vornherein fest, dass sowohl ein Benzinkocher als auch das Zelt ins Reisegepäck gehören würden. Nur so wäre es möglich, im Schnitt mit weniger als 1000 Euro pro Monat über die Runden zu kommen.

Referenzpunkt Abbildung 2

Für Carsten galt es nun die zeitlichen Voraussetzungen zu schaffen. Die Bewilligung seines Antrags auf vier Monate unbezahlten Urlaub ging durch alle Instanzen der Personalabteilung seines Arbeitgebers, der Deutschen Bahn. Etwa drei Wochen dauerte es, bis er grünes Licht bekam. Unserer Reise stand somit nichts mehr im Wege. Jetzt fehlten uns nur noch die entsprechenden Motorräder. Hier entschieden wir uns für zwei gebrauchte Yamaha XTZ 750 Super Ténéré mit knapp 25 000 Kilometern auf dem Buckel, die wir für je knapp 1500 Euro im Internetauktionshaus gefunden hatten.

Die Zeit bis zur Abfahrt verging nun wie im Flug. Je näher der gesetzte Termin rückte, desto mehr Dinge fielen uns ein, die wir noch hätten besorgen oder erledigen können. Irgendwann sagt man am besten »Stopp« und verlässt sich ein bisschen auf seine Spontaneität und sein Improvisationstalent. Wenn ich eines weiß, dann ist es die Tatsache, dass es immer anders kommt, als man plant.

Am 1. April ist endlich der lang ersehnte Moment gekommen. An einem klaren, sonnigen Morgen mit Temperaturen um die 12 °C werde ich wach. Der erste Tag unserer Reise ist gleichzeitig einer der ersten des Jahres, an dem man sich lieber draußen als in der Wohnung aufhalten möchte. Punktgenau mit unserem Reisebeginn scheint das nasskalte Winterwetter Lebewohl zu sagen. Vorbei das Grau in Grau, das allmählich auch die Gedanken trübt. Nachdem ich noch einmal die Checkliste mit den wichtigsten Ausrüstungsgegenständen überflogen habe, verlasse ich meine Wohnung in der Kölner Südstadt und schließe die Tür hinter mir ab. Hoffentlich, so denke ich, wird es in den kommenden Monaten keinen Grund geben, der eine vorzeitige Rückkehr erzwingt. Meine Siebensachen sind schnell verstaut und fest verzurrt. Im Zustand einer gewissen Erregung lasse ich den Motor meiner Yamaha an und bahne mir schon kurz darauf den Weg durch den morgendlichen Berufsverkehr. Entlang des Rheins geht es zum Kölner Dom. Eine Handvoll Freunde hat sich angekündigt, um uns zu verabschieden. Nach einer Reihe von herzlichen Umarmungen und ebenso vielen guten Wünschen sitzen wir wieder im Sattel und fahren los.

Während wir uns, die farblosen Stadtviertel durchquerend, von der Innenstadt entfernen und der Dom im Rückspiegel immer kleiner wird, muss ich unentwegt an meine Freundin denken. Als wir uns am frühen Morgen das letzte Mal geküsst und umarmt haben, war ich zu aufgeregt und sie zu traurig, als dass wir den letzten gemeinsamen Moment hinreichend hätten genießen können. Obwohl ich voller Vorfreude auf die kommenden Abenteuer blicke, überkommt mich nun ein sentimentaler Schauer. Für mich ist die Trennung von ihr der einzig fahle Beigeschmack dieser Reise und ich weiß, dass ich sie in der vor mir liegenden Zeit jeden Tag aufs Neue vermissen werde. Ich muss mit den Tränen kämpfen, da auch ich plötzlich sehr traurig werde. Mit einer Drehbewegung der rechten Hand begegne ich diesem Gefühl und rausche am Ortsausgangsschild vorbei. Dann sind wir weg.

Unter Vermeidung von Autobahnen geht es durch die Eifel und den Hunsrück. Von dort weiter über als landschaftlich reizvoll ausgewiesene Landstraßen in die Schweiz. Wir fahren etwa 600 Kilometer in einem Rutsch. Es ist schon lange dunkel, als wir kurz vor Mitternacht völlig durchgefroren unser Ziel, eine kleine Berghütte zu Füßen des Morgenberghorns im Berner Oberland, erreichen. Diese Oase der Ruhe soll für die kommenden drei Tage als Quartier dienen. Wir wollen erst einmal abschalten, bevor es richtig losgeht, und uns an die neu erlangte Freiheit gewöhnen. Bei eisigen Temperaturen parken wir unsere Motorräder unterhalb der im Dunkeln verborgenen Unterkunft. Schnee knirscht unter unseren Füßen, als wir das Gepäck etwa 50 Meter den steilen Berg hinauftragen. Die Luft ist glasklar. Erste Schneebälle fliegen. Trotz großer Müdigkeit ist unsere Laune kaum zu übertreffen. Jetzt gilt es, schnell den Kohleofen zu befeuern und standesgemäß auf den ersten Abend unserer Reise anzustoßen.

Über die Alpen

Unter dem Gewicht einer zentnerschweren Bettdecke erwache ich in aller Herrgottsfrühe im Erdgeschoss des Chalets »Alpenperle«. Der gusseiserne Ofen ist über Nacht erloschen und die verbliebene Restwärme müht sich, die wohlige Temperatur in unserer Unterkunft aufrechtzuerhalten. Dichter Morgennebel, vermischt mit klarer Bergluft, füllt meine Lungen, als ich die Fenster öffne, um unsere Ausdünstungen nach draußen zu verbannen. Ein bleicher Schleier hat sich über die Berge des Berner Oberlandes gelegt. Abgesehen von ein paar Kuhglocken und dem Grollen kleinerer Lawinenabgänge hoch oben an den Bergflanken ist absolut nichts zu hören: kein Fernsehen, keine Nachbarn, kein Baustellenlärm, keine Autos, keine Straßenbahn. Nichts. Es ist fast mucksmäuschenstill. Ich könnte Bäume ausreißen an diesem wundervollen Morgen, obwohl es gestern doch recht spät geworden ist. Auf der Terrasse zeugen noch immer Grillreste, mit Senf besudelte Plastikteller, ein paar niedergebrannte Kerzenstummel und einige leere Bierflaschen davon, dass wir einen langen Abend nach unserem Geschmack verbracht haben.

Da die letzten Tage vor der Abfahrt wie erwartet sehr stressig waren, wollen wir es erst einmal ruhig angehen lassen. Außer ein paar kleineren Wartungsarbeiten an den Zweirädern und ein wenig ergänzender Streckenplanung haben wir uns nichts vorgenommen. Wir müssen unter anderem schauen, wie wir am besten über die Alpen kommen. Nachdem wir im Internet auf widersprüchliche Angaben gestoßen sind, erfahren wir von einem Bauern im Dorf, dass der Simplonpass derzeit die einzig befahrbare Alternative zu der mautpflichtigen Autobahn ist.

Ohne schweres Gepäck brechen wir in den folgenden Tagen immer wieder zu kleineren Touren in die Umgebung auf. Leider muss ich dabei feststellen, dass der Vergaser meines Motorrades versucht, mir die Laune zu vermiesen. Mit ein paar aufeinanderfolgenden Zündaussetzern fängt es an und steigert sich binnen kürzester Zeit zu einem deutlichen Leistungsverlust im unteren Drehzahlbereich. Da wir gerade erst am Beginn unserer Reise stehen, darf ich mich nicht dazu verleiten lassen, diese Mängel als eine Laune des Motorrades auf die leichte Schulter zu nehmen. Als ich auf einer ansteigenden Geraden in Richtung Grindelwald große Schwierigkeiten habe, einen langsam fahrenden Bus zu überholen, sehe ich ein, dass etwas getan werden muss. Wenn ich jetzt schon mit technischen Problemen zu kämpfen habe, wie soll es dann erst werden, wenn wir die deutschsprachige Komfortzone verlassen haben?

In der Nähe von Interlaken suchen wir eine Motorradwerkstatt auf. Verzweifelt berichte ich dem Besitzer von dem Problem und bitte ihn, er möge doch ein paar Meter Probe fahren, da dies sicherlich mehr Aufschluss gäbe. »Für so Öppis hani kei Ziit«, bekomme ich als überraschende Antwort und habe dabei das Gefühl, als wolle er mich loswerden. Obwohl ich versichere, nicht mehr als zehn Minuten seiner Zeit in Anspruch zu nehmen und natürlich auch für seine Arbeit zu zahlen, verweigert er mir beharrlich jede Hilfe. Nichts zu machen. Auch mein Angebot, den Vergaser eigenhändig auszubauen, damit er ihn kurz durchcheckt, wird mit der Begründung abgelehnt, dass da ja jeder kommen könne. Wenn er einmal damit anfinge, das Schrauben neben seiner Werkstatt zuzulassen, würde dies Schule machen und ungebetene Kundschaft anlocken. »Wenn du gnueg Gäld debi hesch, chasch de Töff stoh loh und nögscht Wuche weder abhole«, so sein Vorschlag. Ich koche vor Wut und versuche, so gut es geht, meinen Ärger hinunterzuschlucken. Nächste Woche abholen? Was denkt der Penner sich? Da es in der näheren Umgebung nicht gerade ein Überangebot an Werkstätten gibt, appelliere ich letztmalig an seine Hilfsbereitschaft: »Was ist denn, wenn ich den Vergaser morgen früh vorbeibringe?«, so mein letzter Vorschlag. Doch auch dieser wird mit einer abwinkenden Handbewegung quittiert. »So, i muess jetzt witer schaffe«, sagt er und knallt vor unseren Augen die Werkstatttür zu. Ich kann es nicht fassen. Mit dem Befund, dass er ein Arschloch sei und besser auf dem Fischmarkt als Geruch arbeiten solle, verabschiede ich mich.

Wieder bei unserer Unterkunft angekommen, mache ich mich sogleich daran, dem Problem mit dem Schraubenschlüssel zu Leibe zu rücken. Doch so sehr ich mich auch bemühe, ich kann keinen eindeutigen Fehler finden. Ohne jeden Erkenntnisgewinn baue ich die entsprechenden Teile wieder sorgfältig zusammen und beschließe, auf mein Glück zu vertrauen. Es bleiben jedoch diese bohrenden Zweifel, die zu Beginn einer solchen Reise fast unerträglich sind.

Nach drei Tagen erholsamer Alpenidylle brechen wir in Richtung Italien auf. Dort erhoffen wir uns sommerliche Temperaturen und freuen uns auf Vino Bianco, Dolce Vita und Frutti di Mare – kurz: das, was einem spontan so einfällt, wenn man nach einem langen schmuddeligen Winter an Italien denkt. Ein eisiger Wind bläst mir ins offene Visier und die Sonnenstrahlen des nahenden Frühlings tun sich schwer damit, für ein angenehmes Motorradwetter zu sorgen. Trotz einstelliger Temperaturen nehmen wir die Strecke gut gelaunt in Angriff. Dies ist unser Tag, unser Morgen, und es ist, als würde die ganze Welt uns neidvoll dabei zuschauen, wie wir in Richtung Süden rollen. Ich fühle mich verdammt gut dabei, dass wir gerade erst am Anfang eines großen Abenteuers stehen und mich das Feeling des Unterwegsseins noch etliche Wochen begleiten wird. Die festgelegten Strukturen und das auf Funktionieren fokussierte Alltagsleben werden nun durch etwas ersetzt, was der ersehnten Freiheit und Spontaneität schon sehr nahekommt. Die täglichen Aufgaben sind nun andere. Alles, was ich in den nächsten Monaten zum Leben brauche, ist in zwei seitlich am Motorrad angebrachten Metallkoffern und einer Gepäckrolle aus wasserdichtem Kunststoff untergebracht. Den größten Teil des Raums nehmen Zelt, Schlafsack und Isomatte ein sowie ein paar Ersatzteile und ein Haufen Werkzeug. Die wenigen Sachen, die ich persönlich benötige, wie Klamotten, ein paar Bücher, Landkarten, ein wenig Schnickschnack und ein kleiner Glücksbringer, würden locker in zwei Aldi-Tüten passen. Die Dinge, die wirklich wichtig sind, Pass und Geld, trage ich am Mann. Befreiend fühlt es sich an, sich auf das wirklich Notwendigste beschränken zu müssen.

Vorbei am Thuner-See, geht es bei stahlblauem Himmel in Richtung Kandersteg. Dort werden wir die Motorräder auf einen Zug der Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn verladen, die uns innerhalb von 15 Minuten nach Goppenstein führt. Zum Glück beschwert sich keiner, als wir uns mit den Motorrädern an der gut zwei Kilometer langen Autoschlange vorbei nach oben zur Verladestation mogeln. Der Verladevorgang funktioniert routiniert und reibungslos und schon nach wenigen Minuten fährt der Zug auf der Südseite des Lötschberges wieder aus dem Fels hinaus.

Auf dem Simplonpass, dem angeblich schönsten Alpenübergang, überqueren wir die Walliser Alpen. Durch mehrere zur Seite offene Galerien, die einen Panoramablick auf die gewaltige Bergwelt freigeben, geht es steil bergauf in eine märchenhafte Winterlandschaft. Sind anfänglich nur vereinzelte Schneereste sichtbar, so türmt sich das Weiß binnen weniger Minuten zu drei Meter hohen Wänden links und rechts der Straße auf. Nach mehreren Kehren haben wir die höchste Stelle – 2005 Meter über Normalnull – erreicht.

In einem kleinen Lokal auf der Passhöhe machen wir Rast und genießen die spektakuläre Fernsicht auf das verschneite Bergmassiv. Trotz Sonnenbrille schmerzt das gleißende Licht fast schon in den Augen. Eine dünne, arielweiße Neuschneedecke hat sich in der letzten Nacht auf die verschmutzten Schneereste des Winters gelegt. Vereinzelte Tannen klammern sich an die steilen Berge, die sich etwas weiter oben wie ein gezackter Saum vor dem blauen Himmel abzeichnen.

Durch die enge Gondoschlucht geht es wieder hinab, in Richtung Italien. Große Wassermassen, die den geschmolzenen Schnee mit lautem Getöse talwärts befördern, begleiten uns vom höchsten Punkt an bis weit hinab an den Lago Maggiore. Als wären die Jahreszeiten binnen kürzester Zeit ineinander übergegangen, sitzen wir schon wenige Stunden nach Aufbruch im T-Shirt in einem typisch italienischen Café. Das Wetter meint es gut mit uns und der erste Sonnenbrand des Jahres macht sich auf unseren Nasenspitzen breit. Ein Hauch des Frühlings ist in der Luft zu spüren. Ein Tourauftakt nach Maß, so stellen wir begeistert fest und genießen die entspannte, aber zugleich sehr betriebsame Lebensweise der Norditaliener.

Zwei Tage später erreichen wir das Meer. Wieder hat mein Motorrad mit Problemen zu kämpfen. Ich könnte wahnsinnig werden bei dem Gedanken, schon hier in Italien kapitulieren zu müssen. Was um alles in der Welt soll ich tun, frage ich mich wieder und wieder. Um mir nicht weiter den Kopf zu zerbrechen, entschließe ich mich zu einem telefonischen Hilferuf, von dem ich mir eine Ferndiagnose erhoffe. »Sag bloß, die Karre ist schon hinüber?«, so die Reaktion meines Schrauberkumpels Thorsten aus Köln. »Danke übrigens, dass du mich an einem Sonntag so früh aus dem Bett geklingelt hast.« Nachdem ich das Problem in aller Ausführlichkeit geschildert habe, antwortet er spontan: »Der Vergaser zieht falsch Luft. Irgendwo scheint eine undichte Stelle zu sein. Die kannst du finden, wenn du Bremsenreiniger auf den laufenden Motor und den Vergaser sprühst. Wenn dann die Drehzahl steigt, weißt du, wo das Leck ist.«

Nach weniger als 100 Tageskilometern beschließen wir, frühzeitig einen Campingplatz aufzusuchen. Ich will so schnell wie möglich mit besagter Methode das Leck aufspüren. Sollte das nicht klappen, werde ich wohl eine Werkstatt in Genua oder Florenz ansteuern müssen. Dass ich zu Beginn der Reise so oft den Schraubenschlüssel in die Hand nehmen muss, hätte ich mir selbst in den schwärzesten Träumen nicht ausgemalt.

Frustriert beginne ich mit meiner akribischen Inspektion. Schraube um Schraube nehme ich mir vor. Nach etwa fünf Minuten sagt Carsten, der auf der gegenüberliegenden Seite des Motors hockt, ganz beiläufig: »Sag mal, hast du vergessen, den Luftfilterkasten festzuschrauben?«

»Nee, wieso?«

»Na, weil das Ding völlig lose ist. Schau hier, der Kasten lässt sich ohne Probleme hin und her bewegen.« Für eine Sekunde schimmert Hoffnung in mir auf. Im Handumdrehen ist die verschlissene Schlauchschelle durch ein Teil aus unserem Krimskrams-Sortiment ersetzt, die dem altersharten Gummi des Luftfilterkastens wieder den nötigen Halt verschafft. Um endgültige Gewissheit zu haben, breche ich zu einer Probefahrt in die nahen Berge auf. Von Anfang an spüre ich, dass der Fehler behoben ist. Endlich läuft der Motor wieder so, wie es sich gehört, und es ist eine Freude, ihm dabei zuzuhören. Mit reichlich Lambrusco aus einem kleinen Supermarkt kehre ich zurück. Dieser Abend soll gefeiert werden.

Der nächste Tag führt uns ins Herzstück Italiens – in die Toskana. Auf der Suche nach den schönsten und typischsten Landschaften wird man meiner Meinung nach in der Gegend um Val d’Orica am schnellsten fündig. Der Frühling entfaltet seine ganze Kraft und die junge Saat der Wiesen leuchtet in saftigen Farben. Die Sonne lässt je nach Stand die frisch beackerten Felder in zartem Grün bis hin zu leuchtendem Gelb und erdigem Braun erscheinen. Über die welligen Hügel schlängeln sich lange Zypressenalleen. Pastellfarbene Backsteinhäuser und romantische Gehöfte wirken, als hätte man sie als Kulisse für einen Film aufgebaut und irgendwann vergessen, sie wieder abzubauen. Wenn eine Landschaft für Vivaldis Violinkonzert »Die vier Jahreszeiten« die Bilder liefern müsste, so gäbe es für den Frühling keine bessere Wahl als die Toskana. Es sind Bilder mit viel Poesie, die mich ständig dazu zwingen, anzuhalten, um sie abzulichten. Wir achten nicht darauf, einen bestimmten Weg zu wählen, sondern lassen uns treiben. Einzig der innere Kompass zeigt uns, wo es langgeht. Mal fahren wir in nördlicher Richtung und kurz darauf schlagen wir wieder einen südlichen Kurs ein, nur weil schöne Landstraßen oder Feldwege ein verborgenes Geheimnis vermuten lassen.

Wir machen mehr Pausen als üblich. In beinahe jeder Ortschaft, durch die wir kommen, finden sich einladende Trattorias und Cafés, in denen eher die Qualität des Essens als die Einrichtung im Vordergrund steht. Mit frischen Zutaten und viel Herzblut wird wahre Esskultur zelebriert. Wir verlieren die Zeit aus den Augen und quatschen uns fest. Ein Ciabatta hier, ein Espresso dort, bis uns das Verlangen, Motorrad zu fahren, wieder weiterziehen lässt. Gerne sitzen wir auch einfach nur auf den Treppenstufen der Piazza del Comune, dem Herzstück eines jeden Ortes, wo man ständig Zeuge typisch italienischer Alltagsszenen wird.

Wie in einem Theater werden sie einem von den Einheimischen kostenlos dargeboten: Dreirädrige Piaggio Kult-Transporter und Vespa-Roller knattern durch das Gewirr der engen Gassen und vor vielen Fenstern trocknet verwaschene Baumwollunterwäsche langsam in der Sonne. Ältere Damen unterhalten sich laut und gestenreich von einem Balkon zum anderen über die Straße hinweg, während am Verkehrsknotenpunkt des Dorfes zwei Carabinieri stehen, die nicht den Eindruck erwecken, als sei es ihre primäre Aufgabe, für Ordnung zu sorgen. Mit gut sitzenden schwarzen Uniformen und modischen Sonnenbrillen scheinen die Ordnungshüter ihre Bestimmung eher darin zu sehen, der Damenwelt zu imponieren. Nirgends habe ich jemals zuvor Polizisten gesehen, die so auffällig hinter jedem Rock herglotzen und mit eindeutigen Gesten zu verstehen geben, dass sie paarungswillig sind. Generell geht es sehr emotionsgeladen zu. Doch hier im Süden Europas scheint man es zu mögen, auf diese Weise miteinander zu kommunizieren. Wer in Deutschland mal über einem italienischen Café gewohnt hat, der weiß, wovon ich rede.

Ein Reisetag, wie ich ihn mir entspannter nicht vorstellen kann, neigt sich dem Ende zu. Von einem kleinen Feldweg kommend, finden wir nahe dem Dorf San Quirico d’Orcia einen angemessenen Platz, um diesen großartigen Tag zu beenden. Den freundlichen Gruß eines Landwirts, dem das Areal zu gehören scheint, deuten wir als Erlaubnis, das Nachtlager zu errichten. Wir heben dankend den Daumen, als er mit seinem alten Trecker in Richtung seines unweit gelegenen Hofes ruckelt. Auf einer schräg abfallenden Wiese, auf der in exakten Abständen etwa 100 Zypressen so gerade gewachsen stehen, als hätten sie eine Norm zu erfüllen, schlagen wir die Zelte auf. Es handelt sich um die berühmte Baumgruppe »Santa Maria«, eines der meist fotografierten Motive der Toskana, das jeder – wenn auch unbewusst – schon einmal gesehen hat. Doch wir wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass unsere Zelte neben solch berühmten Bäumen stehen. Für uns ist der Ort einfach nur schön. Typisch toskanisch eben. Mit einer Flasche Chianti und etwas Brot sitzen wir vor unseren Zelten und beobachten das fast kitschig anmutende Farbenspiel der Sonne, kurz bevor sie untergeht. Ganz offensichtlich teilen nicht alle unsere Freude darüber, einen so grandiosen Lagerplatz gefunden zu haben. Immer neue Fotografen tauchen auf, bis auf dem freien Feld unter uns an die zehn Mann mit fluchend erhobenen Fäusten umherlaufen, um einen Blickwinkel zu suchen, von dem aus unsere Zelte nicht den Bildaufbau stören.

Am folgenden Tag erreichen wir die Hafenstadt Ancona. Wir sind überrascht, wie günstig die Überfahrt in der Vorsaison doch ist. Gerade einmal 40 Euro soll das Ticket für die 800 Kilometer lange Strecke in die griechische Hafenstadt Igoumenitsa kosten. Ein Angebot, das wir ohne zu zögern annehmen. Als einzige Motorradfahrer rollen wir kurz darauf in den stählernen Bauch des Schiffes. Auch wenn die Fährgesellschaft »Minoan Lines« im Testbericht des ADAC für das östliche Mittelmeer mit »sehr gut« abgeschnitten hat, würden wir sie deutlich schlechter benoten. Auf die Frage, wie und womit wir die Motorräder vor eventuellem Seegang sichern sollen, werden Schultern gezuckt und wir mit glasigen Augen angestarrt. So gut es geht, fixieren wir die beiden Yamahas mit ein paar dünnen Schnüren an irgendwelchen fragilen Rohrleitungen. Weiß der Teufel, was passieren würde, sollte Poseidon kräftig aus den Backen blasen und die Ladung ins Ungleichgewicht bringen.

Da wir mit der sogenannten »Deckpassage« keinen Anspruch auf horizontale Erholung gebucht haben, begeben wir uns mit all dem Gepäck unterm Arm auf die Suche nach einem halbwegs bequemen Schlupfwinkel an Bord des Schiffes. Ein stark tätowierter Barkeeper verrät uns, dass es, wenn auch nicht erlaubt, am wenigsten auffallen würde, wenn wir in der Borddisco Quartier bezögen. Wir folgen seinem Rat und ziehen uns zurück. Noch bevor das erste Tanzbein geschwungen wird, haben wir uns hinter einer Reihe von Sofas und Geldspielautomaten versteckt und die Schlafsäcke ausgebreitet. Fernseher und Lichtorgel haben wir schnell ausgestöpselt und die frei gewordenen Steckdosen mit unseren Ladekabeln für Handy, Kamera etc. belegt. Offen gestanden hätten wir an diesem Abend nichts dagegen gehabt, die hormongesteuerten Kämpfe junger südländischer Männer um die weibliche Aufmerksamkeit zu beobachten. Da in der Vorsaison jedoch fast ausschließlich Rentner an Bord sind, ist die Stimmung entsprechend gedrückt. Wir beenden den Abend bei Wein mit kräftiger Blume und sind froh, dass nur hin und wieder Personen auftauchen, die sich darüber wundern, dass die Fernseher nicht funktionieren.

Zaziki »Made in Germany«

Nach einer gut 15-stündigen Überfahrt kommen wir um die Mittagszeit im Fährhafen von Igoumenitsa, im Norden Griechenlands, an. Übersteuerte Lautsprecher verkünden beim Einlaufen in den Hafen die Durchsage, dass das Autodeck erst nach erfolgreichem Andockmanöver geöffnet wird. Gewisse Parallelen zur Luftfahrt sind erkennbar, denn auch hier widersetzt sich ein Großteil der Passagiere sämtlichen Anweisungen. Als wir zu unseren Motorrädern kommen, hockt bereits hinter fast jedem Steuer ein Fahrer, der mit dem Gaspedal spielt. In der dichten Abgasglocke unter Deck verzurren wir unser Gepäck. Anstatt uns an der undisziplinierten Drängelei zu beteiligen, warten wir ab, bis die Autos das Schiff verlassen haben. Über rutschige Metallplatten erreichen auch wir wieder festen Boden.

Igoumenitsa ist keine Stadt, mit der uns Liebe auf den ersten Blick verbindet. Eher ein Ort, an den es einen nur dann verschlägt, wenn man mit einer der Fähren abfährt oder ankommt. Verladestationen, Banken und unansehnliche Reklametafeln prägen das Bild und man schätzt sich glücklich, dass man dem Tumult schon nach wenigen Hundert Metern hinter dem Hafen wieder hinauf ins Gebirge entschwinden kann.

Wir hatten erwartet, dass es mit jedem Kilometer in südlicher Richtung grüner, vor allem aber wärmer werden würde. Bei T-Shirt-tauglichen Temperaturen, so unser zuversichtliches Bild von Griechenland im Frühjahr, könnten wir das dicke Thermofutter erstmals aus der Jacke knöpfen. Diese Erwartungen werden jedoch herbe enttäuscht. Der Frühling hat noch nicht einmal ansatzweise damit begonnen, den Winter zu verdrängen. Mit Griechenland bringt man ja in erster Linie die mehr als 3000 Inseln des Mittelmeers in Verbindung, nicht aber die nördlichen Berglandschaften. Statt von blühenden Blumen gesäumt, sind die ersten Kilometer farblich wenig abwechslungsreich und meine Finger eisig kalt, obwohl die Sonne scheint. Würde nicht eine Vielzahl von Anhöhen und Kurven den Fahrspaß erhöhen, so wären die ersten 100 Motorradkilometer im Land eher eine unangenehme Pflicht als das erhoffte Vergnügen.

Ganz anders sieht es aus, als wir am späten Nachmittag nahe der albanischen Grenze die Vikos-Schlucht erreichen. Ein landschaftliches Highlight der absoluten Extraklasse, verborgen vor all den in Scharen auftretenden Bustouristen. Als ich während der Reisevorbereitung erstmalig von der Schlucht las, verband ich zunächst keine besonderen Erwartungen mit dem Ort. Allein die Angabe, dass es sich laut Eintrag ins »Guinnessbuch der Rekorde« um die tiefste Schlucht der Welt handelt (hierbei ist das Verhältnis der Breite zur Tiefe ausschlaggebend), ließ mich aufhorchen.

Kurz vor der Stadt Ioannina biegen wir auf die Bundesstraße 20 ab, der wir knapp acht Kilometer in nördlicher Richtung folgen. An einem leicht zu übersehenden Abzweig verlassen wir die gut ausgebaute Straße wieder und nehmen einen kleinen, stetig ansteigenden Weg in Richtung der Schlucht. Die schneebedeckten Höhenlagen des Pindos-Gebirges vor Augen, fahren wir die letzten Kilometer durch eine surreal wirkende Schieferplattenlandschaft, die den Anschein erweckt, als sei sie in einem zeitraubenden Prozess Lage für Lage aufeinandergeschichtet worden. An den wie Geisterstädte wirkenden Orten Vitsa und Monodendri geht es vorbei, bis der Weg vor einem dicken Felsbrocken endet. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Den Umstand, dass generell sehr wenige Touristen den Weg in diese Schlucht finden, kann ich mir nur damit erklären, dass der Ort zu weit von den Urlaubszentren entfernt liegt, als dass es sich lohnen würde, eine Tagestour dorthin anzubieten.

Wir stellen unsere Motorräder ab und folgen einem kleinen Pfad, der nach wenigen Metern an einer spektakulären Aussichtsplattform endet. Völlig ungesichert fällt eine steile Felswand 1000 Meter hinab in schwindelerregende Tiefe. Entlang des Felsens ist ein schmaler Pfad angelegt, dem ich so weit folge, bis mir die Sache zu unsicher wird. Viele der aus dem Boden gebrochenen Steinplatten sind durch rutschige Bretter ersetzt worden. Angetan von dem unglaublichen Blick in die Tiefe ist mir gar nicht bewusst, wie nahe ich mich am Abgrund befinde.

Als etwa einen halben Meter neben mir die Wand steil nach unten abfällt, werde ich mit einer massiven Höhenangst konfrontiert, die ich seit Jahren erfolgreich ignorieren konnte und die mir ab heute des Öfteren ordentlich zusetzen wird. Alles dreht sich, dann folgt eine Panikattacke, die es in sich hat. Ich muss mich setzen. Sofort! Der beängstigende Gedanke daran, was passieren würde, wenn ich einen unbedachten Schritt zur Seite mache oder ausrutsche, verursacht schließlich eine massive Lähmung. Carsten, der mit Fotoapparat in die andere Richtung gegangen ist, würde vermutlich noch nicht einmal einen Schrei von mir hören, wenn es mich erwischen sollte. Mit geschlossenen Augen sitze ich mehrere Minuten da und kralle meine Hände am Boden fest. Erst als sich Puls und Atmung nach einer Weile wieder beruhigt haben, trete ich nass geschwitzt den Rückzug an. Gut, dass zu diesem Zeitpunkt keine anderen Touristen anwesend sind, denn es muss schon ziemlich albern aussehen, als ich den kompletten Weg zurück auf sicheres Terrain auf allen vieren krieche.

In Metsovo, einem kleinen verschlafenen Nest mit vielen Kopfsteinpflastergassen, machen wir eine längere Pause. Beschaulich plätschert das Leben der Bergbewohner dahin. Wir sehen niemanden, der es eilig hat. Die Zeit scheint stillzustehen. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie das Leben vor gut 100 Jahren gewesen sein muss. Viel scheint sich seitdem nicht verändert zu haben. Neben den zahlreichen Kafenions, den schnörkellos eingerichteten Kaffeestuben, gibt es Dutzende von hölzernen Bänken im Ortskern. Die Menschen scheinen Zeit zu haben und so finden die vielen Sitzgelegenheiten regen Zuspruch – vor allem bei den älteren Bewohnern des Dorfes. Sie sitzen zusammen, halten sich an ihren liebevoll geschnitzten Spazierstöcken fest, lassen die Zeit vergehen und philosophieren vermutlich über Dorfangelegenheiten oder andere Kernpunkte des Lebens.

Da es recht kalt ist, ziehen wir uns in eines der Kafenions zurück, um bei einem Heißgetränk ein wenig aufzutauen. Der Innenraum dieser stets gut besuchten Treffpunkte ist nüchtern möbliert und durch kaltes Neonlicht erhellt. Ein gutes Dutzend Männer spielt Tavli, eine griechische Variante des Backgammons, und ein paar weitere sitzen stumm da und lassen eine Art Rosenkranz durch die Finger gleiten. Wie schon in Italien, machen wir die Erfahrung, dass man entweder keinen vernünftigen Kaffee bekommt oder, was am wahrscheinlichsten ist, wir zu blöd sind, eine richtige Bestellung aufzugeben. Ich werde mir die jeweiligen Begriffe für das, was ich unter einem »normalen« Kaffee verstehe, wohl nie merken können. Nach langen Erklärungsversuchen erhalten wir ein Glas heißes Wasser und ein Tütchen Instantkaffee. Ein Ouzo rundet die Bestellung ab.

Mit den schneebedeckten Höhenlagen von über 2600 Metern vor Augen folgen wir den Hinweisschildern in Richtung Thessaloniki. Es ist ein besonderer Tag für die Menschen der Region, denn mit großem Brimborium wird die neu gebaute Autobahn 2 eröffnet. Sie soll die beiden Küstenregionen auf der Ost-West-Route miteinander verbinden und die kleinen Ortschaften entlasten, um ein schnelleres Vorwärtskommen in den Höhenlagen Nordgriechenlands sicherzustellen. Einer nach dem anderen werden die geduldig wartenden Autofahrer an den Zufahrten auf den jungfräulichen Asphalt entlassen. Was für ein Glück, freuen wir uns, denn die restlichen Kilometer über die alten Passstraßen werden wir somit sicherlich ungestört und ohne großes Verkehrsaufkommen genießen können. Allerdings haben wir die Rechnung ohne den Wirt gemacht, die übrigen Verkehrsteilnehmer waren offenbar einfach nur schlau genug, den Wetterbericht zu lesen. Hätten wir das auch getan, dann wüssten wir, dass es an diesem Tag von Vorteil ist, den vor uns liegenden Katarapass zu umfahren.

Immer steiler geht es hinauf in die Berge. Immer steifer werden unsere Finger und immer wärmer die Gedanken. Wer hätte gedacht, dass wir so weit südlich noch derart frösteln würden. Dass ich Carsten vor der Abfahrt noch verspottet habe, nur weil er Heizgriffe für unsere »Wüstentour« an seinen Lenker montierte, nehme ich hiermit öffentlich zurück. Mehr noch – ich gebe sogar zu, dass ich es bereue, nicht ebenfalls in die praktischen Dinger investiert zu haben. Später, so wird es sich noch herausstellen, würde ich mehr als einmal dankbar dafür sein, selbst welche zu haben.

Es wird immer ungemütlicher. Als wir auf Höhenlagen von knapp 1700 Metern in die ersten Schneeverwehungen geraten und Touristen mit Skiern neben der Straße langlaufen, verstehen wir die Welt nicht mehr. Gleich mehrere Sessellifte sind in Betrieb, unter denen sich Kinder mit Pudelmützen eine Schneeballschlacht liefern. Rein gar nichts erinnert mehr an den Frühling, der laut Kalender herrschen soll. Wie konnten wir die Temperaturen zu dieser Jahreszeit nur dermaßen unterschätzen? Ich hätte ja mit allem gerechnet, aber mit Schnee in Griechenland? Vielleicht wäre ein gründlicher Blick auf die topografischen Angaben der Karte doch sinnvoll gewesen. Bei genauerem Hinsehen hätten auch wir festgestellt, dass es im Pindos-Gebirge gleich mehrere Skigebiete gibt und die Region zu den schneereichsten im Mittelmeerraum gehört. Mit den als Stützen seitlich ausgestreckten Beinen kämpfen wir uns meterweise voran. Bei einer Pinkelpause auf der Passhöhe stampfen wir bibbernd von einem Fuß auf den anderen und fummeln verzweifelt am Hosenstall herum. Folgendes Gespräch kommt zustande:

»Kalt, oder?«

»Saukalt! Mann, ist das ätzend!«

Ungefähr eine Minute vergeht …

»Und, schon fündig geworden?«

»Vergiss es – keine Chance.«

Nachdem wir wieder auf den Motorrädern sitzen, schliddern wir im Schneckentempo auf Höhen unterhalb der Schneefallgrenze hinab. Unweit der Ortschaft Trigona, kurz bevor die Straße die Berge dauerhaft hinter sich lässt, finden wir einen Lagerplatz in einem kleinen Waldstück, in dem ausreichend Holz für ein Feuer herumliegt. Erst als meterhohe Flammen unser Lager in ein flackerndes Licht tauchen und wir eine erlösende Schweißbildung auf der Stirn verspüren, bauen wir unsere Zelte auf.

Die Sonne scheint am kommenden Morgen auf die Außenhaut der Zelte. Wir sind dankbar für die Wärme, die sie uns bringt. Als das Thermometer wieder über die 10-°C-Marke geklettert ist, quälen wir uns aus den Schlafsäcken und machen uns mit einem Liter heißem Kaffee in den Bäuchen wieder auf den Weg. Nach wenigen Kilometern erreichen wir die rot und grau schattierten Sandsteintürme von Meteora mit ihren darauf thronenden Klosteranlagen. Wie große Backenzähne sieht man sie schon von Weitem rund 400 Meter hoch in den Himmel ragen. Aus Angst vor türkischer Verfolgung errichteten Mönche im 12. Jahrhundert das erste dieser Klöster, die sich wie Adlerhorste an die hohen Felsen klammern. Irgendwann brachen die Gläubigen den Kontakt zur Außenwelt ab. Der Zugang war nur noch über primitive Leitern und Seile möglich. Ähnlich wie in dem James-Bond-Klassiker »In tödlicher Mission«, in dem sich Roger Moore in einem Korb an der Außenwand des Meteora-Klosters abseilen lässt, gelangten auch vor Hunderten von Jahren die Vorräte nach oben. Heute ist der Besuch nicht mehr so beschwerlich wie noch vor etwa 50 Jahren. Eine asphaltierte Straße schlängelt sich den Berg hinauf und bringt alljährlich Hunderttausende Touristen zu der Sehenswürdigkeit.

Keine 24 Stunden, nachdem wir die schneebedeckten Berge überquert haben, liegen wir mit unseren weißen Körpern in Badehosen am Strand. In Asprovalta, einem mittelgroßen Touristenort zwischen Thessaloniki und der Grenze zur Türkei, haben wir hinter einer heruntergekommenen »Best Western«-Hotelanlage ein Fleckchen gefunden, wo wir nur einen Steinwurf vom Ufer entfernt die Zelte aufschlagen können. Zugegeben, baden setzt eine gewisse Abhärtung voraus, doch immerhin genießen wir bei etwa 23 °C in der Sonne den bislang wärmsten Tag unserer Reise. Würden wir in ein paar Monaten kommen, so lägen am selben Ort sicherlich Tausende von eingecremten Menschen auf ihren Handtüchern in der Sonne, um sich ihre Urlaubsbräune abzuholen.