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Chiara Lubich
Die große Sehnsucht unserer Zeit

Chiara Lubich

Die große Sehnsucht
unserer Zeit

Jahreslesebuch

Herausgegeben von
Gudrun Griesmayr

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© für die italienischen Originaltexte:
Città Nuova Editrice, Rom

2. Auflage 2011
© Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe
bei Verlag Neue Stadt, München
Umschlaggestaltung und Satz: Neue-Stadt-Graphik
Druck: fgb – Freiburger Graphische Betriebe, Freiburg i. Br.
ISBN 978-3-87996-755-1
eISBN 978-3-87996-420-8

Vorwort

Viele Menschen, die Chiara Lubich begegnet sind, erzählen, dass sie in ihnen eine Sehnsucht wachgerufen, etwas angesprochen hat, das nicht leicht in Worte zu fassen ist. Etwas, das mehr und größer ist als „bloße Worte“: jene verborgene Wirklichkeit, die hinter dem Vordergründigen liegt, die manchmal aufblitzt aus den Dingen, im Herzen, unter Menschen, die einander tief verbunden sind

Spuren Gottes zu erkennen und zu hinterlassen, diesen Wunsch weckte Chiara Lubich in jungen wie älteren Menschen: Spuren der Liebe im eigenen Leben, im zwischenmenschlichen Beisammensein, aber auch in der Gesellschaft und im globalen Dorf.

Geboren am 22. Januar 1920 im norditalienischen Trient, Kind eines sozialistischen Vaters und einer überzeugten Katholikin, setzte Chiara Lubich als junge Lehrerin im Zweiten Weltkrieg ganz auf ein Leben nach der Frohen Botschaft Jesu – ein Entschluss mit unerwarteten Konsequenzen. Zahlreichen Menschen in aller Welt hat sie einen Zugang zu jener nie versiegenden Quelle aufgetan, die das Wort Gottes i s t – und immer neu w i r d, wenn man sich persönlich und mit anderen darauf einlässt. Das Evangelium hat die Kraft, Barrieren zu überwinden zwischen Einzelnen und Völkern, Kirchen und Religionen, und zugleich führt es in eine ungekannte innere Tiefe.

Die „sanfte Botschafterin der Hoffnung und des Friedens“, wie Papst Benedikt XVI. sie nannte, starb am 14. März 2008 in Rocca di Papa/Rom. Aus Dankbarkeit veröffentlicht der Verlag Neue Stadt, der auf ihre Initiative zurückgeht, diese Textauswahl.

Es handelt sich um Tagebuchaufzeichnungen, Auszüge aus Vorträgen, Briefen, Artikeln usw. Aus ihnen spricht spirituelle Tiefe und dialogische Weite, das Fasziniert-Sein von Gott, von Jesus und seiner Sehnsucht, „dass alle eins seien“. Chiara Lubich träumte, wie sie einmal sagte, von einer „dynamischen, familiären, innerlichen Kirche“, von einer „weltumspannenden Geschwisterlichkeit“, von „Beziehungen, die sich am Evangelium orientieren“. Die Liebe, von der zu sprechen sie nicht müde wurde, die Liebe, die in Jesus Gestalt wurde, verbindet das ganz Große und das ganz Kleine, das Göttliche und Menschliche im dienenden Dasein füreinander und in der Hinwendung zum Irdischen.

Verlag Neue Stadt

Inhalt

Vorwort

Januar: Staunen über die Liebe Gottes

Februar: Neue Prioritäten

März: Tiefere Wurzeln

April: Österliche Gemeinschaft

Mai: Maria – Zu Großem berufen

Juni: Göttliche Kraft

Juli: Das Herz weit machen

August: Erkennungszeichen der Christen?

September: Mit allen solidarisch

Oktober: Gottes Wort schafft Gemeinschaft

November: Was bleibt

Dezember: Leben mit dem menschgewordenen Wort

Quellenverzeichnis

Januar

Staunen über die Liebe Gottes

1. JANUAR (NEUJAHR)

Es gibt Tage, an denen es besser, und andere, an denen es schlechter geht. Doch manchmal merken wir, dass es gar nicht so sehr auf Erfolg oder Misserfolg ankommt, sondern darauf, wie wir unser Leben gestalten. Und die Frage nach dem Wie ist eine Frage nach der Liebe: Sie allein gibt allem Wert …

Beginnen wir also jeden neuen Tag mit Zuversicht, bei Unwetter oder Sonnenschein. Erinnern wir uns daran: Jeder Tag ist so viel wert, wie wir Gottes Wort in uns aufnehmen. Christus möchte in uns leben … Er in uns vollbringt die Werke, die uns ins endgültige Leben begleiten (vgl. Offenbarung 14,13). Erstaunt werden wir feststellen, wie das Wort Gottes, die Wahrheit, uns frei macht (vgl. Johannes 8,32.36).

2. JANUAR

Ein neues Jahr hat begonnen … – mit vielen guten Wünschen. Ein trefflicher, tiefer Wunsch, nicht zuletzt unter Christen, könnte lauten: Möge das neue Jahr neues Leben bringen: auf dass wir „neue Menschen“ werden!

Es gibt in unserer Zeit eine Sehnsucht, die nur von wenigen wahrgenommen wird. Doch wer den Menschen als Ganzen sieht, wer weiß, woher er kommt und wozu er lebt, der spürt hinter dem verbreiteten Verlangen nach Hilfe und Orientierung, hinter der Not und dem Leid so vieler Menschen in aller Welt eine verborgene Sehnsucht nach Jesus: Man wünschte, er käme wieder …

Jesus muss wiederkommen … – in „neuen Menschen“ (vgl. Epheser 4,24), in uns. Er soll auch heute durch die Welt gehen und uns zeigen, wie wir seine Worte und Taten „wiederholen“ können. Ja, er möge uns verstehen lassen, wie er heute leben würde, in unserer Zeit mit all ihren Errungenschaften … Die Welt wartet auf ihn; in dem Wort „Jesus“ findet sich die Antwort auf ungezählte Fragen und Probleme, die uns heute umtreiben.

3. JANUAR

Gott ist kein ferner, unbeweglicher und den Menschen unzugänglicher Gott. Er ist die Liebe und kommt jedem Menschen auf tausend Weisen entgegen … Schauen wir uns einmal um und betrachten wir, zu welchen Verrücktheiten der Liebe sich Gott aus Liebe zu uns hat hinreißen lassen.

Sehen wir, ob es in der Welt Spuren seiner Liebe, Zeichen seiner Gegenwart gibt …, um uns seiner Liebe auszusetzen, uns von seiner Weisheit erleuchten und von seinem Geist entzünden zu lassen. Wenn wir das tun, wird Gott immer mehr in uns leben; er wird uns so sehr durchdringen, dass sein Leben in uns auch andere Menschen erfasst.

4. JANUAR

Wer sich von Gott geliebt weiß

und mit seinem ganzen Wesen

an diese Liebe glaubt,

überlässt sich seiner Liebe voll Vertrauen;

ihr will er folgen.

Die Liebe erhellt sein Leben;

hinter traurigen wie freudigen Ereignissen steht, so weiß er, die Liebe dessen, der dies gewollt oder zugelassen hat. Hinter allem, hinter jeder Begegnung, hinter den Pflichten verbirgt sich der Wille des Einen, dessen Liebe nicht täuschen kann und der alles zum Guten führt.

5. JANUAR

Es traf mich wie ein Blitz: „Gott liebt mich unendlich!“ … Von dem Augenblick an entdeckte ich ihn und seine Liebe überall: am Tag und in den Nächten, in den inneren Aufschwüngen, in meinen Vorsätzen, in freudigen und ermutigenden Ereignissen, in traurigen, schwierigen und heiklen Situationen.

Immer und überall ist er da und lässt mich verstehen, dass alles Liebe ist: was ich bin und was mir widerfährt, was wir sind und was uns betrifft. Er gab mir zu verstehen, dass ich seine Tochter bin und er mein Vater ist. Nichts entgeht seiner Liebe, auch nicht die Fehler, die ich begehe, denn er lässt sie zu. Seine Liebe umgreift ebenso wie mich alle Christen, die Kirche, die Welt, das ganze Universum.

6. JANUAR (ERSCHEINUNG DES HERRN)

Auch mit dir hat Gott seinen Plan der Liebe. Auch du bist zu etwas Großem in deinem Leben berufen.

Glaube es, Gott lebt in dir! Deine Seele … ist Wohnung des Heiligen Geistes: Gott, der heiligt.

Gehe in dich: Suche Gott, deinen Gott, der in dir lebt! Wenn dir doch bewusst wäre, wen du in dir trägst! Wenn du doch alles für ihn lassen würdest … Wenn du doch dieses kurze Dasein, das so schnell vergeht und mit jedem Tag ein wenig mehr entflieht, auf Gott ausrichten würdest … – dann würdest du dich in Gott verlieben und durch die Welt gehen als Künder der Frohen Botschaft.

7. JANUAR

Gott erwählt und ruft Menschen auf einen bestimmten Weg. Wer darauf antwortet, indem er Gott zum Sinn seines Lebens macht, findet sich wieder in einem neuen Leben, in einem „göttlichen Abenteuer“ …

Wenn ich daran zurückdenke, wie dies in meinem Leben gewesen ist, so frage ich mich mit dem Staunen von damals: Wer ist dieser Gott, der mich erwählt hat? … Gott, der König des Universums, der Herr der Unendlichkeit hat mich eines Tages angeschaut und gerufen! Angesichts seiner Majestät komme ich mir vor wie ein Nichts, doch die Gewissheit, dass er mich erwählt hat, öffnet mein Herz und weckt in mir die Sehnsucht, hinter der strahlenden Schönheit alles Geschaffenen sein Angesicht zu finden, seine Gegenwart zu entdecken.

8. JANUAR

Als ich die Unendlichkeit des Universums betrachtete, die unglaubliche Schönheit und Kraft der Natur, kam mir spontan der Gedanke an den Schöpfer aller Dinge. Ganz neu hat sich mir die unendliche Größe Gottes erschlossen. Dieser Eindruck war so stark, dass ich niederknien und Gott anbeten, ihn preisen und verherrlichen wollte … Es schien mir unglaublich, dass er auch an uns gedacht hat.

9. JANUAR

Unser Leben als Christen wurzelt in dem Glauben an die Liebe Gottes: Wir sind ja nicht allein, sondern haben einen Vater, der uns liebt. In diesem Vertrauen können wir auch dann leben, wenn uns etwas bedrückt. Manchmal ist es die Angst vor der Zukunft, die Sorge um die Gesundheit, das Bangen um die eigene Familie, der Zweifel am Gelingen einer Arbeit, die Unsicherheit im Verhalten in einer bestimmten Situation, der Schreck über eine schlechte Nachricht, Ängste aller Art … Und genau in diesen Augenblicken möchte Gott, dass wir an seine Liebe glauben, ihm vertrauen … Wir dürfen unsere Sorgen auf ihn werfen, sie bei ihm abladen. In der Schrift steht:

„Werft alle eure Sorgen auf ihn, denn er kümmert sich um euch“ (1 Petrus 5,7).

10. JANUAR

Unsere Tage sind randvoll von kleinen und großen Sorgen und Problemen … Man hastet, rechnet und plant; man müht sich ab für sich selbst und für die, die einem am nächsten stehen. Wenn wir auf andere Länder blicken, begegnen wir noch weit ernsteren Problemen: Hunger, Seuchen …; selbst das Lebensnotwendige fehlt.

In der Bergpredigt heißt es: „Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, dass ihr etwas anzuziehen habt … Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht. Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben“ (Matthäus 6,25.32f).

Ungewöhnliche Worte … Sie sind wie ein sanfter Protest des Himmels. Jesus öffnet uns die Augen, damit wir erkennen, dass wir einen Vater haben, der an uns denkt.

Man könnte sich fragen: Sind damit unsere Anstrengungen, unser Einsatz und die Arbeit, unser Sorgen und Mühen hinfällig? – Keineswegs. Aber sie bekommen eine neue Motivation: Nicht um Brot, Kleidung oder Geld geht es, sondern um das Reich Gottes in uns, um die Ausrichtung am Willen Gottes statt an unserem eigenen.

11. JANUAR

„Gott ist die Liebe“ (1 Johannes 4,8.16) … Wenn ein junger Mensch sich geliebt weiß, ändert sich das ganze Leben für ihn: Alles ringsum beginnt zu leuchten, jede Kleinigkeit gewinnt Bedeutung, und er selbst wird offener und liebevoller.

Um wie viel stärker ist die Erfahrung eines Christen, dem aufgeht, dass Gott wirklich die Liebe ist, dass Gott ihn liebt. Der graue Alltag bekommt Farbe; ein tragisches Schicksal verliert an Härte; eine ruhelose Existenz findet Frieden. Man ist bereit, seine begrenzten Pläne und Programme zu ändern und sich auf das einzulassen, was in Gottes Plänen liegt.

12. JANUAR

Das Leben des Christen entfaltet sich in der Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen. Wer beide Aspekte lebt, geht auf dem Weg der Heiligung voran.

Manchem fällt es leichter, sich den Mitmenschen zuzuwenden als Gott; doch dies könnte zum Aktivismus verleiten. Auf das richtige Gleichgewicht kommt es an.

Gewiss, das christliche Leben hat eine persönliche und eine gemeinschaftliche Dimension. Doch am Ende unseres Lebens werden wir nicht zusammen mit den anderen, als Gemeinschaft vor Gott hintreten, sondern ihm allein gegenüberstehen. Wird unsere Liebe so gewachsen sein, dass wir uns spontan ihm zuwenden, den wir immer hätten lieben sollen?

13. JANUAR

Für jeden von uns wird einmal der Moment der Begegnung mit Gott kommen. Setzen wir schon jetzt alles daran, unsere Beziehung zu ihm zu vertiefen ...

Man kann unterwürfig wie ein Diener lieben und alles tun, was der Herr will, ohne je mit ihm ins Gespräch zu kommen. Man kann aber auch wie ein Sohn, eine Tochter lieben: mit dem Herzen und voller Vertrauen. Dann werden wir oft mit Gott sprechen, ihm alles sagen, mit ihm über unsere Vorsätze, unsere Pläne reden. Wir werden es nicht erwarten können, Zeit für ihn zu haben: Zeit zum Gebet.

14. JANUAR

Das Gebet ist das Atemholen der Seele,

der Sauerstoff für unser geistliches Leben,

Ausdruck unserer Liebe zu Gott,

der Brennstoff für unser Tun ...

Auch Jesus hat gebetet

und mit seinem Vater im Himmel gesprochen:

„Abba“, lieber Vater.

Mit grenzenlosem Vertrauen

und voller Zuneigung sprach er mit ihm:

Es ist das Beten des Sohnes,

der zweiten göttlichen Person ...

Nicht zuletzt durch dieses einzigartige Beten

hat er der Welt offenbart, wer er wirklich war:

der Sohn Gottes.

15. JANUAR

Der Sohn Gottes ist Mensch geworden, um uns Menschen in seine Beziehung zum Vater mit hineinzunehmen. Durch seinen Tod am Kreuz hat er uns erlöst und zu seinen Brüdern und Schwestern gemacht; durch die Gabe des Heiligen Geistes hat er uns in das Innerste der Dreifaltigkeit hineingenommen. So dürfen auch wir uns mit den Worten des Sohnes an Gott wenden: „Abba, lieber Vater“ (vgl. Markus 14,36; Römer 8,15).

Darin ist alles enthalten: das blinde Vertrauen auf seine Liebe und schützende Hand, die Hoffnung auf seinen Trost und seine Kraft, die brennende Liebe zu dem, von dem man sich geliebt weiß ... „Abba, lieber Vater“, das ist ein einzigartiges christliches Gebet: Es lässt uns eintreten in das Herz Gottes.

16. JANUAR

Am Ende eines Tages, an dem wir uns intensiv unseren Mitmenschen zugewandt haben, schenkt uns der Heilige Geist oft die Erfahrung einer tiefen Einheit mit Gott. Dies ist Gebet im eigentlichen Sinn, etwas, was uns besonders kostbar sein sollte.

Dieses Gebet können wir nähren, wenn wir aus Liebe zu Gott unsere Nächsten lieben und jedem Tun ein „Für dich, Jesus“ vorausschicken. Man kann ihm auch sagen: „Nimm es als Zeichen meiner Liebe!“; es ist wie eine Liebeserklärung an Jesus.

Voller Freude stelle ich fest, dass ich so auch mitten im Tun und bei der Arbeit „beten“ kann. Diese Art zu beten ist wie gemacht für jeden, der mitten in der Welt lebt und viel mit anderen Menschen zu tun hat.

17. JANUAR

Jesus lehrt uns im Evangelium, den gegenwärtigen Augenblick zu leben (vgl. Matthäus 6,34; Lukas 9,62). Einer, der sich dies zu eigen gemacht hat, war Antonius, der Einsiedler, ein Heiliger des 4. Jahrhunderts. Er rät, heute neu anzufangen in der Reinheit des Herzens und im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes. Athanasius von Alexandrien schreibt in seiner Antoniusbiographie:

„Er erinnerte sich nicht an die vergangene Zeit, sondern Tag für Tag bemühte er sich stärker – wie ein Anfänger in der Askese –, Fortschritte zu machen, eingedenk des Pauluswortes: ‚Ich vergesse, was hinter mir liegt und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist. Das Ziel vor Augen ...‘ (Philipper 3,13f); er dachte auch an das Wort des Elias: ‚So wahr der Herr lebt: Heute noch werde ich ihm vor die Augen treten‘ (1 Könige 18,15).“

17.1.: Antonius (um 251–356), Mönchsvater

18. JANUAR

Wir könnten in Gemeinschaft mit dem Allmächtigen leben und nehmen uns doch so wenig Zeit, die Beziehung zu ihm zu pflegen, oder wir verrichten die Gebete auf die Schnelle und wie eine bloße Pflicht.

Am Ende des Lebens werden wir es bedauern, dem Gebet so wenig Zeit gewidmet zu haben.

19. JANUAR

Ich merke immer wieder, wie schnell ich mich beim Arbeiten, beim Schreiben, beim Sprechen, bei der Erholung oder einer anderen Tätigkeit an etwas hänge: an mich selbst, an Menschen und Dinge. Dabei kann das geistliche Leben Schaden nehmen.

In einem Psalmvers heißt es: „Mein ganzes Glück bist du allein, Herr“ (Psalm 16,2), nichts und niemand sonst. Dieses Gebet hilft uns, uns nicht von den irdischen Dingen vereinnahmen zu lassen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es bei mir eine innere Kurskorrektur bewirkt: Wie ein Kompass richtet es mich neu aus auf meinem Weg zu Gott.

20. JANUAR

Manchmal habe ich die Möglichkeit, mich an einen einsamen Ort zurückzuziehen und dort in der Stille zu beten. Diese Stille, die nicht von Telefon oder Radio, vom Straßenlärm und sonstigen Geräuschen durchbrochen wird, ist sehr beredt. Ich merke, dass Gott schweigt, wo es laut zugeht, dass er aber in der Stille spricht.

Wenn ich dann zur Besinnung ein Buch in die Hand nehme, muss ich es manchmal wieder schließen, weil er in mir ein Gespräch will ...

Und ich verstehe die Einsiedler, die Kartäuser, die Trappisten ... Ich verstehe, wie reich an Gesprächen, wie erfüllt ihr Leben sein kann und in welcher Gesellschaft es sich abspielt.

Ich aber kann den Trost eines solchen Gespräches nur als Hilfe aus Gottes Hand annehmen, um mit neuer Kraft meine Arbeit wieder aufzunehmen: Gestärkt wende ich mich wieder den Menschen zu, um ihnen zu dienen und die Aufgabe zu erfüllen, die Gott mir zugedacht hat. So versuche ich, auf seine Liebe zu antworten, auf die Worte, die er in der Stille, im Grunde meines Herzens zu mir spricht.

Nichts anderes wünsche ich mir, als mich von ihm angesprochen und geliebt zu wissen. Das ist meine Hoffnung: Er ist ja barmherzig.

21. JANUAR

Geh in deine Kammer, wenn du betest,

und schließ die Tür zu;

dann bete zu deinem Vater,

der im Verborgenen ist“ (Matthäus 6,6).

Vater, vor dir habe ich nur das Bedürfnis,

mich dir ganz und gar zu schenken,

so wie ich bin ...

Ich weiß, du bist mir nahe

und siehst mich als deine Tochter an.

Gewiss ist es der Heilige Geist,

der mich „Abba, lieber Vater!“ sagen lässt.

Er legt mir dieses Wort ins Herz;

die Seele taucht darin ein

und befindet sich in seinem Reich,

wo sie, so wie sie ist,

erwünscht ist und geliebt.

22. JANUAR

Ich liebe dich,

nicht weil ich lernte, dir dies zu sagen,

nicht weil das Herz mir diese Worte eingibt,

nicht weil der Glaube mir sagt, dass du Liebe bist,

nicht einmal nur, weil du für mich gestorben bist.

Ich liebe dich, weil du in mein Leben kamst,

mehr als die Luft in meine Lungen,

mehr als das Blut in meine Adern.

Du hast Eingang gefunden,

wo kein anderer es vermochte,

als niemand mir helfen konnte,

jedes Mal, wenn ich untröstlich war.

Jeden Tag habe ich mit dir gesprochen,

jede Stunde auf dich geschaut;

in deinem Antlitz las ich die Antwort,

deine Worte gaben mir Klarheit,

in deiner Liebe fand ich die Lösung.

Ich liebe dich,

denn viele Jahre lebtest du mit mir,

und ich lebte aus dir.

Ohne es zu merken, trank ich von deinem Gesetz.

Ich habe mich davon genährt, daran gestärkt,

mich wieder aufgerichtet;

doch ich war unwissend wie ein Kind,

das von der Mutter trinkt

und sie noch nicht zu rufen weiß

mit ihrem wunderbaren Namen.

Gib mir für die Zeit, die mir noch bleibt,

dir ein wenig dankbar zu sein für diese Liebe,

die du über mich ausgegossen hast

und die mich drängt, dir zu sagen:

Ich liebe dich.

23. JANUAR

Herr, deine Gegenwart ist Liebe,

eine Liebe freilich, die die Welt nicht kennt.

Sie ist wie köstlicher Nektar,

in den die Seele eingetaucht ist;

das Herz ist der Kelch, der ihn in sich birgt.

Die Seele ist ein Lied ohne Worte,

das du allein verstehst,

eine Melodie, die zu dir gelangt,

weil sie von dir ausgeht

und du sie komponiert hast.

In solchen Augenblicken scheint der Friede vollkommen und die Gewissheit des Heils unerschütterlich; schon hier auf Erden scheint der Himmel begonnen zu haben.

Welch eigenartige Erfahrung, ein Rätsel für unseren Verstand: Den ganzen Tag über waren wir für die Schwestern und Brüder da, und am Abend haben wir den Herrn gefunden ... In solchen Momenten wird der Glaube, der Glaube an seine Existenz, zur Gewissheit. Er hat unser Haus mit einer leisen Freude erfüllt, er ist unser Ein und Alles geworden; er selbst sagt uns, dass er da ist.

24. JANUAR

Nach dem einhelligen Zeugnis der Heiligen kann sich als Christ, als verwirklichter Christ nur der bezeichnen, in dem die Liebe zur Entfaltung gekommen ist. Denn allen ist aufgetragen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft“ (Markus 12,30). Dem entspricht das Wort des Meisters: „Ihr sollt vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist“ (Matthäus 5,48). In Anlehnung an Franz von Sales sagte Pius XI. dazu: „Niemand soll meinen, diese Weisung richte sich nur an einige wenige Auserwählte“ (in: Rerum omnium); offenkundig gilt sie allen ohne Ausnahme.

24.1.: Franz von Sales (1567–1622), Bischof, Ordensgründer, Kirchenlehrer

25. JANUAR

Der Apostel Paulus reiste viel umher, er predigte und gewann Menschen für Christus. Immer wieder wurde er vertrieben, doch paradoxerweise trugen gerade die Verfolgungen zur Ausbreitung der Frohen Botschaft bei. Ähnlich verhält es sich offenbar mit allen Werken Gottes.

Wo immer Paulus hinkommt, versucht er möglichst viele Menschen anzusprechen, hinterlässt aber nur eine kleine Gruppe von Christen. Um sie kümmert er sich auch weiterhin, durch Briefe, kurze Besuche oder längere Aufenthalte. In den Gemeinden setzt er Verantwortliche ein, die sein Werk weiterführen. Wenn Paulus in bestehende Gemeinden zurückkehrt, berichtet er den dortigen Christen, was der Herr anderswo durch ihn gewirkt hat – und alle geben Gott die Ehre.

Hier zeigt sich, wie wichtig die Kommunikation, der Nachrichtenaustausch unter Christen ist. Es gehört ebenso zu einem authentischen Christsein wie beispielsweise das Wirken nach außen. Christen leben nach dem Wort: „Viele Glieder – ein Leib“ (vgl. 1 Korinther 12,12).

25.1.: Bekehrung des Apostels Paulus

26. JANUAR

Wenn einem Menschen

die Liebe Gottes

offenbar geworden ist,

wenn Gott ihm seine Liebe erklärt hat,

kann er nicht länger widerstehen:

Wie könnte er nicht seinerseits

Gott seine Liebe erklären?

Damit beginnt ein Weg hinauf zum Ziel,

zu dem wir alle berufen sind:

verwirklichte Christen, heilig zu sein.

27. JANUAR

Jesus weiß um alles.

Er liest in allen Herzen,

kennt die Gedanken eines jeden.

Wie tröstlich ist es, dies zu wissen,

wenn wir aus tiefster Seele

unsere Bitten vor ihn tragen,

wenn wir ihn loben

oder ihm unsere Liebe bekunden möchten.

Er weiß darum, er vernimmt alles ...

Jesus, der Gott ist, weiß um alles.

Was für eine Ermutigung für den, der betet!

Gott hört uns an.

Das genügt uns.

Ob er uns dann erhört oder nicht,

ist etwas anderes;

Gott weiß ja, was gut für uns ist.

28. JANUAR

Herr, ich möchte dich lieben.

Nicht nur jeden Tag ein wenig mehr;

denn es könnten mir zu wenige Tage bleiben.

Gib, dass ich dich jeden Augenblick

mit ganzem Herzen, ganzer Seele

und allen meinen Kräften liebe –

in dem, was dein heiliger Wille für mich ist.

29. JANUAR

Wenn ich in wenigen Worten den Sinn meines Lebens zusammenfassen sollte, würde ich sagen: Ich liebe Gott und möchte ihn so lieben, wie er noch nie zuvor geliebt worden ist. Ich setze mich dafür ein, dass er geliebt wird ... Was immer in meinem Leben geschehen mag ... – ich habe nur einen Wunsch, eine Leidenschaft: Die Liebe soll geliebt werden.

30. JANUAR

Herr,

lass mich immer reden,

als wäre es das letzte Wort,

das ich sprechen kann.

Lass mich immer handeln,

als wäre es die letzte Handlung,

die ich vollbringen kann.

Lass mich immer leiden,

als wäre es der letzte Schmerz,

den ich dir anbieten kann.

Lass mich immer beten,

als wäre es für mich auf Erden

die letzte Chance, mit dir zu reden.

31. JANUAR

Es kommt nicht so sehr darauf an,

wie viel wir tun,

sondern wie wir es tun …

Erfüllen wir da, wo wir stehen, unsere Aufgabe –

in ehrfürchtiger Liebe zu Gott und seinem Willen.

Der Wille Gottes aber lenkt unseren Blick

jeweils auf eine ganz bestimmte Zeit:

den gegenwärtigen Augenblick –

und auf einen kleinen Teil der Aufgabe,

die wir in der Welt zu erfüllen haben.

Februar

Neue Prioritäten

1. FEBRUAR

Wir sind von Ewigkeit her von Gott gewollt und geliebt; von Anfang an haben wir einen Platz in seinem Herzen.

Gott möchte uns erkennen lassen, was er mit uns vorhat. Er möchte uns unsere wahre Identität zeigen. Es ist, als sage er uns:

„Soll ich aus deinem Leben ein Meisterwerk machen? – Dann folge dem Weg, den ich dir zeige, und du wirst so sein, wie ich dich von Ewigkeit her gedacht habe. Ich habe dich beim Namen gerufen; wenn ich dir meinen Willen mitteile, dann zeige ich dir dein wahres Ich.“

So gesehen ist der Wille Gottes nicht etwas, das uns auferlegt wird und uns in ein fremdes Schema presst. In ihm zeigt sich vielmehr Gottes Liebe zu uns.

2. FEBRUAR