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Nr. 101

– Im Auftrag der Menschheit Band 97 –

 

Projekt Liliput

 

Verbrecher und Mörder auf Siga – dem Planeten der Zwerge

 

von Ernst Vlcek

 

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Mit dem Tod des letzten »Grauen« auf der »Endstation Nemoia« haben die Ereignisse, die durch die Aktivitäten des Redbone- und des Suddenly-Effekts in weiten Teilen der Galaxis Unruhe und Schrecken verbreiteten, ihr Ende gefunden.

Jetzt, Anfang Mai des Jahres 2842 terranischer Zeitrechnung, herrschen wieder Ruhe und Frieden auf den von Menschen besiedelten Planeten der Milchstraße.

Nur eine Welt ist davon ausgenommen – der zweite Planet von Gladors Stern, die Heimstatt der Siganesen, der kleinsten Vertreter der Spezies Homo sapiens.

Hier, auf Siga, bahnt sich etwas an, das schwere galakto-politische Konsequenzen nach sich ziehen und das gute Einvernehmen zwischen Terranern und Siganesen empfindlich stören kann.

Die überraschende Nachricht, dass eine ganze Anzahl Kinder einem plötzlichen Wachstumsstopp unterliegen, schlägt auf Siga wie eine Bombe ein. Und die Chefin einer bislang unbedeutenden politischen Partei mit extremistischer Zielsetzung schlägt daraus Kapital. Alliama Tarouse, Leiterin der »Riesenpartei«, macht das Solare Imperium verantwortlich für das PROJEKT LILIPUT ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Flannagan Schätzo – Ehemaliger Spezialist der USO.

Saggelor Oggian – Ein Siganesenjunge, der nicht mehr wächst.

Karen und Hartor Oggian – Saggelors Eltern.

Espendo Vartik – Ein Freund der Familie Oggian.

Alliama Tarouse – Führerin einer Extremistenpartei.

1.

 

Espendo Vartik lehnte sich mit einem genüsslichen Seufzer zurück und sagte anerkennend in Richtung der Gastgeberin:

»Das Essen war ganz ausgezeichnet, Karen.«

Karen Oggian nahm das Kompliment mit unbewegter Miene entgegen. Sie schien nicht genau darauf geachtet zu haben, was der Besucher gesagt hatte. Aber dann besann sie sich ihrer Pflichten als Gastgeberin, die ihr ein gewisses Maß an Höflichkeit abverlangten, und lächelte etwas gezwungen.

»Es hat dir also geschmeckt, Espe. Hartor hat auch schon gesagt, dass die Verpflegung aus der Großküche in den letzten Wochen besser geworden ist. Früher war das Essen von dort abscheulich. Aber dann haben wir Hausfrauen uns zusammengetan und bei der Verwaltung einen Protest eingebracht. Seitdem ist der Service besser geworden. Es ist also nicht so, dass Bürgerinitiativen überhaupt keinen Sinn haben ...«

Hartor Oggian war in seinem Sessel unruhig geworden. Seine Blicke gingen zwischen seiner Frau und seinem Gast hin und her, und als er Espendo Vartiks leises Unbehagen merkte, lachte er gekünstelt und wechselte schnell das Thema.

»Das sind so die Sorgen einer geplagten Hausfrau.«

Er beugte sich zu Espendo Vartik hinüber. »Es freut uns, dass du den Weg zu uns wieder einmal gefunden hast, Espe. Es ist schon fast ein Jahr her, dass du uns besucht hast. Was hast du die ganze Zeit über getrieben?«

»Du weißt ja, wie es einem Reporter ergeht«, sagte Vartik. »Man reist in der Weltgeschichte herum. Ich erzählte dir doch eingangs davon, dass ich mich als Berichterstatter an einer Expedition in die Katakomben der Erstsiedler beteiligt habe.«

»Ja, ich erinnere mich daran«, meinte Hartor Oggian eifrig. »Erzähl uns mehr darüber.«

»Ich weiß nicht, ob euch das wirklich interessieren wird«, sagte Vartik zögernd und warf Karen einen fragenden Blick zu.

»Lasst euch nur durch mich nicht stören, ich habe ohnehin noch mit der Hausarbeit viel zu tun«, sagte sie und begann damit, das Geschirr abzuräumen. »Entschuldigt mich, bitte.«

»Kam es nicht zu der Expedition in den Katakomben, weil man dort eine Geheimstation der Ertruser aushob?«, nahm Hartor den Faden wieder auf.

Espendo Vartik nickte.

»Ja, das stimmt. Früher hatten die Katakomben etwas Heiliges an sich. Sie waren tabu, und keiner hätte daran gedacht, sie zu erforschen. Aber nach den Ertrusern kam man in den Wissenschaftlerkreisen zu der Ansicht, dass man in den Katakomben möglicherweise Anhaltspunkte darüber finden könnte, wie es zu dem Verkleinerungsprozess kam. Bisher sind die Meinungen darüber, was die Ursache war, dass auf Siga aus normal gewachsenen Terranern ein Volk von Zwergen werden konnte, weit auseinandergegangen ...«

Karen Oggian unterbrach ihre Arbeit, setzte sich wieder an den Tisch und fragte interessiert:

»Hat man nun die Ursachen für den Verkleinerungsprozess herausgefunden?«

»Nein.« Vartik schüttelte den Kopf. »Die Ausgrabungen in den Katakomben waren sensationell – aber wonach wir eigentlich suchten, das fanden wir nicht. Wir haben immer noch keine exakte Antwort darauf, wieso aus uns Siganesen ein Volk von Zwergen werden konnte, obwohl wir terranische Stammväter haben.«

Karen Oggian verbarg ihre Enttäuschung nicht. Sie ließ die Schultern hängen und starrte ins Leere.

»Dann sind wir nicht in der Lage, uns gegen das Schicksal aufzulehnen«, meinte sie tonlos. »Wir werden von Generation zu Generation immer kleiner, und niemand kann diesen Schrumpfungsprozess aufhalten.«

Espendo Vartik runzelte die Stirn.

»Wir Siganesen haben keinen Grund, mit dem Schicksal zu hadern, Karen. Im Gegenteil, wir sollten stolz darauf sein, dass wir uns so wohltuend von den anderen Menschen unterscheiden. Wir sind etwas Besonderes ...«

Vartik unterbrach sich, als Karen plötzlich aufschluchzte und aus dem Zimmer rannte.

»Was ist mit ihr los, Hartor?«, fragte der Reporter, als er mit dem Herrn des Hauses allein war.

»Ach, es ist nichts weiter«, sagte Hartor Oggian leichthin. »Sie ist nur etwas überreizt – aber das wird sich nach einigen Minuten wieder geben.«

Vartik betrachtete sein Gegenüber eine Weile schweigend, dann sagte er:

»Hartor, wir sind nun schon seit über fünfzig Jahren Freunde. Und ich kenne auch Karen, seit du sie vor zwanzig Jahren kennen gelernt hast. Eure Ehe gilt überall als mustergültig ... Oder soll ich sagen, sie galt bis vor kurzem als mustergültig?«

Hartor Oggian lachte nervös.

»Ich weiß nicht, was du hast, Espe. Nur weil Karen etwas überdreht ist, machst du sofort eine Ehekrise daraus. Im Übrigen ...«

»Ich weiß, eure Familienangelegenheiten gehen mich nichts an«, sagte Vartik schnell, bevor es der Freund aussprechen konnte.

»Und ich will mich auch gar nicht einmischen. Aber ich habe sofort bemerkt, dass bei euch etwas nicht stimmt. Karen hat den besten Haushalt von ganz Mirettil geführt, ihre Kochkunst galt als unübertroffen ... Und jetzt auf einmal lasst ihr euch von der Großküche versorgen.«

»Was hast du gegen die Großküche?«, entgegnete Hartor gereizt.

Vartik sah ihn ruhig an und fragte:

»Was ist zwischen euch vorgefallen, Hartor? Ich frage danach, weil ich mich mit euch verbunden fühle und als dein Freund an deinem Leben Anteil nehme. Gibt es irgend etwas, das euer Zusammenleben trübt? Vielleicht hilft es dir, wenn du mit einem Freund darüber sprichst.«

Hartor Oggian wich dem Blick des Freundes aus. Er rang eine Weile mit sich, doch dann schien er sich entschlossen zu haben, sich dem anderen mitzuteilen.

In diesem Moment flog die Tür auf, und der fünfjährige Saggelor kam wie ein Wirbelwind ins Wohnzimmer.

 

*

 

»Onkel Espe!«

Er sprang auf den Besucher zu und landete in dessen Armen.

»Wo warst du denn so lange, Onkel Espe?«, plapperte der Junge. »Warum hast du uns nie besucht? Ich habe schon fast vergessen, wie du aussiehst. Und ich hab' schon geglaubt, du seist gestorben. Weil Vater sagte, dass du auf eine große Reise gegangen bist. Du hast mir sehr gefehlt, und ich habe oft um dich geweint.«

»So ein großer Junge wie du weint doch nicht mehr«, meinte Espendo Vartik lachend.

»Das sage ich ja nur dir«, entgegnete Saggelor. »Ich weinte auch nicht echt. Aber mir war zum Heulen zumute, wenn du weißt, was ich meine.«

»Klar, ich verstehe.«

»Warst du wirklich auf einer großen Reise? Was hast du mir mitgebracht?«

»Es war eine große Reise«, antwortete Vartik, »aber sie führte nicht von Siga fort. Ich habe bei einer Expedition durch die Katakomben der Erstsiedler mitgemacht.«

»Toll«, sagte Saggelor fasziniert. »Ich habe gelernt, dass dort die Gebeine unserer Stammväter liegen. Hast du sie gesehen? Waren es wirklich normal große Terraner? O Mann, ist das spannend! Ich wünschte, du hättest mir den Schädel eines Terraners mitgebracht. Alle meine Freunde wären dann vor Neid erblasst ...«

»Das ist geschmacklos, Saggelor!«, fuhr Hartor Oggian streng dazwischen. »Mit den Gebeinen unserer Stammväter treibt man keine Scherze.«

Saggelor machte ein betroffenes Gesicht und blickte hilfesuchend zu Vartik. Als er in dessen Gesicht die gleiche unnachgiebige Strenge sah, wurde er trotzig.

»Tut mir leid«, sagte er ohne Überzeugung.

Vartik lächelte wieder.

»Schon gut, Saggelor.« Er hob den Jungen in die Höhe und sagte anerkennend: »Du bist ganz schön gewachsen, seit ich dich das letzte Mal sah.«

Saggelor hatte sofort wieder vergessen, dass man ihn gerade noch wegen einer Verfehlung gescholten hatte.

»Erzählst du mir deine Abenteuer, die du in den Katakomben erlebt hast, Onkel Espe?«

»Jetzt nicht, Saggelor«, entschied sein Vater. »Onkel Espe und ich haben etwas Wichtiges zu besprechen.«

»Schade«, sagte Saggelor enttäuscht.

»Ein andermal, Saggelor«, tröstete ihn Vartik. »Ich werde jetzt wieder öfter zu euch auf Besuch kommen. Das nächste Mal erzähle ich dir eine spannende Geschichte. Das verspreche ich dir. Aber jetzt lass uns bitte allein.«

Nachdem der Junge gegangen war, herrschte zwischen den beiden Männern eine Zeitlang Schweigen.

Hartor Oggian brach es schließlich.

Er erhob sich und sagte:

»Ich glaube, ich kann jetzt einen Schluck Farnwein brauchen. Espe?«

»Ich sage nicht nein.« Nachdem Hartor mit zwei Gläsern des besten Weines aus der Mynesischen Farnkultur zurückgekommen war, sagte er:

»Als du vorhin sagtest, Saggelor sei seit deinem letzten Besuch gewachsen, hast du dir wahrscheinlich nichts weiter dabei gedacht. Tatsache jedoch ist, dass er seit einiger Zeit nicht mehr wächst. Er ist immer noch 39,1 Millimeter groß. Jetzt weißt du, was Karen und mich bedrückt.«

2.

 

Espendo Vartik stellte den etwa sechshundert Jahre alten und über 20 Zentimeter großen Mann als »Dr. Biccol« vor.

»Ich weiß nicht, Espe«, meinte Hartor Oggian unsicher, »ob das alles nötig ist. Du hättest den Spezialisten nicht kommen zu lassen brauchen. Unser Hausarzt ...«

»Keine Einwände«, unterbrach ihn Vartik. »Der Genossenschaftsarzt hat bei Saggelor überhaupt nichts feststellen können, obwohl er ihn nach Eintreten des Wachstumsstillstandes untersuchte. Es ist im Interesse deines Sohnes, dass du dich auch einem anderen Arzt anvertraust.«

»Damit hast du sicher recht«, musste Hartor Oggian zugeben.

»Wir wollen nur nicht, dass die Sache bekannt wird«, warf Karen ein, die zusammen mit ihrer siebzehnjährigen Tochter den drei Männern aus der Küche entgegenkam. Sie blickte den Arzt mit großen, flehenden Augen an. »Wir hängen sehr an Saggelor, Doktor. Ich könnte es nicht ertragen, wenn die Nachbarn erführen, was mit ihm los ist. Wir wollen jedes Aufsehen vermeiden und es dem Jungen nicht schwermachen.«

»Ich werde meine Pflicht als Arzt tun«, sagte Dr. Biccol etwas pikiert. »Alles andere bleibt Ihrem Verantwortungsbewusstsein überlassen.«

Karen schluchzte auf, und Hartor gab Alkjina einen Wink, sich um ihre Mutter zu kümmern.

»Sie hätten so nicht zu ihr reden dürfen, Doktor«, sagte Hartor mit leichtem Tadel zu dem Arzt. »Ihre Nerven wurden in den letzten Wochen stark strapaziert.«

»Ich bin kein Seelenheiler, der sich mit hysterischen Müttern herumärgert«, erwiderte Dr. Biccol mürrisch. »Wo ist der junge Mann?«

»In seinem Zimmer.« Hartor ging voran. »Ich werde Sie hinführen, Doktor.«

Er durchquerte den Wohnraum, betrat eine Diele und blieb vor der ersten Tür stehen. Er klopfte und öffnete die Tür. Saggelor saß auf dem Boden und setzte gerade die Bestandteile eines Positronikbaukastens zusammen.

»Der Arzt ist gekommen und möchte dich jetzt untersuchen, Saggelor«, sagte Hartor.

Saggelor schnitt eine Grimasse und fragte:

»Wird es lange dauern?«

»Es handelt sich nur um eine Routineuntersuchung, und es tut bestimmt nicht weh«, sagte Vartik über Hartors Schulter.

»Pah – ich habe keine Angst«, behauptete Saggelor und straffte sich. »Kommen Sie nur herein, Doktor. Ich bin bereit.«

Dr. Biccol drehte sich in der Tür nach den beiden Männern um und sagte:

»Ich möchte nicht gestört werden. Warten Sie einstweilen hier draußen.«

Er schlug die Tür des Kinderzimmers Hartor vor der Nase zu.

»Er ist ein alter Griesgram, aber einer der besten Kinderärzte von Siga«, verteidigte Vartik den Arzt. Hartor machte eine lahme Handbewegung.

»Mir ist alles recht, wenn er nur herausfindet, was mit Saggelor los ist und ihm helfen kann.«

»Es wird schon nichts Ernstes sein.«

»Hoffentlich ...« murmelte Hartor bedrückt.

Vartik sah ihn an.

»Du sagst das, als hättest du bestimmte Befürchtungen.«

»Nein«, erwiderte Hartor kopfschüttelnd. »Wie könnte ich bestimmte Vorstellungen darüber haben, was Saggelor fehlt, wenn nicht einmal die Ärzte etwas herausfinden. Aber ...«

»Ja?«

Hartor packte den Freund an der Schulter.

»Wäre es nicht möglich, dass es sich hier um die ersten Symptome einer Mutation handelt? Es ist doch erwiesen, dass unser Volk von Generation zu Generation kleiner wird. Vielleicht ist Saggelor das erste Opfer eines abrupten Verkleinerungsprozesses. Ist es nicht möglich, dass er schon einer neuen Generation von Siganesen angehört, die nicht größer als vierzig Millimeter werden?«

»Diese Befürchtung entbehrt jeder Grundlage«, entgegnete Vartik. »Wenn es zu einem generellen Verkleinerungsprozess käme, wären auch andere Fälle von wachstumsgehemmten Kindern bekannt geworden. Ich verstehe, dass du dir alle möglichen Gedanken machst. Aber warten wir erst einmal ab, was Dr. Biccols Untersuchung ergibt. Du wirst sehen, dass es eine ganz einfache Erklärung gibt.«

Espendos Voraussage erfüllte sich nicht ganz.

 

*

 

Nachdem Dr. Biccol die Untersuchung zwei Stunden später beendet hatte, kümmerte sich Alkjina um ihren Bruder. Karen hatte sich auf ihr Zimmer zurückgezogen; sie wollte das Untersuchungsergebnis aus dem Munde ihres Mannes erfahren.

Dr. Biccol ließ sich erschöpft im Wohnzimmer auf eine Sitzbank sinken und nahm den angebotenen Farnwein dankbar an. Nachdem er an seinem Glas genippt hatte, sagte er übergangslos:

»Ich muss zugeben, dass mich das Untersuchungsergebnis nicht ganz befriedigt. Ihr Sohn scheint völlig gesund zu sein – aber dieser Schein könnte trügen.«

»Sagen Sie mir schon, was ihm fehlt, Doktor!«, verlangte Hartor. Dr. Biccol zuckte die Achseln.

»Wenn ich mir nur klar darüber werden könnte ... Haben Sie an Ihrem Sohn irgendeine Veränderung beobachtet, Herr Oggian? Ich meine, ist Ihnen, seit Sie von seinen Wachstumsstörungen wissen, aufgefallen, dass er physische Beschwerden hatte? Oder finden Sie, dass er sich psychisch verändert hat?«

»Worauf wollen Sie hinaus, Doktor?«, sagte Hartor etwas verstimmt. »Ich finde Saggelor überdurchschnittlich intelligent.«

»Ja, er ist frühreif«, stimmte der Arzt zu. »Meine Frage bezog sich auch nicht auf seinen Allgemeinzustand. Ich wollte eigentlich herausfinden, ob Ihr Sohn zeitweise an psychischen Störungen leidet. Haben Sie sich manchmal über sein Verhalten gewundert? War er vielleicht für Augenblicke deprimiert, hat sich seine Stimmung urplötzlich und ohne besonderen Grund gewandelt?«

»Nein«, sagte Hartor, ohne lange zu überlegen. »Wir haben an Saggelor keine wie auch immer geartete geistige Veränderung wahrnehmen können. Selbstverständlich hat er auch keine Ahnung, dass wir seinetwegen in Sorge sind.«

»Es ist ungewöhnlich, dass die Wachstumsstörungen keine Nebenwirkungen haben«, meinte der Arzt. »Aber ich kann Ihre Beobachtungen nur bestätigen. Er befindet sich in einem ausgezeichneten geistigen und körperlichen Zustand. Ich würde ihn als gesund bezeichnen – wenn sein Wachstumsprozess nicht gestört wäre.«

Hartor sprang auf.

»Mit einem Wort, Sie konnten die Ursache für die Wachstumsstörungen nicht herausfinden.«

Dr. Biccol sah ihm nicht in die Augen.

»Ich weiß nur, dass es sich hier um keine der bekannten Krankheiten handelt. Mir ist ein ähnlicher Fall in meiner fünfhundertjährigen Praxis noch nie untergekommen. Verschiedene Symptome weisen darauf hin, dass die natürliche Zellregeneration durch Einflüsse von außen gehemmt wurden. Aber eine Diagnose lässt sich nach dieser ersten Untersuchung nicht stellen.«

»Danke, Doktor«, sagte Hartor gepresst. Der Arzt warf ihm einen tadelnden Blick zu.

»Die Patienten erwarten von uns immer Wunder und verlieren gleich die Geduld, wenn wir unsere eigenen Grenzen eingestehen. Es wäre mir nicht schwergefallen, Überlegenheit vorzutäuschen und Sie mit geheimnisvollen Andeutungen zu beeindrucken, Herr Oggian. Aber dafür bin ich mir zu gut. Ich muss freimütig bekennen, dass ich nicht in der Lage bin, eine Diagnose für die Krankheit Ihres Sohnes zu erstellen. Dieser Fall interessiert mich, aber da Sie mir kein Vertrauen entgegenbringen, werde ich mich nicht mehr darum kümmern. Im Interesse Ihres Sohnes möchte ich Ihnen jedoch raten, ihn zu einem Spezialisten in Behandlung zu schicken. Guten Tag, Herr Oggian.«

Hartor begleitete den Arzt bis zur Tür. Als er zu Vartik zurückkam, wirkte er verzweifelter als zuvor.

»Jetzt weiß ich nicht mehr als zuvor«, sagte er deprimiert. »Was soll ich Karen sagen? Wie soll ich Saggelor helfen, wenn die Ärzte versagen?«

»Tut mir leid, dass Dr. Biccol nicht helfen konnte«, meinte Vartik. »Aber du darfst es nicht zu tragisch nehmen, dass er nichts herausfand. Schließlich hat es sich nur um eine oberflächliche Untersuchung gehandelt.«

»Aber der Genossenschaftsarzt, bei dem Saggelor in ständiger Behandlung ist, konnte die Ursache der Wachstumsstörungen ebenfalls nicht herausfinden«, sagte Hartor. »Dr. Steyger verniedlichte die ganze Angelegenheit und meinte sogar, dass es sich dabei um eine altersbedingte Wachstumserscheinung handle. Es ist zum Verzweifeln, Espe. Was sollen wir nur tun?«

»Ich werde euch auch weiterhin voll unterstützen«, antwortete Vartik.