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FRANK

SCHIRRMACHER

EGO

DAS SPIEL

DES LEBENS

Karl Blessing Verlag

2. Auflage 2013

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2013

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-10584-6

www.blessing-verlag.de

Wir sollten nicht zu entdecken versuchen,
wer wir sind, sondern was wir uns weigern zu sein.

MICHEL FOUCAULT

Inhalt

Vorwort

TEIL EINS

DIE OPTIMIERUNG DES SPIELS

1 Trance

2 Spiel

3 Prophezeiung

4 Monster

5 Script

6 Ratio

7 Soziale Physik

8 Massaker

9 Blutkreislauf

10 Nervensystem

11 Android

12 Gehirn

13 Gene

14 Verwandtschaft

15 Schizophrenie

16 Blitz

17 Politik

18 Matrix

19 Mind’s Eye

20 Abstimmung

21 Big Data

22 Unterwerfung

TEIL ZWEI

DIE OPTIMIERUNG DES MENSCHEN

23 The Secret

24 Erfolg

25 Alchemisten

26 Verwandlung der Seele

27 Death Dating

28 Reengineering

29 Du

30 Massenwahn

31 Ego

Danksagung

Appendix

Bibliographie

Anmerkungen

Personenregister

Vorwort

Wir sind wahnsinnig unkompliziert geworden. Leider spüren wir selbst nichts davon. Warum tun wir, was wir tun? Warum lieben wir, was wir lieben? Fragen, so vielschichtig, dass sie kaum jemand für sich selbst beantworten kann. Uns ist nicht bewusst, dass längst andere die Antworten für uns geben.

Vergessen Sie für einen Moment, was Sie von Psychologie, Hirnforschung oder auch nur aus der eigenen Erfahrung über die Rätsel des eigenen Daseins wissen. Ohne dass wir es gemerkt haben, haben Ökonomen den Seelenhaushalt des modernen Menschen zu ihrer Sache gemacht.

Zur Vereinfachung einer überkomplexen Welt und zur Beschleunigung des Geschäftsverkehrs ist hinter den Kulissen unseres Lebens ein Modell aufgetaucht, das unser Leben nachhaltig verändert.

Man kann sich, so lehrt dieses Modell, das Leben sehr viel einfacher und einträglicher machen, wenn man unterstellt, dass jeder Mensch ausschließlich an sich und seinen Vorteil denkt. In diesem Buch soll es darum gehen, wie aus dem ursprünglich harmlosen Modell eine Falle wurde. Und wie gut sie getarnt ist.

Alle Fallensteller tarnen ihre Fallen. Im Wald können es mit Blättern und Erde verdeckte Fangeisen sein: Artefakte, die so tun, als seien sie Natur. Unter Menschen tarnt man die Fallen als Naturgesetze. So wie die Behauptung: »Der Mensch ist eigensüchtig« – und zwar von den Genen bis zu seiner Moral. Eine ökonomische Theorie hat diese These, unterstützt von modernen Rechenmaschinen, zu einem neuen Naturgesetz gemacht. Und wir beginnen es zu spüren.

In der heutigen Welt glauben viele, dass ihre Freiheiten und Wahlmöglichkeiten zahlreicher sind denn je. Und dass sie Theorien ja schließlich ablehnen oder akzeptieren können.

In Wahrheit haben sie sie nicht nur unwissentlich akzeptiert; sie leben und arbeiten längst damit.

Wir erleben die neue Ära des Informationskapitalismus. Er hat damit begonnen, die Welt in einen Geisteszustand zu verwandeln. Er tut und plant große Dinge. Er will Gedanken lesen, kontrollieren und verkaufen. Er will Risiken vorhersagen, einpreisen und eliminieren. Sein Hirn ist unablässig damit beschäftigt, herauszufinden, was Menschen tun, sagen, kaufen und welche Spielzüge sie als Nächstes planen. Wo immer sie ihm begegnen, treffen sie auf ein System, das alles immer besser weiß. Es spricht den Menschen das Recht ab, sich der Umwelt anders darzustellen, als sie sind. Was immer sie tun, es behauptet, dass sie es um des eigenen Vorteils willen tun.

Verhalten, für das es »keine Gründe« gibt, kennt der Informationskapitalismus nicht. Auch Freundschaft, Loyalität, Liebe haben in seinen Augen rationale Gründe, die im eigennützigen Interesse des Einzelnen liegen. Deshalb überall die Inflation von »Incentives«, von Belohnungen, die von den Boni der Wall Street bis zu virtuellen Orden und Abzeichen und »Like it«-Abstimmungen für die privatesten Dinge reichen.

Es gibt offene Spiele wie Schach und verdeckte Spiele wie Poker, bei dem keiner in die Karten des anderen schauen kann. Die Informationsökonomie atmet die Luft einer Pokerrunde. Ihre Welt ist eine Welt, in der niemand wirklich sagt und tut, was er denkt, aber jeder und jede durchsichtig werden, wenn man ihnen egoistische Absichten unterstellt. Deshalb dieser gewaltige Bedarf an Informationen. Deshalb dieser Zwang zu Verstellung, Bluff und zu falschen Fährten. Finanzalgorithmen tarnen Aktiengeschäfte, um heranpreschende Raubtieralgorithmen in die Irre zu führen, oder Raubtieralgorithmen füttern andere ökonomische Agenten in Lichtgeschwindigkeit mit falschen Informationen, um die Preise in die Höhe zu treiben. Menschen legen sich Scheinidentitäten zu, basteln sich Facebook-Profile für den Personalchef oder die Bank. Ganze Staaten senden falsche Signale, um Märkte zu verwirren. Es ist eine Gesellschaft, in der man nicht nur anderen, sondern sich selbst misstraut. Wer einmal so weit ist, der nimmt hin, dass seine Ausbildung, seine Erfahrung, sein Lebensweg nicht das bedeuten, was er glaubte, dass sie bedeuten.

Das Versprechen, Antworten auf Fragen zu finden, die man sich selbst noch gar nicht gestellt hat, die Behauptung, mehr über die Menschen zu wissen, als sie selbst, die Voraussagen darüber, was man will, ohne selbst schon davon zu wissen, der Vorschlag, wer Freund sein soll, sind strukturell identisch mit geheimdienstlichen Überwachungsalgorithmen, die von Verbrechen wissen, von denen der Verbrecher selbst vielleicht noch nichts weiß. Die neue Ökonomie bedient sich der Maschinen und sie erfasst menschliche Beziehungen mithilfe der Mathematik. Sie liebt das »Gefangenendilemma«, eine spieltheoretische Urszene von zwei Menschen, die ein gleiches Schicksal teilen, aber nicht miteinander reden können, und die das Angebot bekommen, auf Kosten des anderen einen Vorteil zu erhalten. Verrat des anderen ist in diesem Spiel nicht nur vorgesehen, »er ist die als vernünftige Verhaltensweise akzeptierte Norm«.1

Es hat sich herausgestellt, dass Menschen, die mit diesem Denken in Berührung kommen, ihr Verhalten verändern. Ein Weltbild, das hinter allem menschlichen Tun die unausweichliche Logik des Eigennutzes am Werk sieht, produziert Egoismus wie am Fließband.2 Neuerdings kommt aber jeder ständig damit in Berührung. Umgeben von einer Welt, in der Informationen nicht nur an Börsen, sondern am Arbeitsplatz, in der Kommunikation und sogar bei Freundschaften von logisch arbeitenden Rechenmaschinen organisiert werden, die nach den Gesetzen der persönlichen Profitmaximierung den menschlichen Charakter kalkulieren, verändern sich gesellschaftliche Wertvorstellungen in staunenswerter Geschwindigkeit.

Der Informationskapitalismus stellt zusammenhängende Lebensläufe und Identitäten von einzelnen Menschen infrage, er hat die Realwirtschaft für seine Zwecke eingespannt und ist nun im Begriff, konstitutionelle und völkerrechtliche Ordnungen umzuschreiben.

Denn nicht nur der Einzelne verliert seine Souveränität. Die in der gegenwärtigen Eurokrise amputierten Souveränitätsrechte europäischer Staaten und Parlamente sind kein Kunstfehler, sondern Teil seiner operativen Logik.

Er hat das menschliche Denken mit einem Labyrinth von Stollen und Schächten untergraben und verarbeitet das ausgebeutete Rohmaterial auf Maschinen, die – je nachdem, auf welchem Schreibtisch sie stehen – Kriege führen, Revolutionen anzetteln, Geld erschaffen, Menschen kontrollieren oder die Fotos der letzten Urlaubsreise versenden können. Er scheint mittlerweile in der Lage zu sein, über Nacht ganze Nationen abzuschalten oder den Einzelnen, der sich ihm zuschaltet, unter Umständen mit der Macht eines Staates zu versehen. Deshalb sind die Menschen im Begriff, mit ihm unter Tage zu wandern, in geschlossene Räume mit künstlichem Licht, und die Tunnel, die er grub, für ihr Denken selbst zu halten.

Die Tarnung einer Falle muss alle Sinne täuschen. In seiner Enzyklopädie empfiehlt Diderot, den Geruch des Eisens zu verschleiern, weil erfahrene Tiere mit ihm ihre Vernichtung assoziieren. Ein modernes Standardwerk über das Fangen von Tieren beschreibt in aller Unschuld, was zu tun ist: »Das Tier in die Maschine zu locken, sei es durch einen Köder oder aufgrund seiner natürlichen Neugierde.« Kein Zufall, dass nach Otto Mayr die englischen Worte engine und machine lange Zeit die negativen Nebenbedeutungen von List, Trick und Komplott und sogar von Intrige hatten.3 Die Maschine des Informationskapitalismus ist der Computer, aber das Gerät selbst ist unschuldig. Es kommt einzig darauf an, wer es in Händen hat und zu welchen Zwecken einsetzt. Hat man, wie heute geschehen, den menschlichen Egoismus erst mal auf eine Formel gebracht, kann man mit ihm eine ganze Gesellschaft berechnen.

Es ist Diderot, der das »Fallenstellen« – nicht die Falle – eine »Wissenschaft« nennt. Die Herausforderung besteht darin, Lebewesen zu fangen, die aus Erfahrung misstrauisch sind. Sie erwischt man nur, indem man Informationen sammelt und Informationen verfälscht. Die Falle muss den Köder als leichte Beute präsentieren. Der Bär, Fuchs oder Wolf muss denken, einen unerwarteten Profit zu machen. Damit das funktioniert, muss man »mit größter Sorgfalt die Stellen erkunden, an die sich die Tiere bei Tage zurückziehen, die Orte, an denen sie die Nacht verbringen, und die Wege, die sie gewöhnlich nehmen«.

Auch das Fallengehäuse ist nichts wert, ohne die Strategie des Fallenstellers. Der erfolgreichste Fallensteller ist der, der so denkt wie das Lebewesen, das gefangen werden soll; die erfolgreichsten Fallenumgeher sind die, die so denken wie der Fallensteller, der sie fangen will. Das ist die »Wissenschaft«, sie ist pure Mathematik und lässt sich in Computern programmieren: Im Kalten Krieg, als sie erfunden wurde, gab man ihr Namen wie »rational choice theory«, die Theorie des rationalen Handelns und den harmlosen Namen »Spieltheorie«.

Psychologisch getrieben von der Angst, dass totalitäre Systeme wie die Sowjetunion den Menschen dadurch entmündigen, dass sie behaupten zu wissen, was das Beste für ihn ist, haben Ökonomen einen Gegenentwurf erdacht, in der jeder nur noch das tut, was für ihn selbst das Beste ist. Er wurde eine der wichtigsten strategischen Waffen im Kalten Krieg, und durch ihn hat der Westen das Spiel der Supermächte entscheidend gewonnen.

Aber das war, wie sich jetzt herausstellt, nicht das Ende, sondern erst der Anfang. Das Spiel der Supermächte war vorbei, das Spiel mit der eigenen Gesellschaft konnte beginnen. Einer der Architekten der große Falle hat später eingeräumt, dass die Spielregeln, nach denen wir das neue Spiel des Lebens spielen sollen, gewöhnungsbedürftig sind. Um zu gewinnen, müsse man zuweilen den Gedanken akzeptieren, dass »man vom gesamten Universum als persönlicher Feind ausgewählt« wurde.4

Noch ein Wort zu der Absicht dieses Buchs. Es wurde ausgelöst von der Krise, aber nicht von ihren ökonomischen Erscheinungen, sondern von ihren gesellschaftlichen. Die Krise ist nur ein Symptom. Sie zeigt die Instabilität nicht nur von Märkten, sondern von Gesellschaften, in denen Gesellschaften wie Märkte und Menschen als »homo oeconomicus« organisiert werden. In meinen Augen: der erste Fall eines Systemversagens der Informationsökonomie.

Die Krise, mit der wir heute zu tun haben, ist keine, in der es nur um Geld, Profit, die Pleite von Lehman oder die Krise Europas geht. Das ist, wenn man so will, noch die einfache Seite des Sachverhalts, die am ehesten der Analyse zugänglich ist. Wer weiß, vielleicht wird sie gelöst und die Menschen gehen wieder zur Tagesordnung über.

Die Informationsökonomie bewertet Gefühle, Vertrauen, soziale Kontakte genauso wie Aktien oder Waren und sie hat, zum ersten Mal in der Geschichte, die technischen Mittel, dies immer perfekter zu tun. Es ist etwas anderes, ob man bei einem Geschäft oder einer Auktion wie selbstverständlich davon ausgeht, dass es für den anderen rational sei, nur an sich zu denken, einen über den Tisch zu ziehen, oder ob das soziale Leben selbst immer mehr zu Geschäft und Auktion wird, ein Welt der Ich-Vermarktung, die glasklaren ökonomischen Regeln folgt. Misstrauen, Unterstellung, Bluffs, Ablenkungsmanöver sind in dieser Welt normativ und sei es nur, um, wie ein oft gehörter Satz lautet, »die Märkte zu beruhigen«. Aber sie betreffen nicht nur Staaten, sie betreffen in einem fast noch stärkeren Ausmaß den Einzelnen.

Diese Regeln sind alle irgendwo aufgeschrieben. Sie waren Annahmen, Hilfkonstruktionen, Modelle, die den Menschen nicht mehr mit psychischen, sondern mit mathematischen Eigenschaften ausstatteten. »Ökonomische Modelle mit Menschen aus Fleisch und Blut zu bevölkern war nie das Ziel von Ökonomen«, heißt es im Motto eines Buches, das genau das Gegenteil nachweist.5 Denn die Modelle selbst sind lebendig geworden, sie werden nicht nur Handlungsanweisungen, denen man unbewusst folgt wie einem Navigationsgerät – sie tun viel mehr: Sie machen den Menschen überhaupt erst zu dem, als den sie ihn beschreiben. Und sie beschreiben ihn, allen selbstauferlegten Einschränkungen zum Trotz, als Egoisten.

Dieses Buch basiert auf einer einzigen These. Sie wird neuerdings wieder verstärkt von einigen Renegaten unter den Ökonomen mit dem Titel »ökonomischer Imperialismus« diskutiert. Damit ist gemeint, dass die Gedankenmodelle der Ökonomie praktisch alle anderen Sozialwissenschaften erobert haben und sie beherrschen (die imperialistischste ökonomische Theorie war bekanntlich der Marxismus).

In unserer Lebenswelt erleben wir diesen Imperialismus als Ökonomisierung von allem und jedem. Kein Zufall, dass Bestseller wie »Freakonomics« (oder die Nudge-Theorien der Verhaltensökonomen) so erfolgreich sind. Im Kern erzählen diese Bücher von einer Alltags-Welt, die alles in Anekdoten des Eigen-Nutzes zerlegt (»Soll man Eltern für das zu späte Abholen ihrer Kinder bestrafen, und wenn ja, wie ist die Wirkung? Die Wirkung ist, dass sie noch nachlässiger werden, wenn die Geld-Strafe gering ist, erstens weil sie es wert ist und zweitens weil sie ein falsches Signal für die moralische Kosten der Normverletzung sendet«6). So unterhaltsam sie sind und so umstritten ihre Thesen – ihr Erfolg zeigt, dass es sich um Selbstverteidigungstheorien in einer Welt handelt, die, bis in alle Details durchökonomisiert, den Eigennutz als innersten Kern rationalen Verhaltens erlebt.

Aber der Preis für diese Selbstverteidigung ist hoch: In vielen der lebenslustigen Ratschläge steckt, wie in einer eminenten Studie zur Verhaltensökonomie Gerd Gigerenzer und Nathan Berg gezeigt haben, eine getarnte neoklassische – oder wenn man so will: neoliberale – Ideologie.7 Das gilt nicht nur für die Verhaltensökonomie, sondern für alle automatisierten Märkte, von den Finanzmärkten bis zu den neuen Märkten sozialer Kommunikation.

Der ökonomische Imperialismus erzwingt aber auch – und mehr denn je nach der Finanzkrise –, das Feld nicht einer vorherrschenden Schule vor allem angelsächsischer Ökonomen zu überlassen. Eine ganze Welt konnte sich von den Schwächen einiger der noch unlängst als Wahrheiten postulierten Modelle in den letzten Jahren überzeugen. Wenn hier zwei der in der Informationsökonomie wirkungsvollsten Denkgebäude, »rational choice«-Theorie und Spieltheorie, inspiziert werden, dann naheliegenderweise nicht, um zu behaupten, dass es nur sie gab und nichts anderes.8 Sie aber sind von überragender Bedeutung für die Geschichte, die dieses Buch erzählen will: Wie der Einzelne das Gefühl haben konnte, dass sich das ganze Universum gegen ihn verschworen hat, und wie nach dem Ende des Kalten Kriegs ein neuer Kalter Krieg im Herzen unserer Gesellschaft eröffnet wird.

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TEIL EINS

DIE OPTIMIERUNG

DES SPIELS

1 Trance

Das Militär sucht eine Antwort auf die Frage, wie man sich egoistisch verhält

Es beginnt, wie es sich gehört für Geschichten aus der »Twilight Zone«, mit der Trance. Wir befinden uns in den ersten Jahren des Kalten Kriegs. Irgendwo in Amerika, geschützt von meterdickem bombensicherem Beton und Stahl, sitzen hochtrainierte Menschen. Es sind Soldaten der Luftraumüberwachung der Vereinigten Staaten. Sie fixieren Radarbildschirme.

Die Soldaten halten Ausschau nach kleinen blinkenden Punkten, die hin und wieder auf den Bildschirmen auftauchen. Sie registrieren selbst die kleinste Bewegung; jedes Signal könnte ein mit Atombomben bestücktes russisches Flugzeug sein. Kein Job in den gesamten amerikanischen Streitkräften, so wurde diesen Männern eingetrichtert, ist lebenswichtiger.

Dann geschehen unerklärliche Dinge. Ein Luftwaffenoffizier, der den Zweiten Weltkrieg ohne einen Kratzer überstanden hat, bringt es irgendwie fertig, sich auf dem kurzen Weg von seinem Bildschirm bis zur Kaffeemaschine das Bein zu brechen. Andere Militärs fallen in Sekundenschlaf. Manche sind zu absent, um Fragen zu beantworten. Dazu das künstliche Licht, die unterirdischen Türen und Gänge, die wachsende Bunkermentalität, und immer wieder die grünen Kreise des Radarschirms: all das verstärkt das Gefühl, im Inneren eines ›hypnotischen Organismus‹ zu sitzen.

»Es ist schwer, wach zu bleiben«, gesteht ein Mitglied der Crew, »wenn man stundenlang in einem dunklen Raum auf einen Radarschirm starrt, Tag für Tag, Woche für Woche, immer nur auf der Suche nach dem einen Signal, das eine Entscheidung verlangt …« Und das ist fatal, denn »eine Minute geschlafen kann bedeuten, dass eine Stadt vernichtet wurde«, schreibt ein besorgter Besucher des Bunkers im Jahre 1955.1

Ein daraufhin vom Militär alarmiertes Team von Wissenschaftlern – Ökonomen, Psychologen und Soziologen – versucht, die Absencen in den grün illuminierten Gesichtern nachzuvollziehen. Und dann endlich begreift man, dass es die Rechner sind, diese wachsamen Maschinen, die die Männer, die sie bedienen, in Hypnose versetzen.

Das stellt die Forscher vor eine fast unlösbare Aufgabe: Wie soll man Soldaten gegen die hypnotische Kraft ihrer eigenen Werkzeuge trainieren?

Alle dreißig Sekunden lassen nun die Menschen in den weißen Kitteln die Physiognomien der Soldaten mit lochkartengesteuerten Kameras abtasten. Alle zwanzig Minuten fotografieren sie deren Bildschirme, zeichnen Diagramme auf ihre Schreibblocks, in denen sie stündlich die Bewegungen und räumlichen Entfernungen der Crew verzeichnen. Hollywood dreht zum gleichen Zeitpunkt viele Science-Fiction- und Horror-Filme, in denen es genauso zugeht.

»Psychodrama-Sitzungen« nannten das die Wissenschaftler. Das Ziel jedoch war: die Seele der Soldaten mathematisch zu berechnen. Nicht nur Menschen sollten Maschinen bedienen, sondern die Maschinen sollten lernen, Menschen zu bedienen.2 Deshalb mussten Menschen lernen, sich maschinenlesbar zu verhalten. Und damit war aus Science-Fiction Wirklichkeit geworden, denn erstmals wurden maschinell nicht nur Bewegungen oder Zeitmanagement erfasst, sondern auch »Wertvorstellungen« und Gefühle von Menschen.3

Es stellte sich heraus, dass viele Soldaten die Radarschirme für überdimensionierte Ferngläser oder für ein »Fenster« in die Welt hielten. Genau da konnte man ansetzen. Man musste ihnen beibringen, dass das, was sie auf dem Bildschirm beobachteten, ein Spiel war, bei dem der Mitspieler, die Sowjetunion, alles tun würde, um einen reinzulegen. Es ging nicht nur darum, ein Signal zu registrieren. Man musste in der Lage sein, ständig die nächsten Züge des blinkenden Punkts, der der sowjetische Gegner sein konnte, vorauszusagen.

Seit die Russen über die Atombombe verfügten und ein einzelnes Flugzeug die Vernichtungskraft ganzer Luftflotten transportieren konnte, musste man strategisch völlig neu denken lernen. In der Paranoia der damaligen Zeit (die noch nicht wusste, was wir heute im Rückblick historisch wissen), wo man jederzeit mit einem Überraschungsangriff der Sowjetunion rechnete, musste sich das menschliche Verhältnis zu Informationen auf einen einfachen Code reduzieren: hinter allem das Schlimmste vermuten. Du weißt zwar nicht, wurde den Crews eingebläut, was der andere vorhat, aber du weißt, dass er ein einziges Ziel hat: dich auszutricksen.

Der grüne, leuchtende, hypnotisierende Monitor bildete nicht die »Wahrheit« ab und nicht die Welt, wie sie war. Er zeigt, wie es in einem zeitgenössischen Bericht heißt, ein »Pokerface«.4 Der Soldat am Radar musste sich selbst und den Bildschirm wie zwei Pokerspieler sehen. Alles war ein »cut-throat«-Spiel, wie Poker gerne genannt wurde, ein mörderisches Spiel. Sich als Spieler in einem Pokerspiel zu sehen hielt den Soldaten hormonell wach, stachelte ihn an und schärfte seine operative Intelligenz.

Der blinkende Punkt konnte eine harmlose Verkehrsmaschine sein oder ein russischer Atombomber – der Mensch an der Radarmaschine musste begreifen, dass »Pokerface« nicht Bewegungen im Raum, sondern strategische Spielzüge meint und genauso gut Bluffs wie die Wahrheit abbilden konnte.

Um nicht in die Falle zu laufen, gab es nur eine einzige Annahme, mit der man auf Nummer sicher gehen konnte, und die, wie die beteiligten Ökonomen wussten, in der Ökonomie gut funktioniert hatte: Vernünftig, »rational«, zu sein heißt, dass jeder nur an sich selbst denkt. Für die strategische Intelligenz hieß das: Wenn jeder so handelt, muss man auch unterstellen, dass jeder etwas vor dem anderen verbirgt, um das Spiel des Lebens zu gewinnen.

Ganz genauso wird fünfzig Jahre später die Anthropologin Caitlin Zaloom, die für ihre Forschungen zwei Jahre als Börsentraderin arbeitete, die voll automatisierte Welt der Börsenhändler beschreiben. Sie müssen ihre Aufmerksamkeit auf Zahlen konzentrieren, die nichts Festes und Stabiles mehr haben, sondern sich in Echtzeit auf den Bildschirmen in sich dauernd verändernde Signale verflüssigen.5 Jede Transaktion ist ein Spielzug, jeder Spieler denkt nur an sich, es gibt Bluffs und Überraschungsangriffe, es gibt Massenvernichtungswaffen und taktische, punktgenaue Waffen. Die Mitspieler werden permanent gescreent und Entscheidungen müssen so blitzschnell getroffen werden, dass sie nur von Computern ausgeführt werden können.

Vor allem aber: Es sind die spieltheoretischen Modelle des Kalten Kriegs, die heute von den Hedgefonds benutzt werden. Ganze Abteilungen der Investmentbanken sind damit beschäftigt, die Absichten konkurrierender Händler aus einem riesigen Datenmaterial mithilfe von Computern und der Spieltheorie in atemberaubender Geschwindigkeit zu entschlüsseln und ihr eigenes Handeln danach auszurichten.

Das hätte die, die die neue Seele für den neuen Menschen entwarfen, am wenigsten überrascht. Man kann sogar sagen: Es war das Ziel. Es waren nicht Psychologen, die die neuen Verhaltens- und Denkmodelle des »rationalen Selbstinteresses« für das Militär entwickelten, sondern Ökonomen, Physiker und Mathematiker. Die Ökonomen kannten sich aus in Märkten, in denen jeder seinen eigenen Vorteil sucht. Ihre Strategien für eine Gesellschaft, die im Egoismus überlebt, waren nie nur auf Soldaten im Kalten Krieg beschränkt. Sie erhoben den Anspruch, universal zu sein. Sie sollten überall dort funktionieren, wo Menschen Entscheidungen treffen. Im Poker, im Geschäftsleben, an den Börsen, im Krieg.6

1950 hatte der amerikanische Soziologe David Riesman in seinem Weltbestseller »Die einsame Masse« beklagt, dass in der modernen Gesellschaft jeder Mensch zu einem Radar-Operateur seines eigenen Lebens werde. Nicht mehr aus seinem Inneren geleitet, sondern von außen, ständig gezwungen, Signale anderer aufzufangen und ständig sein Verhalten den Gegebenheiten neu anzupassen.7 Jetzt drehte man seine Kritik um: Alles ist logisch, wenn man erkennt, dass die Welt mit einem Poker spielt und jeder gewinnen will.

Es klang sehr überzeugend. Es wurde, als die ersten Informationen des neuen Denkens an die Öffentlichkeit sickerten, sogar zu einem Hype. Im Laufe weniger Jahre hatte sich die »RAND Corporation«, die Organisation, der die Wissenschaftler angehörten, die die Radarcrews analysierten, unter den Schatten militärischer Geheimhaltung zur mächtigsten Denkfabrik der Vereinigten Staaten entwickelt. Es ging nicht mehr nur um die Sowjetunion. Es ging um alle.

Man hat die Geburt dieses Denkens einen »der größten Einschnitte in der intellektuellen Geschichte des Westens« genannt.8 Auf alle Fälle ist er einer der unterschätztesten. Denn nur, wenn man als Prämisse akzeptiert, dass jeder nur aus Eigennutz handelt, kann man die ganze Komplexität menschlichen Verhaltens in die Sprache der Mathematik übersetzen. Man kann Formeln schreiben, Spielzüge berechnen, Verhandlungen und Kompromisse modellieren und Menschen eine neue »Rationalität« antrainieren, die sie wie in Trance automatisch beherrschen – eine Operation, die unmöglich ist, wenn man davon ausgeht, dass jeder Mensch nur aus den Besonderheiten seines eigenen Charakters zu verstehen ist.

Entscheidend für den Durchbruch im Weltmaßstab war, dass man diese Berechnungen jetzt blitzschnell und bald schon in Echtzeit ausführen konnte. Mit den ersten Computern warteten geniale Werkzeuge nur darauf, mit den Formeln für Menschen gefüttert zu werden. Rechenmaschinen sind schlecht in Psychologie, aber sehr gut darin, Profitmaximierungen zu berechnen. Die Ökonomen fingen an, die komplexesten Entscheidungssituationen mithilfe von Computern zu kalkulieren. Auch das wurde zuerst, finanziell gut vom Militär versorgt, an der Sowjetunion ausprobiert.

Computer, die Signale auf den Radarschirmen analysierten, sagten ständig wie auf einer militärischen Börse die nächsten Züge des sowjetischen Gegners voraus und wurden immer besser darin. Was tut er? Was plant er? Was verbirgt er? Aber die Russen waren ebenso paranoid wie man selbst. Also landete man im Nu bei: Was tut er, wenn er weiß, dass ich weiß, was er plant? Die Rechner erzogen die Menschen, die mit ihnen arbeiteten. Sie demonstrierten, wie man in der modernen Welt zu denken hatte. Sie führten es ständig vor. Sie verschmolzen mit menschlichem Denken so sehr, dass schon bald kein Militärstratege glaubte, dass man überhaupt anders denken konnte.

»Lerne vernünftig zu handeln« hieß: Lerne so zu denken und zu handeln, dass du immer nur von dem Eigeninteresse aller ausgehst. Und die Operation funktioniert selbst bei Verhalten, das uneigennützig erscheint: Man kann lange darüber rätseln, warum einem ein Wildfremder 10 Euro schenkt (oder die Russen eine Abrüstungsinitiative starten). Erst wenn man versteht, so die Lehre, dass er sich selbst damit einen Vorteil verschaffen will, ist man imstande, ihn zu verstehen.

Doch dieses Denkmodell blieb bald nicht mehr auf Rüstungs- und Kriegsstrategien beschränkt. Es war nicht nur ein Werkzeug. Es entwickelte sich zu einer schleichenden, jahrzehntelangen Schulung in Egoismus. Der Computer führte vor, wie erstaunlich weit man damit kommen konnte, wenn man diese Motivation allen Berechnungen zugrunde legt. Er war eine unschuldige Maschine. Doch das, womit man ihn gefüttert hatte, entwickelte sich, wie man zu Recht bemerkt hat, von einem Trainingssystem zu einem »System der Indoktrination«.9

Kaum einer hätte in jenen frostigen Fünfzigerjahren geglaubt, dass das Menschenbild, das hier geboren wurde, heute, ein halbes Jahrhundert später, da es längst keine Sowjetunion mehr gibt, die Welt in Angst und Schrecken versetzt und soziale Beziehungen fundamental verändert. Womit wir heute zu tun haben, ist nicht das Werk einiger egoistischer Hedgefonds-Manager oder gieriger Investmentbanker. Sie sind nur ein Symptom. Damals, in der Kälte des Wettrüstens und nicht erst in den ökonomischen Krisen des 21. Jahrhunderts, ist etwas entfesselt worden, dessen Karriere erst nach dem Ende des Kalten Krieges wirklich begann.

2 Spiel

Ökonomen geben eine Antwort

Im Kalten Krieg wurde die Formel geboren, dass jeder eigennützig handelt und den anderen reinlegen will. Wer das akzeptierte, handelte vernünftig. Die Formel funktionierte, weil sich damals zwei Weltmächte gegenüberstanden, die beide die Atombombe hatten und die beide einander vollständig vernichten konnten.

Die Ökonomie hatte eine lange Tradition des selbstsüchtigen Menschen, des »homo oeconomicus«, einer Art virtuellen Doppelgängers, mit dem man sich erklären wollte, wie Menschen ticken. Den konnte man aus dem Keller, wo er zu verstauben begann, zurückholen. Denn der »homo oeconomicus« hatte bisher ein eher abseitiges und rein akademisches Leben geführt. Es gab sogar Formeln für ihn, manche noch aus dem 19. Jahrhundert.

Es ist hier nicht der Ort, die zweihundertjährige Geschichte des »homo oeconomicus« nachzuerzählen. Es wäre aber ein großer Fehler zu glauben, er sei gleichsam von Geburt als profitgieriges Monster auf die Welt losgelassen worden – wenngleich er besonders in dieser Verkleidung bereits in der frühen Neuzeit die englische Literatur unterwandert.1 Als ein Wesen, das man nicht mehr durch diffuse Leidenschaften, sondern durch seine knallharten Interessen verstehen konnte (und dazu konnten auch Begriffe wie Freiheit zählen), war der homo oeconomicus immer auch eine Figur der Aufklärung, ja bis zu einem gewissen Grad kann man ihn sogar, wie der Habermas-Schüler Axel Honneth gezeigt hat, eine Geburts-Idee der »Linken« nennen.2 Er ist eine Figur aus dem Textbuch, und kluge Ökonomen werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass er nie mehr als das sein sollte: eine Annahme, die es uns ermöglicht, nicht nur besser mit Menschen und ihren Präferenzen zu rechnen, sondern auch soziale Gesellschaftsverträge zu gestalten, die den Vorteil haben, nicht auf das wohlklingende, aber ebenso inhaltlose Schöne und Wahre und Gute zu zielen.

Und dennoch ist das nur ein Teil der Geschichte, und, wenn man so will, der bessere. Den schlechteren resümiert im Jahre 2008 beispielsweise Lynn A. Stout, Juristin an der Cornell-Universität und als Expertin für Corporate Governance und Finanzmarktregulierung eng mit den Finanzkrisen der letzten Jahre befasst, in einem einzigen Satz: »Der homo oeconomicus ist ein Soziopath.«3

Unzählige Autoren, darunter viele Ökonomen, haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten gezeigt, dass die Annahmen, die dem »homo oeconomicus« zugrunde liegen, der Vielschichtigkeit der menschlichen Psyche und der menschlichen Gesellschaft nicht gerecht werden.4 Und dennoch vertritt dieses Buch die These, dass er, den wir auf diesen Seiten Nummer 2 nennen, irgendwann in den letzten Jahren buchstäblich zum Leben erweckt worden ist und zu etwas wurde, was der verantwortungsvolle Teil seiner Schöpfer niemals wollte.

Die Gründe dafür sind keineswegs rein »ökonomischer« Natur. Sie haben zunächst damit zu tun, dass der moderne Mensch selbst nicht mehr genau weiß, was seine Identität ist, ob er eine oder viele oder gar keine hat. Zeitgenössische Philosophien haben ihm nicht helfen können, sondern den Trend verstärkt. Dadurch sank automatisch die Widerstandsfähigkeit gegen die Vereinfachungen eines Modells, das bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts in gewisser Weise immer auch aus der Spannung zu dem wirklichen Menschen lebte.

Es war der erste große Sieg des »ökonomischen Imperialismus«, der alles zur Ökonomie machte, aber es war deshalb ein Sieg, weil der Gegner sich buchstäblich auflöste (und kann deshalb den Ökonomen nicht vorgeworfen werden, sie besetzten gleichsam den Raum, den ein anderer freigab): Die Subjektivität oder Individualität des Menschen wurde ersetzt durch seine Präferenzen (die von außen kommen, d. h. wie sie entstehen und warum sie sich verändern, ist ohne Bedeutung) und die Nutzenmaximierung, die er sich versprach.5 Mehr brauchte man jetzt nicht mehr. Der homo oeconomicus ist, nach den Worten Michel Foucaults, eben nicht nur ein wirtschaftliches, sondern ein politisches Wesen, und er hat in den Augen der Macht den Vorteil, dass er »eminent regierbar« ist. 6

Das allein hätte aber noch nicht ausgereicht, Nummer 2 lebendig werden zu lassen. Ohne den Computer, ohne den elektronischen Funken, der zwischen Maschine und Mensch übersprang, wäre er immer nur ein Modell geblieben; eine Theorie, die den Vorteil hatte (anders als der Marxismus), nichts anderes zu sein als das.

»Nach dem Fall« hat nicht ohne Pathos der Ökonom und Philosoph John Davis diese Vertreibung aus dem Paradies der Unverbindlichkeit genannt.7 Sie vollzog sich in zwei Schritten: erstens durch das Auftauchen der ersten Computer im militärischen und wissenschaftlichen Bereich in den Fünfzigerjahren, zweitens (mit Folgen, die gewaltiger sind als die Erfindung der Dampfmaschine) durch den Siegeszug des »demokratisierten« Computers auf den Massenmärkten seit den frühen Achtzigerjahren. Die Verschmelzung von Wissenschaft und Wissenschaftlern und ganzer Gesellschaften mit ihren Technologien, das Entstehen von Mensch-Maschine-Mischwesen, nennt man sie nun Androiden oder Cyborgs, wird uns in diesem Buch immer wieder beschäftigen. Eine Revision des Menschenbildes im Zeichen dieser Verschmelzung fand zeitgleich in allen Disziplinen statt, und ironischerweise lief diese Revision oft auf ein Modell hinaus, das die Ökonomen als »homo oeconomicus« in ihren Schubladen und in ihren Köpfen hatten. Die Kognitionswissenschaften beispielsweise, die in der Nachkriegszeit eine wichtige Rolle zu spielen begannen, waren nicht mehr an der Vermenschlichung der Maschine, sondern, wie Jean-Pierre Dupuy es formuliert, an der Mechanisierung des Geistes interessiert.8 Kybernetik, die Wissenschaft, die als erste mit dem Computer verschmolz, löste, nach dem berühmtem Wort von Martin Heidegger, die Philosophie ab.

Wissenschaft benutzt Technologien nicht nur als Werkzeuge, um etwas zu entdecken oder zu verändern, sondern sie entdeckt und verändert immer das, wozu die Werkzeuge sie überhaupt erst in die Lage versetzen. Die Präferenzen von Menschen und bald einer ganzen Gesellschaft in Echtzeit zu berechnen, wie es am Vorabend von Big Data erkennbar wird, ist eben erst möglich, wenn es Werkzeuge gibt, die es gestatten.9

Dass das Hirn ein Computer ist und mentale Prozesse wie Berechnungen eines biologischen Computers ablaufen – eine These, für die man in den Fünfzigerjahre noch große Überzeugungsarbeit leisten musste – wurde durch den bloßen Gebrauch der Rechner jedermann intuitiv plausibel.

Nichts anderes aber hatte auch Nummer 2 immer von sich behauptet: Das rationale Individuum ist eine Rechenmaschine. Es ist reduzierbar auf das, was es egoistisch will und wählt, seine sogenannten Präferenzen, und die lassen sich mathematisch berechnen. Die Formalisierung der Ökonomie durch mathematische Formeln nach dem Zweiten Weltkrieg (Davis nennt sie einen »Rüstungswettlauf« unter Ökonomen um Prestige und Einfluss) erlaubt, dass man Individuuen tatsächlich nur noch als »mathematische Objekte sieht«.10

Jeder Ökonom würde zugeben: Die Annahmen über den Menschen sind vereinfachend. Sie sind es auf eine derart radikale Weise, dass, wie man zu Recht hervorgehoben hat, »das Individuum auf den Punkt eines Nichts heruntergebrochen wird, mit Ausnahme der Eigenschaft seiner automatenhaften Präferenzen«.11 Was aber, wenn die Wirklichkeit zu genau diesem Automaten wird? Was, wenn aus der Welt zunehmend eine große Maschine wird, die genau so operiert? Das Problem sind nicht die simplifizierten Modelle. Das Problem ist, dass wir Zeugen eines Umbruchs werden, in dem diese Modelle die Wirklichkeit codieren und dadurch selbst wirklich werden. Und nicht nur das: sie entscheiden darüber, was rational ist und was nicht. Wem das zu abstrakt ist, der frage sich, welche »Präferenzen« ihm Google oder Facebook vorgeben, oder, was im Augenblick sehr viel dramatischer ist, welche Börsenalgorithmen die Präferenzen des Traders abbilden. Die Annahmen von Nummer 2 sind beim Lesen eines E-Books, bei »smarten« Geräten, in Finanzmärkten, im politischen Leben alle immer schon implantiert. Sie sind, wie Michael Callon sagt, »performativ«, sie schaffen die Wirklichkeit, die sie modellieren.12

Dieser imperialistische Sieg hat eine Vorgeschichte, die unmittelbar mit dem Kalten Krieg zu tun hat.

Dass jeder Mensch in Märkten gewinnen und nicht verlieren will, ist eine Banalität. Dass man niemandem vorwerfen kann, dass er ein Geschäft machen will, ist trivial. Das Neue aber war, dass jetzt ausschließlich die egoistische Motivation zählte und dass in ihrem Bilde eine ganze Gesellschaft modelliert werden sollte. Die stillschweigende Übereinkunft, dass Menschen in Wahrheit vielschichtiger, reicher, widersprüchlicher und mora-lischer waren, als es die Theorie behauptete, verblasste in den Fünfzigerjahren und wurde in Teilen der ökonomischen Zunft bald schon vergessen. Es galt jetzt als absolut vernünftig und keinesfalls moralisch fragwürdig, so zu handeln, wie es die Theorie vorschrieb.

Überhaupt spielte Moral aus durchaus verständlichen Ursachen keine große Rolle. Der Grund lag auf der Hand: Es wäre im Kalten Krieg mörderischer Leichtsinn gewesen, irgendetwas anderes zu wollen, als in diesem Spiel Gewinner zu sein, an irgendetwas anderes zu denken als an den eigenen Vorteil. Doch was im militärischen Bereich sinnvoll war, ließ sich auf diesen nicht beschränken. Es waren Modelle, die nicht nur auf das Verhältnis zum Gegenspieler zielten, sondern auf das Verhältnis des Menschen zur Welt.

Viele der Ökonomen, die in den Fünfzigerjahren in der RAND Corporation arbeiteten oder das Militär berieten, gehörten der sogenannten »neoklassischen« Schule an, die an der Universität Chicago ihre Heimat hat und die im Bereich der Ökonomie schon eine ganze Weile lehrte, dass Menschen egoistisch und Märkte Wahrheitsmaschinen sind. Jetzt sahen sie die Chance gekommen, eine reine Behauptung zu einem Naturgesetz zu machen.

Sie fingen an, Formeln und Algorithmen zu schreiben, und die Formeln konnten wieder von Rechnern verstanden werden. Schon das war neu. Bislang – anders, als man heute denkt – war es in den Wirtschaftswissenschaften verpönt, menschliches Verhalten in mathematische Modelle zu gießen. Doch wenn man annahm, dass jeder Mensch seinen eigenen Vorteil sucht, konnte man sein Verhalten mathematisch bestimmen.

Diese oft genialen Wirtschaftswissenschaftler wurden nicht nur Experten für die Automatisierung des Militärs, sondern auch für die Automatisierung von Märkten und die Automatisierung von Menschen in diesen Märkten. Sie waren Pioniere einer Welt, die noch ein halbes Jahrhundert davon entfernt war, dass sich jeder Mensch mit den Computern und Märkten vernetzte. Aber alle ihre Formeln konnten von Rechnern verstanden und umgesetzt werden.

Sie erfanden etwas, was sie die »Spieltheorie« nannten. Und mithilfe dieser Erfindung holten sie jenes Denkmodell in das Spiel unseres Lebens. Viele der Ökonomen, die damals bei RAND dabei waren, erhielten nach Ende des Kalten Krieges den Nobelpreis für Wirtschaft. Er war die Krönung eines gewaltigen Unterfangens, das die Logik des Kalten Kriegs in die Zivilgesellschaft übertrug. Am Ende, in dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, war das Ego-Modell tatsächlich zum Naturgesetz geworden. Und niemand kann bezweifeln: Es funktionierte besser als all jene verblasenen überindividuellen Werte-Ideologien mit ihren angeblichen sittlichen Rollenverpflichtungen, in deren Namen im 20. Jahrhundert ein mörderischer Kollektivismus (oder Rassismus) sich entfalten konnte. Der gesamte globale Organismus, schrieb der Chef-Leitartikler des »New Yorker« unter dem Eindruck des 11. September, »basiert auf einer Art Urvertrauen – die unsentimentale Erwartung, dass Menschen, sowohl Einzelne wie die gesamte Gesellschaft, mehr oder weniger aus rationalem Eigennutz handeln«.13

Aber diese Rationalität kostet im Zeitalter »rationaler Maschinen«, wie wir allmählich zu begreifen lernen, einen Preis. Und bis heute macht sich eine Welt in Trance, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum bewusst, dass diese Ökonomen die menschliche Seele tief greifender verändert haben als jede Psychologie.

Sie hatten keine Waffen gebaut, keine Waren produziert und auch keine Prozessoren gelötet, aber dafür wesentlich die Programme für die drei großen Maschinen geschrieben, die die Welt bis heute bestimmen: das Militär, der Markt und der Computer. Sie hatten dort angesetzt, wo Menschen am verführbarsten sind: bei der Chance, Profite zu machen. Profite im großen Spiel des Kalten Kriegs, Profite im Leben.

Das Militär im Kalten Krieg wollte ab Mitte der Fünfzigerjahre mithilfe des Computers einen rationalen, berechenbaren, ermüdungsfreien Ersatz für den Menschen, einen »Agenten«, der nur ans eigene Überleben dachte und das Risiko eines Angriffs ebenso beurteilen konnte wie die beste Chance zum Zuschlagen.

Und wie sich in den darauffolgenden Jahren herausstellte, waren das dieselben Qualifikationen, die die neuen Wirtschaftsmärkte wollten: einen Menschen, der Profite machen wollte, Risiken berechnen konnte und wusste, wann er bei einer Auktion zuschlagen musste.

Doch was stört bei der Berechnung der Zukunft mehr als der Mensch? Er ist ein wandelndes Risiko. Er schläft nicht nur manchmal bei der Arbeit ein, er ist widerspenstig und widersprüchlich, lässt sich nicht in die Karten schauen und hat auch sonst so viele unnütze und unvernünftige Dinge im Kopf, dass jede Kalkulation versagt.

Seit Jahrhunderten hatten Leute herausfinden wollen, wie der Mensch tickt, und sie alle, ob Wahrsager, Philosophen, Psychologen, waren letztlich gescheitert. Wie sollten ausgerechnet Ökonomen die menschliche Unberechenbarkeit auf eine Formel bringen können?

Ihre zündende Idee: Sie fragten nicht mehr, wie der Mensch tickt. Sie fragten, wie der Mensch ticken müsste, damit ihre Formeln funktionierten. Und die Antwort lag auf der Hand: Alle Probleme mit dem Unsicherheitsfaktor »Mensch« lösen sich in Wohlgefallen auf, wenn man zwingend annimmt, dass er bei dem, was er denkt und tut, immer nur an seinen eigenen Vorteil denkt. Diese Theorie hatte den Vorteil, dass sie immer funktionierte und alles berechenbar machte. Das Gegenüber ist undurchsichtig? Es wird durchsichtig wie Glas, wenn man annimmt, dass es nur seinen Profit vergrößern will. Menschen helfen anderen Menschen? Sie tun es, weil sie sich selbst etwas Gutes tun wollen.

Die Spieltheoretiker hatten dem Menschen nicht einmal die Schädeldecke öffnen müssen, um sie zu dirigieren. Sie hatten ihn nur auf eine profitmaximierende Formel bringen müssen. Sie brauchten keine Demagogen, keine Flugschriften, keine Ideologen. Die Bücher, in denen der rationale Egoismus verkündet wurde, waren hoch abstrakt und für viele nicht zu verstehen. Die neue Spieltheorie griff durch pure Praxis in die Alltagswelt über. Man konnte damit alles Mögliche berechnen, nicht nur den besten Weg, um die Russen einzuschüchtern. Wann muss man ausweichen, wenn zwei Autos aufeinander zurasen, und der Erste, der ausweicht, das Spiel verliert? Das ließ sich gut auf Auktionen oder Gehaltsverhandlungen anwenden.

Doch die neue Lehre, die in jedem Menschen eine Ego-Maschine sah, der beim Lebenspoker gewinnen will, stand so sehr im Widerspruch zu Erziehung und Alltagsmoral, dass es am Anfang, als sie ganz frisch und neu war, intuitive Widerstände gab.

Die Menschen »draußen«, außerhalb der Thinktanks und Bunker, spürten in den Fünfzigerjahren, dass irgendetwas vorging. Es war kein Zufall, dass sie plötzlich von geradezu paranoiden Ängsten erfüllt waren, manipuliert zu werden.

Hollywood malte sich und ihnen Albträume aus, in denen Aliens die Hirne der Menschen umbauen, ihre Gedanken mit Strahlenpistolen beeinflussen oder sie einer – meist kommunistischen – Gehirnwäsche unterziehen. Orwells »1984« beschrieb eine Welt, in der »Teleschirme« den Menschen indoktrinieren und überwachen. Das konnte man noch als Parabel auf totalitäre Systeme lesen. Aber keine zehn Jahre später regte sich in der breiten Öffentlichkeit der Verdacht, dass es nicht nur fremde oder eigene Militärs, sondern der Markt selbst war, der die Menschen kontrollierte und umerzog.

1957 erschien der Bestseller »Die geheimen Verführer« von dem amerikanischen Journalisten Vance Packard. In dem war von Werbeagenturen die Rede, die Hypnotiseure beschäftigen, und von unterbewussten Werbebotschaften, die in einer Kinovorführung in New Jersey die Zuschauer dazu brachten, wie in Trance Eis zu kaufen.

Das blieb zwar ein Mythos, aber die Hysterie, die er noch Jahre später auslöste, beweist, dass immer mehr Menschen damals das Gefühl hatten, dass sie im modernen Leben immer seltener eine wirklich rationale Wahl hatten. Packard hatte davon gesprochen, dass ihnen eine andere Intelligenz eingepflanzt und ein konsumblindes Verhalten antrainiert werden sollte. Also Indoktrination nicht durch Bücher, Worte oder Argumente, sondern mithilfe von Technologien, die einem ihre Spielregeln aufzwingen – seither eine nie mehr verstummte Angst der westlichen Industriegesellschaften.

Das war damals alles noch ziemlich roh und einfältig und verschwörungstheoretisch argumentiert. Man glaubte, böse Mächte würden einfach in die Hirne der Menschen eindringen, ein paar Schrauben drehen und rote Knöpfe drücken, und der manipulierte Mensch wäre erschaffen.

In Wahrheit ging es viel einfacher: Man verdoppelte den Menschen. Der »homo oeconomicus« heißt im digitalen Zeitalter nun der »ökonomische Agent«: ein Handelnder für den Menschen, in Computercode gegossen nach den Gesetzen der Ökonomen.

Erst übernahm er strategische Entscheidungen beim Militär, dann ökonomische Entscheidungen in Märkten und schließlich immer häufiger soziale Entscheidungen im menschlichen Leben. Er muss nicht intelligent oder intuitiv sein, er muss nur nach den Regeln der Spieltheorie rechnen können.

Doch er kann noch mehr. Er trainiert die Menschen. Er hat offenbar die Macht, die Wertesysteme von Menschen tiefgreifend zu verändern. Keiner hat das im Jahre 2008 so unverhohlen ausgesprochen wie der Mann, den sie in der Kaffeeküche seiner Firma nur »Darth Vader« nannten.

Er hieß Joseph M. Gregory, seine Firma war Lehman Brothers. Und Gregory, der »Chief Operating Officer« der Investmentbank, hatte verstanden, dass die Qualifikation des Managers der neuen Zeit darin bestand, mit den sekündlich um ihren Vorteil feilschenden Maschinen des Todessterns zu verschmelzen.

Bereits unmittelbar vor der Explosion der Immobilienblase im Jahre 2008 war Gregory von Mitarbeitern gefragt worden, warum er bei Lehmann Leute beschäftigte, die von dem Geschäft nichts verstanden. »Es ist nichts Individuelles«, war seine Antwort, »es ist die Macht der Maschine.«14