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Nr. 88

– ATLAN exklusiv Band 1 –

 

In der Spinnenwüste

 

Unter Verrätern und Mördern – ein Abenteuer des jungen Atlan aus dem Jahre 10.496 v.A.

 

von Ernst Vlcek

 

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Im Großen Imperium der Arkoniden schreibt man das Jahr 10.496 v.A. (von Arkon) – eine Zeit, die dem Jahr 9003 v. Chr. entspricht, eine Zeit also, da die Erdbewohner in Barbarei und Primitivität verharren und nichts mehr von den Sternen oder dem großen Erbe des untergegangenen Lemuria wissen.

Arkon hingegen – obzwar im Krieg mit den Maahks – steht in voller Blüte. Imperator des Reiches ist Orbanaschol III., ein brutaler und listiger Mann, der, so geht das Gerücht, den Tod seines Bruders Gonozal VII. inszeniert haben soll, um selbst die Herrschaft übernehmen zu können.

Auch wenn Orbanaschol seine Herrschaft gefestigt hat – einen Mann hat der Imperator von Arkon zu fürchten: Atlan, den rechtmäßigen Thronerben, der kurz nach dem Tode Gonozals zusammen mit dessen Leibarzt spurlos verschwand.

Doch Atlan, der beim Tode seines Vaters im frühesten Kindesalter stand, ahnt noch nichts von seiner wirklichen Herkunft. Er, der inzwischen zum Mann herangereift ist, lebt zusammen mit Fartuloon, dem alten Leibarzt Gonozals, auf einem abgelegenen Planeten und besteht ein gefährliches Abenteuer IN DER SPINNENWÜSTE ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan – Der junge Arkonide kennt seine wahre Herkunft nicht.

Fartuloon – Atlans Ausbilder und Beschützer.

Eiskralle – Ein Chretkor.

Azhira, Prontier, Komyal, Lay Manos und Waccor – Bewohner von Marauthans Ruinen.

Vafron – Ein Mörder in arkonidischer Flottenuniform.

1.

 

Der Bauchaufschneider Fartuloon:

Gortavor war eine junge, wilde Welt, auf der die arkonidische Zivilisation und die ungezähmte Natur eine Art Symbiose eingegangen waren.

Da von Seiten der Arkoniden kein Interesse bestand, den Planeten zu kultivieren und systematisch zu besiedeln, gab es nur in einem weiten Umkreis um den Raumhafen eine bescheidene Industrie und die nötigsten technischen Anlagen. Die Landkarte von Gortavor wies dagegen noch große weiße Flächen auf, die jene Landstriche bezeichneten, die noch von keinem Arkoniden betreten worden waren.

Obwohl die Zivilisation hier noch kaum Fuß gefasst hatte – oder gerade deswegen – erfreute sich der Planet eines regen Zustroms von Siedlern, die den verschiedensten Völkern entstammten und aus allen Teilen des Großen Imperiums und aus fernen, unbekannten Regionen der Galaxis kamen.

Es handelte sich durchwegs um Abenteurer, gescheiterte Existenzen und andere zwielichtige Gestalten. Sie waren es, die das Gesamtbild von Gortavor prägten – sie machten aus dem Planeten einen Warenumschlagplatz für Schmuggler und Hehler, ein Paradies für Diebe und Betrüger, ein Asyl für Mörder, Verfemte und alle Gejagten.

Gortavor lag in der Randzone des Großen Imperiums, was einer der Gründe dafür war, warum sich Fartuloon hier niedergelassen hatte. Der Arm Orbanaschols III., dem Imperator des arkonidischen Reiches, war lang, aber bis hierher reichte er offenbar nicht.

Zumindest war Fartuloon bisher vor seinem Zugriff sicher gewesen.

Als Leibarzt Armanck Declanters genoss er großes Ansehen und eine gewisse Immunität. Der Tato, wie der offizielle Titel des arkonidischen Planetenverwalters lautete, schirmte ihn vor allen Gefahren ab.

Aber obwohl Fartuloon nun schon seit nahezu dreizehn Jahren in Sicherheit lebte, hatte seine Wachsamkeit nicht nachgelassen.

Auf seinem Leben lasteten noch die Schatten der Vergangenheit, und die Erinnerung tickte in ihm wie eine Zeitbombe. Eines Tages würde er diese Zeitbombe zünden.

Aber noch war der Zeitpunkt, die Vergangenheit lebendig werden zu lassen, nicht gekommen. Noch musste er schweigen, noch musste er das Geheimnis für sich behalten. Wie lange – Tage, Wochen, Jahre?

Nein, dessen war er sicher, er würde noch vor Ablauf eines Jahres Atlan gegenüber Rechenschaft ablegen. Denn die Zeit war reif.

 

*

 

Das Tarkihl versank hinter uns am Horizont. Vor uns breitete sich die endlose Spinnenwüste aus, war silbrig überdacht.

Ich saß angespannt hinter dem Steuer des Drifters. Den Platz neben mir hatte Fartuloon eingenommen. Er starrte mit ausdruckslosem Gesicht aus der Kanzel. Ich hätte zu gerne gewusst, was in seinem haarlosen Schädel vorging.

Als ich ihm von der Seite einen Blick zuwarf, richtete er kurz seine gelben Augen auf mich. Aber sie waren ausdruckslos.

»Beschäftigt dich der Notruf, Fartuloon?«, fragte ich, nur um etwas zu sagen.

»Ich denke nur daran, dass Menschen in Not geraten sind, denen wir helfen müssen«, antwortete er.

Ich versuchte nicht, tiefer in ihn zu dringen. Mir machte das Schweigen nichts aus. Ganz im Gegenteil, ich war sogar froh, mich auf die Fahrt konzentrieren zu können.

Einen Drifter zu steuern, war an und für sich ein Kinderspiel. Das Raupenfahrzeug war nur etwa mannshoch, ebenso breit und dreimal so lang, hatte eine gute Bodenhaftung und konnte praktisch jedes Hindernis überwinden. Für die Fahrt durch Wüstensand war der Drifter besonders geeignet. Und dennoch war es ein gewisses Wagnis, damit in die Spinnenwüste vorzustoßen.

Denn außer unzähligen unbekannten Gefahren gab es hier eine ständige Bedrohung, die der Wüste den Namen gegeben hatte. Zwei Meter über dem Boden spannte sich über das gesamte Wüstengebiet ein Netz aus armdicken Silbersträngen. Niemand wusste, wer dieses Netz erschaffen und welchem Zweck es ursprünglich gedient hatte. Man vermutete aber, dass die Erbauer jene Wesen gewesen waren, die auch das Tarkihl errichtet hatten.

Unzählige Glücksritter waren ausgezogen, um den Anfang oder das Ende des Silbernetzes zu finden, aber keiner von ihnen war zurückgekehrt. Die Silberstränge behielten ihr Geheimnis für sich.

Aber einiges hatte man doch darüber in Erfahrung gebracht.

Manchmal begann das endlose, anscheinend in sich geschlossene Netz zu vibrieren und zu summen. Die Vibrationen und der gespenstische Klang schlug alle Lebewesen in den Bann und verursachte bei ihnen Halluzinationen, an denen schon unzählige Wüstenwanderer zerbrochen waren.

Ich selbst hatte das Vibrieren und Summen des Spinnennetzes noch nie erlebt und konnte mir auch nicht vorstellen, dass man ihm verfiel, wenn man sich mit der nötigen Willensanstrengung dagegen wehrte.

»Es sind schon ganz andere als du schwach geworden, Atlan«, hatte Fartuloon gemeint, als ich ihm meine diesbezüglichen Überlegungen mitgeteilt hatte. Das ärgerte mich, denn es ließ mich vermuten, dass Fartuloon meine Fähigkeiten unterschätzte.

Diese Äußerung hatte er aber schon vor einiger Zeit getan. Inzwischen schien er seine Meinung über mich geändert zu haben. Manchmal erschien es mir nun, dass er mich als gleichwertig anerkannte.

So wie an diesem Morgen, als der Notruf aus der Wüste im Tarkihl eingetroffen war. Fartuloon hatte nichts dagegen gehabt, dass ich das Steuer des Drifters übernahm. Das wertete ich als stille Anerkennung, und es erfüllte mich mit Stolz.

Ich nahm mir vor, Fartuloons Vertrauen nicht zu enttäuschen und den Drifter sicher ans Ziel zu bringen.

»Es ist heiß«, sagte Eiskralle hinter mir. »Bei dieser Hitze werde ich noch zerfließen.«

Ich musste unwillkürlich grinsen Eiskralles Furcht vor extremer Hitze und zu großer Kälte war schon beinahe krankhaft. Aber ich tat ihm den Gefallen und erhöhte die Kapazität der Klimaanlage. Gleich nach unserem Start, hatte er sich über die niedrige Temperatur im Drifter beschwert, so dass ich die Heizung einschalten musste.

»Ist es Euch so recht, edler Herr?«, erkundigte ich mich spöttisch.

»Danke, Atlan«, sagte Eiskralle, ohne auf meinen spöttischen Tonfall einzugehen. »Ich spüre, wie sich meine Körperstruktur wieder festigt.«

Vor uns tauchte plötzlich eine Sanddüne auf, die fast bis zum Silbernetz hinaufreichte.

»Ausweichen!«, sagte Fartuloon.

Aber ich lachte nur.

»Dieses Hindernis nimmt der Drifter mit Leichtigkeit!«

Wir erreichten die Dünen, und ich schaltete die Saugdüsen ein, die seitlich der Raupenketten angebracht waren und hauptsächlich dazu dienten, Hindernisse wie diese Düne abzutragen.

Ich drosselte die Geschwindigkeit, während die Saugdüsen aufheulten und in ihrem Sog die Düne immer niedriger wurde. Der Sand wurde durch ein Rohrsystem zum Heck des Drifters geleitet und dort durch ein Gebläse ausgestoßen.

Plötzlich gab es ein schepperndes Geräusch, und das Heulen der Düsen ging in ein Dröhnen über, das den Drifter vibrieren ließ.

»Was ist das?«, rief ich überrascht und warf Fartuloon einen fragenden Blick zu.

Doch noch bevor ich von ihm Antwort erhielt, sah ich durch die Wand aus feinstem Sandstaub einige schemenhafte Gestalten auf unser Raupenfahrzeug zukommen.

Jetzt begriff ich: Die Sanddüne war eine Falle der Wüstenbewohner!

Ohne lange zu überlegen, fuhr ich den Drifter rückwärts aus der Düne heraus, wendete ihn um neunzig Grad und fuhr mit Höchstbeschleunigung davon.

Aber kaum war ich aus der Sandwand, da tauchte direkt vor uns eine weitere Düne auf. Ich konnte ihr gerade noch ausweichen und fuhr einen der Wüstenbewohner nieder, der plötzlich vor dem Bug des Kettenfahrzeuges auftauchte. Sein weiter Umhang breitete sich aus, flatterte, für einen Moment sah ich sein verzerrtes Gesicht ganz deutlich – dann verschwand er unter den Raupenketten.

Der Drifter rollte über ihn hinweg. Wir erreichten wieder freies Gelände, vor uns waren keine weiteren Hindernisse mehr. Dennoch fuhr ich weiter, als seien alle Dämonen der Unterwelt hinter uns her.

»Du kannst wieder langsamer fahren«, meinte Fartuloon. »Die Gefahr ist vorbei.«

Ich drosselte die Geschwindigkeit und warf ihm einen wütenden Blick zu.

»Warum hast du mich nicht früher gewarnt?«, fragte ich ihn ärgerlich. »Du hast doch erkannt, dass die Düne eine Falle der Wüstenbewohner war. Du musst gewusst haben, dass sie unter dem Sand allerlei Gerümpel versteckt haben, um unsere Saugdüsen zu verstopfen. Warum hast du mich nicht darauf aufmerksam gemacht?«

»Ich dachte, du würdest die Falle von selbst erkennen«, antwortete Fartuloon gleichmütig.

Obwohl er es nicht vorwurfsvoll sagte, deutete ich es als Vorwurf.

»Schön, ich habe die Falle nicht sofort erkannt«, sagte ich. »Aber als die Situation kritisch wurde, da reagierte ich richtig. Es ist mir auch ohne deine Unterstützung gelungen, den Drifter aus dem Gefahrenbereich zu bringen.«

»Dafür gebührt dir meine vollste Anerkennung«, meinte Fartuloon. »Und dennoch habe ich aus diesem Vorfall eine für mich tröstliche Erkenntnis gewonnen.«

»Welche?«, erkundigte ich mich angriffslustig.

»Dass der Schüler den Lehrer doch noch nicht übertrifft.«

Unsere Blicke trafen sich, und plötzlich mussten wir beide lachen. Bisher hatte ich in Fartuloon nur meinen Lehrmeister, meinen Beschützer und eine Art Vater gesehen. Doch in diesem Augenblick merkte ich, dass sich unser Verhältnis zueinander geändert hatte – es war eine Freundschaft unter Männern daraus geworden.

»Mir ist kalt«, hörte ich Eiskralle vom Rücksitz sagen. »Ich befürchte, dass mein Körper erstarrt.«

Ich seufzte, wischte mir den Schweiß von der Stirn und schaltete die Klimaanlage auf »Heizung«.

2.

 

Der Bauchaufschneider Fartuloon:

Er hatte Atlan eine gediegene Ausbildung gegeben, ihn in allen Wissensgebieten unterrichtet, ihn in alle Kampfdisziplinen geschult und ihn an seinem unermesslichen Erfahrungsschatz teilhaben lassen.

Mit siebzehn Jahren war Atlan nun ein vollwertiger Mann, der keinen Lehrmeister mehr brauchte, sondern nur noch durch die eigene Erfahrung lernen konnte.

Fartuloon konnte nicht mehr viel für ihn tun, Atlan musste seine Persönlichkeit aus eigener Kraft und eigener Initiative formen. Und doch war noch ein schwerer Eingriff in Atlans Schicksal nötig: Um seine Zukunft gestalten zu können, musste Fartuloon die Geister der Vergangenheit heraufbeschwören.

 

*

 

»Da!«, sagte Fartuloon und deutete nach vorne.

Die Sonne stand bereits hoch, so dass das Netz der Silberstränge verwirrende Schatten auf die Wüste warf. Dadurch wurde meine Sicht behindert.

Ich dachte, Fartuloon hätte wieder ein Hindernis entdeckt, deshalb drosselte ich die Geschwindigkeit abrupt. Aber dann sah ich, was er meinte.

Durch eine Lücke im Netz sah ich einen großen Raubvogel auf einem der armdicken Stränge hocken. Er lebte nicht mehr, war völlig gebleicht und wirkte verwelkt oder mumifiziert.

Ich steuerte den Drifter unter ihm hindurch.

Bilder wie dieses waren kein seltener Anblick in der Spinnenwüste. Wenn ich die suggestive Wirkung der Silberstränge auch noch nie zu spüren bekam, so hatte ich schon viele gesehen, die auf eine andere Art und Weise Opfer des Spinnennetzes wurden. In den Silbersträngen wohnte eine unheimliche, tödliche Kraft.

Wer mit dem Spinnennetz in Berührung kam, war unrettbar verloren. Sein Blut verkochte in Gedankenschnelle – und zurück blieb eine ausgetrocknete, welke Mumie.

Es war ein schneller, aber nichtsdestoweniger schrecklicher Tod.

Ich ertappte mich bei der Überlegung, wie es wohl Eiskralle ergehen mochte, wenn er das Spinnennetz berührte. Denn in seinen Krallen wohnte eine ähnlich unheimliche Kraft wie in den Silbersträngen.

»Ist dir heiß oder kalt?«, erkundigte ich mich bei dem Chretkor.

»Nein, die Temperatur ist gerade recht«, antwortete er zu meiner Überraschung. Ich drehte mich kurz zu ihm um, musste mich aber sofort wieder abwenden. Obwohl an seinen Anblick gewöhnt, war es mir in dem kurzen Augenblick nicht möglich, seine Gesichtszüge in dem kristallenen, transparenten Kopf zu erkennen.

Eiskralle verdankte seinen Namen nicht nur der Tatsache, dass jegliche organische Materie, die er mit seinen zu Krallen geformten Händen anfasste, zu Eis wurde.

Er wirkte auch in seiner Erscheinung, als sei er aus Eis gehauen. Sein Körper, sein Kopf und seine Gliedmaße waren völlig transparent, so dass das bunte Gewirr von Muskeln, Nervenfasern, Arterien und Organen zu sehen war. Es war auch für Leute, die ständig mit ihm zu tun hatten, nicht immer leicht, in seinem Gesicht zu lesen. Denn die Transparenz seines Kopfes verwirrte, und es fiel schwer festzustellen, ob die verschiedenen Sinnesorgane innen oder außen saßen.

Er war von humanoider Gestalt, wenngleich er nur einen zwergenhaften Wuchs besaß und mir selbst in aufgerichtetem Zustand nur knapp bis zur Brust reichte.

Es klang seltsam, aber Eiskralle liebte die Wärme; je wärmer es wurde, desto beweglicher wurde er auch. Aber er fürchtete extreme Hitze, weil er dann zu zerfließen fürchtete. Mindestens ebensolche Angst hatte er vor extrem niedrigen Temperaturen, weil er dann glaubte, schon durch die geringste Erschütterung in lauter Einzelkristalle zu zerfallen.

Er lebte ständig mit dieser Angst vor Hitze und Kälte, sie war sein wunder Punkt. Und weil er sie geistig nicht verkraften konnte, so sprach er ständig darüber und verlangte, sofern es die Gegebenheiten zuließen, immer wieder Temperaturkorrekturen.

Eiskralle – so nannten wir den Chretkor, weil er keinen Namen besaß.

»Ist die Temperatur so recht?«, erkundigte ich mich.

»Ja, sicher, doch. Ich fühle mich ganz ausgezeichnet«, antwortete Eiskralle unwirsch. »Wieso fragst du dauernd? Willst du dich über mich lustig machen?«

Ich hob abwehrend die Hände. Noch bevor ich etwas entgegnen konnte, sagte Fartuloon:

»Bist du sicher, dass der Kurs stimmt, Atlan?«

»Absolut.«

Ich wartete darauf, dass Fartuloon seine Frage näher erklärte, aber er schwieg. Es hätte ja sein können, dass ihm etwas aufgefallen war, was meiner Aufmerksamkeit entging. Deshalb überprüfte ich noch einmal alle Instrumente, konnte aber nichts feststellen, was auf eine Kursabweichung hinwies.

»Wir fahren in die Richtung, in der Marauthans Ruinen liegen«, erklärte ich. »Und von dort ist der Notruf gekommen.«

Fartuloon nickte, dass die Speckfalten an seinem Kinn hervortraten.

Er war um fast einen Kopf kleiner als ich und ziemlich korpulent. Man würde ihn als fett bezeichnen, wenn man nicht wusste, dass sich seine Körpermassen fast nur aus Muskelsträngen zusammensetzten; er besaß ungeheure Körperkräfte.

Sein Schädel war haarlos, dafür wurde seine untere Gesichtshälfte von einem schwarzen, gekräuselten Vollbart überwuchert. Die klugen, gelben Augen waren in dicke Fettwülste eingebettet und verschwanden beinahe darin.

Auf Kleidung legte er keinen besonderen Wert; wenn man die adeligen Arkoniden zum Vergleich heranzog, die in einem wahren Rausch von Prunksucht durch das Tarkihl stolzierten, so wirkte er gegen die sogar ärmlich gekleidet. Er trug immer ein und denselben Harnisch, dem man ansah, dass er schon vor etlichen Jahren geschmiedet worden war. Darauf angesprochen, warum er sich nicht von dem verbeulten und blankgewetzten Brustpanzer trennen wollte, meinte er nur, dass er eine Erinnerung an schönere Zeiten sei.

Einzelheiten darüber konnte nicht einmal ich ihm entlocken, wenn wir unter vier Augen waren. Ich hatte es auch schon längst aufgegeben, ihn auszuhorchen zu versuchen. Wenn er nicht von selbst sein Geheimnis lüften wollte, dann sollte er es eben bleiben lassen.

Im Tarkihl kursierten die wildesten Gerüchte über ihn, und wenn manche von ihnen auch haarsträubender Unsinn waren, so besaßen andere bestimmt ein Körnchen Wahrheit.

Niemand wusste, woher er kam und was er früher getan hatte. Aber er machte kein Hehl daraus, dass er einst erfolgreich als Gladiator gekämpft hatte. Aus dieser Zeit hat er mir die unwahrscheinlichsten Geschichten erzählt. Als ich noch jünger war, da war ich davon so fasziniert, dass ich mir geschworen hatte, in seine Fußstapfen zu treten und seine Heldentaten zu übertreffen.

Seltsamerweise nahm er meinen Schwur, den ich im Alter von etwa zehn Jahren ausgesprochen hatte, ernst. Ich erinnere mich noch heute eines Ausspruchs, der mich damals nachhaltig beeindruckt hatte.

»Wenn du einmal groß bist, Atlan«, hatte er gesagt, »dann wirst du mich in allem übertreffen, dessen bin ich sicher. Du wirst mutiger sein und intelligenter, wirst einen stärkeren Willen besitzen und mehr Tatkraft. Und das alles wirst du bitter nötig haben, denn vor dir liegt ein dorniger und gefährlicher Weg. Aber was in meiner Macht liegt, werde ich tun, um dich für deine Aufgabe zu wappnen.«

Bis heute wusste ich nicht, was er mit diesen geheimnisvollen Andeutungen meinte. Aber er hatte sein Versprechen wahrgemacht und war mir ein hervorragender Lehrmeister gewesen. Er hatte mir seine Kenntnisse als Arzt, Wissenschaftler und Philosoph vermittelt, so dass ich im Tarkihl als sein Assistent tätig sein konnte, und er hatte mich zu kämpfen und meinen Verstand zu gebrauchen gelehrt.

Aber wenn es um bestimmte Dinge ging, dann schwieg er sich aus.

Ich war ihm zu Dank verpflichtet, dass er mich im Alter von vier Jahren bei sich aufgenommen und großgezogen hatte. Doch ich konnte nicht recht glauben, dass er über meine Herkunft nichts wusste. Er behauptete, dass ich eine Vollwaise war, als er mich irgendwo auf Gortavor gefunden hatte, und machte dann im nächsten Atemzug seine geheimnisvollen Andeutungen.

Aber, wie gesagt, ich war aus dem Alter schon hinaus, wo ich ihn mit meinen Fragen bedrängte. Nur hin und wieder, wenn sich die Gelegenheit bot, versuchte ich ihn mit List und Tücke zu überrumpeln. Doch selbst wenn er meine Absicht nicht durchschaute, schwieg er wie die Spinnenwüste.