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Wolfgang Flür & Zuhal Korkmaz

neben mir

Rheinland Grotesken

FUEGO

Über dieses Buch

Die Geschichten und Berichte beruhen auf Tatsachen, unerhörten Begebenheiten und rasanten Erlebnissen und stellen nicht das gesamte Ausmaß der Schrecklichkeiten des täglichen Lebens bei uns im Rheinland dar. Wir haben uns bemüht, sie so wiederzugeben, wie wir sie selbst erlebt haben, wie uns berichtet wurde und wie es Protagonisten uns weisgemacht haben – läuft wie verrückt!

»Mehr Macht den Poeten: Berühmt wie Wolfgang Flür, der aus seinen schrägen Rheinlandgeschichten eine köstliche Probe gab. Ein amüsantes Stück, das in hübschem Kontrast steht zum Musiker Flür.«

Rheinische Post

»Lichtblick des Leseabends ist Elektropionier und Ex-Kraftwerker Wolfgang Flür. Seine „Rheinland-Groteske“ rund um ein Ehepaar ist wirklich angenehm abstrus ...«

Hamburger Abendblatt

Die in diesen Geschichten handelnden Personen sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit verstorbenen oder lebenden Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

läuft wie verrückt finger

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neben mir

was würden sie machen, wenn sie mit so einer zusammen wären?

Duisburg, Mercatorstraße, 12. November 2002, 1.05 Uhr.

Rechtwinklig will sie ihr Kopfkissen. Und aufgeschüttelt. Und rein. Also tut sie es – schütteln, zurechtklopfen, viereckig machen. Und glätten. Wie jeden Abend. Seit dreißig Jahren immer dasselbe Ritual. Jede Nacht nach dem letzten Fernsehen, wenn ihr fast schon die Augen zufallen davon, klopft meine Frau ihr Kissen in eine ihr angenehme Form. Und dann noch mit diesem, Sie kennen ihn wohl auch, hineingeschlagenen Knick in der Mitte.

Sie will sich wohlfühlen in der Bettung ihres Hauptes, gleich neben mir, der ich mich seit Ewigkeiten abends neben sie zur Ruhe hinstrecke und ihr blödes Ritual erdulde. Gut, werden Sie sagen, bis zu einem gewissen Grad ist das ja nachzuvollziehen, denn auch Sie mögen bestimmt ein ordentliches Polster unter Ihrem Kopf. Für die Nacht. Aber wie lange meine Frau dafür braucht, um es herzurichten ... Sie hat schon ein inniges Verhältnis zu ihren Daunen. Und dann ist da noch die Lampe, die eine Handbreit zu weit weg ist, um sie bequem vom Bett aus zu erreichen. Zum Ausschalten. Da gibt’s immer Streit, wer das machen soll. Wir sind nie darauf gekommen, einfach mal den Bohrer zu nehmen und die Lampe näher bei unserem Bett an die Wand zu dübeln. Und die grüne Wanduhr ist mir auf jeden Fall zu laut, so dass ich mich immer auf ihr gleichmäßiges Ticken konzentrieren muss. Fast schon Zwangsverhalten ist das, glauben Sie’s mir! Genauso ist es übrigens mit dem Zähneputzen: Ich arbeite nach einem lang praktizierten Verfahren. Niemals könnte ich beruhigt schlafen gehen, ohne mir zuvor akribisch die Zähne zu putzen. Ich ziehe sogar extra vorher unsere kleine Kurzzeituhr auf, um mich zu kontrollieren dabei. Perfekte zwei Minuten muss das dauern, sonst hat es keinen Sinn, sonst habe ich meinen Schlaf nicht verdient! Ich benötige diese zwei Minuten einfach, sonst fehlt mir abends was. Wie früher beim Beten. Da hat meine Mutter auch immer streng darüber gewacht, dass ich genau so lange gebetet habe, wie die Sanduhr fürs Eierkochen lief. Diese fünf Minuten hat sie sich immer genommen abends. Und bei mir gesessen und mich kontrolliert. Musste beten, aber allein – und laut. Und meine Mutter hat mir zugehört und mich dann ins Bett gesteckt.

Das ganze Vorbereitungsritual für das Schlafengehen von meiner Frau und mir ist nervend, richtig Arbeit – es muss wohl sein –, obwohl ich eigentlich überhaupt keine Lust darauf habe. Auch ein Glas Wasser muss in perfekter Entfernung neben mir auf dem kleinen, runden Rolltischchen präsent sein. Und zwar leicht angewärmtes Wasser, damit es an den Zahnhälsen nicht so schmerzt. Genau so weit weg muss es von mir stehen, dass ich das Glas nachts mühelos mit der linken Hand erreichen kann, wenn ich aufwache und Durst verspüre. Und ich wache oft auf nachts, an Tiefschlaf kaum zu denken, und habe immer sofort Durst. All das ist aber nichts gegen das ständige Positionssuchen von meiner Frau, das darf ich Ihnen verraten! Noch nachdem bereits das Licht gelöscht ist, räkelt die sich nämlich ewig unter ihrer steifgebügelten Bettdecke hin und her. Dreht sich immerzu von der einen Seite auf die andere, zieht ihre Beine an den Körper und streckt sie wieder und wieder und reibt dabei die spröde Haut ihrer geschwollenen Füße aneinander. Oh, wie ich das hasse, wissen Sie? Und dann dreht sie sich erneut um und um. Aber das ist noch nicht alles, glauben Sie’s nur nicht, sie macht nämlich dauernd solch schmeckende Geräusche mit ihrem Mund, als wenn sie die Situation auch noch genösse. Das mit dem Schmatzen hasse ich am allermeisten. Weil es einerseits so genüsslich klingt, andererseits aber auch wie klebrige Spucke. Was aus ihrem Mund kommt, ekelt mich schon an, das muss ich gestehen, von den Gerüchen ganz zu schweigen. Und ständig bewegt sich die gesamte Matratze und versetzt auch mich in Schwingung, so dass es mich ganz irre macht. Seit dreißig Jahren kann ich mich nicht daran gewöhnen. Es ist mir einfach zuwider, wenn ich nicht in Ruhe gelassen werde beim Einschlafen. Ich selbst habe keine Probleme damit. Wenn ich mich hinlege, dann geht das ein-, zweimal hin und her mit dem Umdrehen. Dann habe ich schnell meine Position gefunden und die Lage akzeptiert. Die ist sowieso immer dieselbe: auf der linken Körperseite liegend, die Beine angewinkelt, die Arme ebenso. Und die Hände wie zum Gebet gefaltet und unter die linke Gesichtshälfte gelegt, so als ob ich sie dort verstecken will. Und dann immer diese Wellen – laufen wie verrückt – wie von einem fernen Beben, die meinen Körper auf- und ab bewegen. Sie müssen nämlich wissen, dass die Matratze unseres Bettes aus einem einzigen großen Stück Schaumgummi besteht. Da überträgt sich einfach alles auf den anderen. Jede noch so kleine Bewegung bringt Schwingung. Wie oft habe ich meine Frau um Ruhe gebeten. Habe gebettelt, habe gezürnt, war verzweifelt. Sie kann aber einfach nicht aufhören damit. Ist mir vollkommen schleierhaft, warum sie sich so wälzt, aber anscheinend braucht sie so was – ihr Ritual –, um mit dem Tag abzuschließen. Und ach, das hätte ich beinahe ganz vergessen, Ihnen zu erklären – und bitte, empfinden Sie es nicht als banal, es muss heraus – haben wir vorher immer schon das Säubern unseres Lakens von Krümeln durchgeführt. Ja, das stimmt, und das ist fast immer der Fall, Gott, weil wir uns nun einmal angewöhnt haben, im Bett beim Fernsehen zu Abend zu essen. Dafür tue ich alles auf ein großes Blechtablett und stelle dieses mitten zwischen uns beide auf das Laken. Zum bequemen Zugreifen. Dass das ziemlich ungeniert geschieht, ist mir schon klar, das muss ich zugeben, und mittlerweile ist der Umfang meiner Frau auch dementsprechend. Ich selbst bin wohlgemerkt auch nicht gerade ein Dünner. Seien Sie doch mal mit einer zusammen, die dauernd isst! Und auf mich warten kann sie auch nicht. Hat immer schon die Hälfte weggegessen, wenn ich dazukomme. Und ständig schickt sie mich zurück in die Küche, um irgendwelche Sachen heranzuholen, die sie noch braucht. Bekomme immer Schelte von ihr, wenn ich etwas vergessen habe. Das Dumme ist nämlich, dass meine Bettseite zum offenen Zimmer hin liegt, von wo man leicht aus dem Bett aufstehen kann. Von ihrer Seite geht das schlecht. Sie liegt an der Wand, und da kommt man nur ziemlich unbequem heraus. Also muss ich immer gehen, wenn was fehlt. Und wenn ich weg bin, pickt sie sich doch glatt die besten Sachen aus dem Salat, wissen Sie? Das ist doch eine Gemeinheit, meine ich, wenn sie mir gar nichts gönnt, obwohl ich es schließlich bin, der die Abendbrotsachen zurechtmacht! Während wir uns also dort immer wie mechanisch bedienen, fallen natürlich auch Krümel zwischen die Plumeaus und das Laken – lässt sich kaum vermeiden –, und wenig später, wenn wir uns dann räkeln, ist es mir ein wahres Gräuel, wenn ich immer wieder mit piekenden Brotkrumen oder Salzkörnern oder scharfkantigen Partikeln von Kartoffelchips in Kontakt gerate. Herr, ist das eine Qual, bis wir uns einmal gesäubert, geordnet und zur Ruhe begeben haben, das kann ich Ihnen vielleicht flüstern!

Später in der Nacht, so behauptet meine Frau, finge es dann aber erst richtig an – rrrchchch – rrrchchch – rrrchchch! So was käme nämlich manchmal aus meinem Rachen, sagt sie. Aber guter Gott, was könnte ich dagegen tun, wenn’s stimmt? Vielleicht ist es ja mal der Fall, wenn ich gerade dabei bin, in den schönsten Schlaf zu fallen, Sie kennen das bestimmt auch, nicht wahr? Ich meine nicht das mit dem Schnarchen, sondern das mit dem schönen Gefühl des Wegtretens in die skurrilste aller Welten. Und gerade dann kommt von nebenan ein alles zerstörendes „Pssssssssssst!“ So was sagt meine Frau dann nämlich immer. Und laut vielleicht! Sie weckt mich brutalst auf mit ihren blöden Ermahnungen, wissen Sie, so dass ich ein ganz schlechtes Gewissen habe, weil ich sie beim Schlafen störe. Die Frau weckt mich auf, damit ich sie nicht beim Schlafen störe! Und dann geht das Ganze oft weiter und weiter. Immer wenn ich gerade schön zu träumen anfange und mir ein eventuell nur ansatzweises „rrrchchch“ leiste – nicht mal sicher – sofort ist sie da, ja augenblicklich, um mich bei meinem Namen zu rufen – ja, Namen rufen, Sie haben’s gehört! Die Frau scheint geradezu darauf zu warten, dass ich anfange zu schnarchen. Ist doch pervers, wie? Und wenn sie mich bei meinem Namen ruft, dann habe ich sofort ein schlechtes Gewissen. Genau wie früher, wenn ich in der Schule eine Klassenarbeit mit ner schlechten Note zurückbekommen habe. Hab sowieso nie was Gutes geschrieben, und deswegen kann ich diesen Ton schon gar nicht leiden. Eben weil er so demütigend ist. Oh, wie oft hätte ich die Vettel neben mir erwürgen können, wenn sie mir so die Nacht vergrätzt mit ihrem üblen Befehlston: „Halt! Lass das! Aufhören!“ Oder eben dieses nervtötende „Pssssssssssst!“ Macht mir einfach meine Idylle kaputt. Ich packe die nicht mal an!

Morgens wirft sie mir erneut vor, was ich einfach nicht glauben will: Sie sagt dann nämlich immer, dass ich mir eins wegraspeln würde wie mit ner Säge, und dass sie dabei ganz verzweifelt wäre, hätte kaum ne Chance, mich ruhigzustellen. Alles würde sie versuchen: Sie würde mir die Nase zuhalten, mir Sauereien ins Ohr flüstern – oh, wie gerne würde ich die wirklich mal hören –, sie würde mich hart an der Schulter rütteln oder laut husten, damit ich auf sie aufmerksam werde. Sogar den Mund würde sie mir dabei zuhalten. Und die Nase! Glauben Sie mir, wie gerne würde ich die einmal dabei erwischen! Nichts davon könne aber dauerhaft für Ruhe sorgen, behauptet sie. Die kann doch viel sagen, wenn die Nacht kurz war. Und wenn sie von mir ließe, das behauptet sie außerdem, dann ginge das Schnarchen sofort wieder los. Dabei weiß die gar nicht, was sie selbst für eine Geräuschkulisse unter der Decke veranstaltet. Die kriegt doch überhaupt nicht mit, was sie für einen Verdauungslärm entwickelt in ihrem blöden Blähbauch. Joiiii – joiii – joiii – joiii – joiii – joiii macht das nämlich immer. Und laut vielleicht! Und damit nicht genug. Meist addieren sich noch ekelhafte Geräusche wie gruummmh – gruummmh – gruummmh. Ihre Verdauungssaftdrüsen wollen einfach nicht zur Ruhe kommen, ihr Darm auch nicht. Der gast nämlich ganz schön aus dabei, wissen Sie? Ich muss halt damit leben. Und wenn sie sich nachts entleeren geht – oh je – das geschieht ganz bestimmt nicht selten, dann muss sie ihr Schwergewicht immer über mich hinweg wälzen, damit sie überhaupt aus dem Bett kommt. Sie liegt ja an der Wand! Und ich will mich auch einfach nicht daran gewöhnen, wie oft sie dann immer die Toilettenspülung betätigt, mitten in der Nacht. Es ist schon unglaublich, was sie für eine Ausdauer dabei hat. Auch davon werde ich natürlich wach und warte dann immer ungeduldig darauf, dass sie zurückkommt. Um weiterzuschlafen. Wenn man das jedenfalls noch als Schlaf bezeichnen kann! Nun ja, man gewöhnt sich an so allerlei, nicht wahr? Aber ich möchte Sie jetzt nicht weiter mit solchen Details langweilen, Sie müssen unbedingt geschont werden, damit Sie weiterlesen, ich beschwöre Sie! Es ist zum Verzweifeln, dass sie mir einfach nicht meine Ruhe lassen will.

Ich hab nun wirklich die Nase voll von ihren Belästigungen, möchte längst ein eigenes Zimmer! Wir haben doch diesen Hauswirtschaftsraum, dieses Kabuff. Das hätt ich gern. Will sagen, ich habe echt keinen Bock mehr auf sie, sie gönnt mir sowieso nichts!

Heute ist der Höhepunkt meiner Toleranz überschritten. Heute muss endlich etwas geschehen! Ich kann es einfach nicht mehr aushalten neben ihr und ihren Attacken. Und überhaupt mit ihrem ganzen Getue. Ihrer übertriebenen Waschsucht und immerzu alles stärken zu müssen und dann auch noch hartbügeln, das ist doch unmenschlich, nicht? So ein raues Handtuch tut doch weh auf der Haut!

Sie stellen sich bestimmt die Frage, weshalb ich das alles schon so lange neben ihr aushalte und warum ich diese Frau überhaupt geheiratet habe. Nun, was soll ich Ihnen darauf antworten? Es ist ja auch schon eine Weile her, und wir kennen uns tatsächlich schon viel länger, als wir verheiratet sind. Eigentlich kennen wir uns schon seit den Kindertagen. Unsere Eltern waren Nachbarn, und wir haben damals immer zusammen gespielt, haben uns weiß Gott gemocht. Ich erinnere mich an regnerische Nachmittage, wo wir in ihrer Wohnung, wenn die Eltern weg waren, mit Wolldecken über den Möbeln Häuschen gebaut haben. Darin haben wir dann im Dunkeln Suchen gespielt, und das war verdammt aufregend! Sie hat es immer wieder hingekriegt, dass sie sich von mir hat finden lassen. Das war ihr Trick! Dann lag sie plötzlich ganz still in einer Ecke unserer Bude vor mir auf dem Rücken und hat mir meine Hand genommen und sie so geführt, dass ich ihr an gewissen Stellen in die Wäsche ging. Das wollte sie einfach, das hat sie regelrecht provoziert! Hat mein Händchen glatt dahin geschoben, wo sie’s schön fand und hat’s höchst genossen – das weiß ich noch ganz genau! Sie hat es sich verdammt gern gefallen lassen, wenn ich sie da befühlte. Um sie zu untersuchen quasi. Und den Doktor zu spielen. Das haben wir ziemlich oft gemacht. Es war sozusagen unser Lieblingsspiel, obwohl wir es von unseren Eltern verboten bekommen hatten. Sie hat es trotzdem genossen, oder gerade weil es verboten war, wenn ich ihr unter den Rock ging und ihre fremde Spalte befingerte. Weil ich instinktiv wusste, dass es dort was Neues zu fühlen gab. Haare hatte sie. Ich meine unten! Ein zarter Flaum war da, schön weich, und das war komisch für mich, weil ich das nicht hatte. Sie hat dann auch bald kein Höschen mehr angezogen, damit ich schneller an ihren Schlitz kam, als ich frecher wurde. Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie sie immer leise gestöhnt hat, wenn ich ihr meine Fingerchen da hineingesteckt habe, um sie zu untersuchen, ich war ja der Doktor!

Feucht war es und warm. Auf jeden Fall war sie mehr als beglückt davon, darüber kann gar kein Zweifel bestehen, denn sie drückte immer wieder ihre Scham gegen meine Hand und stöhnte dabei. Komisch war das schon, aber gewiss nicht wegen Schmerz. Ich habe auch so was wie Macht über sie gespürt. Weil ich wusste, dass es ihr gefällt. Weil sie das dann immer öfter haben wollte. Sogar von ihrem Taschengeld hat sie mir abgegeben, damit ich das mit ihr mache. Es hat ihr einfach gefallen! Und hinterher habe ich mir dann Süßigkeiten davon gekauft. Meine Finger rochen übrigens immer so komisch. Und dass ich dabei einen Steifen in der Hose bekam, war mir auch nicht gerade unangenehm, aber ich wusste so was noch gar nicht einzuschätzen und was es zu bedeuten hatte. Ich war ja erst neun, sie immerhin schon sechzehn.

Meine Frau ist immer noch älter als ich, das müssen Sie mir abnehmen! Sie war es immer, die was von mir wollte. Wenn ich es richtig bedenke, war sie es auch, die mich geheiratet hat, nicht ich sie! Als ich neunzehn war – wir wohnten immer noch nebeneinander auf derselben Etage – da haben wir uns legal die Hosen runtergezogen, ich meine gegenseitig! Sie hat meistens damit angefangen, mich bedrängt und so. Sie können sich bestimmt vorstellen, was ich meine. Ich fand das auch gut, wusste ja längst, worum es ging, und habe immer alles getan, was sie wollte. Und sie hat aufgepasst auf mich. Sie ist eigentlich eine gute Frau, das müssen Sie glauben. Sie war nicht immer so wie jetzt. Aber geschmatzt und gefurzt hat sie von Anfang an. Ich glaube, das liegt an ihrem fetten Körper. Meine Frau war schon als Mädchen dick. Hat mir aber nichts ausgemacht, an ihr war stets was dran. Wenn sie sich an mich herangemacht hat, dann war da wirklich was! Will sagen, mir gefiel das gut, wenn sie mich griff, sie hatte Kraft!

Sie hatte schon was zu bieten, das müssen Sie begreifen! Ich denke aber, ich habe sie nie geliebt. Ich glaube, ich weiß gar nicht, wie das Gefühl ist, eine Frau zu lieben. Es ist mir wohl fremd. Meinen Vater habe ich geliebt! Der war zärtlich. Der hat immer mit mir geschmust, wenn er von der Arbeit kam. Spät am Abend hat er mich noch oft zu sich ins Bett geholt und mir Geschichten vorgelesen. Das war vielleicht toll! Da habe ich mich immer als sein Großer gefühlt, und er hat mich dann gestreichelt. Überall.

Ganz sanft war Vater dabei, und ich habe das vielleicht genossen! Ein paarmal hat meine Mutter mich aber aus seinem Bett geschmissen und ihn angeschrien, dass er so was nicht machen dürfe. Ich habe nie verstanden warum, es war doch so schön.

Mein Vater war auch schön, und er hat viel gelacht mit mir. Meine Frau ist eher wie meine Mutter, die schon früh gestorben ist. Die wusste immer, was zu tun war. Die war robust und hat die Familie regiert wie ein General. Streng war sie und oft ungerecht, und selten habe ich sie lachen sehen. Auch zu meinem Vater war sie streng, das habe ich früh gemerkt. Der Gute war oft traurig wegen ihr, weil sie ihn ein paarmal vorübergehend verlassen hat – später ganz –, und da hat er mir immer leid getan, wenn er so verzweifelt war. Ich bin dann immer zu ihm gegangen und habe ihn getröstet. Und dann hat er mich zu sich ins Bett genommen. Mein Vater war wirklich toll! Es war schlimm für mich, als er starb.

Ich stehe jetzt leise auf, um meine Frau nicht zu wecken, und mache, was ich mir schon lange überlegt habe. Ich hole mir in der Küche das große, besonders scharfe Tranchiermesser und schneide mir eine dicke Scheibe Graubrot ab. Dann öffne ich eine Dose Ölsardinen, greife mit der bloßen Hand hinein und belege das Brot. Das riecht ganz schön fischig. Öl tropft mir von der Hand. Ich beiße ins Brot. Schmeckt gut! Dann hole ich ein dickes Frotteehandtuch aus dem Badezimmer. Eines, das so steif ist von ihrem blöden Auskochen, dass man nach dem Bügeln jemand damit erschlagen könnte.

Als ich noch kauend zum Schlafzimmer zurückkehre, drücke ich ohne zu zögern mit voller Kraft das Handtuch auf ihr Gesicht, bis sie ganz rot wird davon. Dann blau. Sie strampelt wie verrückt, ich kann sie kaum halten. Muss richtig auf ihre fette Masse draufsteigen und sie mit meinem Gewicht fixieren. Dann endlich liegt sie ruhig und schnarcht nicht mehr. Eine Ruhe ist das vielleicht! Wieder in der Küche verschlinge ich das restliche Ölsardinenbrot. Herrlich! Dann überkommt es mich:

Zurück ins Schlafzimmer! Dort schneide ich ihr, weiß gar nicht, was über mich kommt, mit dem Messer, sssssitt, so schnell die Nase ab, dass das Organ nur so gegen die Wand fliegt. Herr, was blutet das, ist mir aber egal!

Das ganze Blut bringt mich vollends in Rage, und ich beschließe, ihr auch noch den Kopf abzuschneiden. Und dann die Arme und am besten auch gleich die Beine. Das geht aber nicht gut, weil da ja Knochen drin sind. Also hole ich mir aus der Küche das elektrisch betriebene Sägemesser. Als ich dessen Kabel in die Schukodose hinter unserem Bett stecke, fällt mir ein, dass die defekt ist. Ich muss also ein Verlängerungskabel aus dem Wandschrank in der Diele holen und es dort einstecken, was mich schon ein bisschen wurmt. Weil es umständlich ist! Der Motor setzt sich sofort in Gang.

Jetzt muss es sein, ich bin mir ganz sicher, jetzt werde ich einmal etwas nicht mehr verschieben. Es geht tatsächlich leichter mit dem Elektrischen. Wie beim Schweinebraten. Darin bin ich geübt, da hatte ich nie Probleme mit dem Zerlegen. Mit dem ganzen Blut auch nicht, das versickert schön unter meiner Frau in der Matratze und läuft Gott sei Dank nicht auf meine Seite. Morgen, ja, da werde ich all die Teile von meiner Frau in städtische Tüten sammeln und diese feste verschnüren und sie dann nach und nach entsorgen. Niemand wird etwas mitbekommen davon, da bin ich mir sicher. Und niemand wird sich etwas denken dabei, wenn meine Frau nicht mehr in der Siedlung gesehen wird. Werde einfach behaupten, sie hätte mich verlassen. Weiß nicht wohin, weiß nicht mit wem und nicht warum. Und alle werden Mitleid mit mir haben. Die wissen doch sowieso, dass unsere Ehe nur eine Farce ist. Ja, Farce, dieses Fremdwort liebe ich ganz besonders im Zusammenhang mit meiner Ehe. Sie ist mir nämlich schon öfter weggelaufen, meine Frau. Aber früher. Und da haben sie immer Mitleid mit mir gehabt. Ich habe nämlich das Vergnügen, der Beliebtere in unserer Siedlung zu sein.

Nach getaner Arbeit lege ich mich wieder auf meine Seite unseres Bettes und schlafe ein. Endlich! Bin sehr zufrieden mit mir. Selbst die Wanduhr stört nicht mehr. Sie ist mir nun eher wie eine Vertraute, nein, sogar wie eine Verbündete! Tickt weiter, als wäre nichts geschehen, so, als hätte sie mir ihre volle Unterstützung zugesagt. Ist jedenfalls nicht vor Schreck stehengeblieben, wäre ja noch schöner!

Ich sehe mich von der Polizei festgenommen. Habe die Sensationslust des Pöbels aus unserem Viertel zu ertragen. Sehe mich vor dem Richter, der mich zu lebenslänglich verdonnert. Sehe mich im Gefängnis von den anderen Einsitzenden verhöhnt. Höre die Stimme zum Morgenappell: „Aufstehen!“ Ich aus dem Bett!

Fahre in meine Klamotten! Renne nach unten. Tür knallt zu! Stehe an der Halte. Jemand glättet mir die Haare. Meine Frau. 8 Uhr 13. Neben mir!

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S 28

voll cool, geht einfach nicht ans handy ran!

Düsseldorf, Konrad-Adenauer-Platz, 2. November 2009, 14.30 Uhr.

Scheiße, schon wieder die Straßenbahn verpasst! Wird meinem Neffen kaum recht sein, denke ich, dass ich mich auch heute wieder verspäte. Seit seinem Unfall hat er keine Toleranz mehr, was die Pünktlichkeit betrifft und ein paar andere Dinge. Dabei wollen wir es uns eigentlich nur gemütlich machen bei ihm in Kaarst, wo er zusammen mit seiner Mutter wohnt. Das machen wir manchmal in der Woche, und dann koche ich meist was Leckeres, und oft sehen wir uns hinterher ein Video an, manchmal auch ein scharfes. Aus dem Verleih. Dabei schläft mein Neffe schon mal ein, und mag es noch so spannend sein, eben weil die Situation so gemütlich ist, nicht das Video! Und weil ihm jemand Nähe schenkt. Nah sein ist ihm überaus wichtig, damit er nicht das bescheuerte Gefühl hat, dass er mit anderen Augen betrachtet wird, nur weil er heute ein Besonderer ist. Aus Samaritertum besuche ich ihn aber nicht. Ich liebe ihn einfach! Weil er ein reines Herz hat und weil er mir verdammt ähnlich ist in mancherlei Hinsicht. Und weil wir in der Vergangenheit so viel miteinander erlebt haben. Die abstrusesten Sachen sogar, die ich nicht mal erzählen darf, das habe ich ihm fest versprechen müssen, als ich ihn darüber informierte, dass ich beabsichtigen würde, über ein Erlebnis zu schreiben, wo auch er drin vorkommt. Dabei fragte ich ihn, ob ich seinen Namen erwähnen dürfe. Er hatte aber etwas dagegen, ist halt doch nicht so‘n lockerer Typ wie ich. Es gibt auch Reibungspunkte. Wie mit seinem Vater früher, der mein älterer Bruder ist. Oder besser gesagt war, denn mit dem Verpisser will ich und selbst mein Neffe nichts mehr zu tun haben, mit diesem Feigling – das ist eine ganz andere Geschichte ...

Am Bahnhof muss ich mich sputen, damit ich die S-Bahn kriege. Kaarst liegt vollkommen unwichtig zwischen Düsseldorf und Mönchengladbach, ganz nah an Neuss dran und gleich bei der Autobahn, damit man schnell von dort wegkommt. Aber wer will das schon wissen? Der Flecken ist sowieso die spießigste Ansammlung von Wohnhäusern, die man sich denken kann. Halt kaarstig, wie der Name sagt, vollkommen ertraglos. Nichts, was sich da besonders hervortun würde außer meinem Neffen, den ich wie gesagt liebe. Und meiner Schwägerin, die ich bewundere, weil sie sich bis zum Rand für ihren Jungen aufopfert.

Ich also mit der Bahn dorthin. Ganz neu, die Linie – läuft wie verrückt – wurde erst vorletztes Jahr eingerichtet, damit die abends nicht von der übrigen Welt abgeschnitten sind. Früher waren sie das.

Forschen Schrittes laufe ich mit meiner Aktentasche durch den langen Bahnhofskorridor in Düsseldorf mit zig Shops und Bars und Bistros. Auch ein Reisecenter gibt es, wo man Tickets kaufen kann. Und überall Junkies, Penner, Alkies und Geschäftsleute, Tussies, Technofreaks, Normalos und ganz, ganz Wichtige. Ich sehe BGS-Beamte mit Hunden und Schlagstöcken, massenhaft nackige Bauchnabelmädchen mit glänzendem Metall drin und wundere mich, ob die nicht frieren, ist immerhin November! Auch welche, die ihre Hosen weit über die Hüftknochen runtergeschoben haben, damit ihre Strings überm abgeschnittenen Jeansrand rausgucken, hart an der Geschmacksgrenze. Und ihre Pullover enden kürzest, weit über der Taille. So, als wenn sie eingelaufen wären – die Pullover, nicht die Taillen –, aber so soll das wohl aussehen: provokant hoch drei! Die Biester wissen das ganz genau, denke ich.

Weit hinten fährt die S-Bahn ab, am „hintesten“ wie es überhaupt geht. Ich habe das Gefühl, dass hier der Müllwagen abgeht, so dreckig ist es. Kein Vergleich mit dem Bahnsteig, wo der ICE abfährt. Nach Amsterdam zum Beispiel. Zum Tulpengucken, zum Grachtenlaufen, zum Coffee-shoppen und Geneverkippen.

Ich muss eine Zusatzfahrkarte für mein Ticket 2000 ziehen. Neuer Automat, schicker Glasmonitor, geile Berührungssensorik. Da kann man schön mit seinen Fingerkuppen im Bakterienfettschmieres anderer rumtasten und die Symbole tanzen lassen – wenn man Zeit hat. Wenn nicht, wie ich, dann Gnade Gott! Das Ding ist so kompliziert zu bedienen mit all seinen Befehlen und Auswahlmöglichkeiten und Tarifen und Waben, da kann man sich ganz schön dran laben. Ich krieg’s nicht hin, bin nervös wegen der Bahn. Die müsste jetzt eigentlich gerade oben einfahren, denke ich und frage mich, was der Neue für Vorteile bringt. Früher stand hier einer, der für jede Fahrt eine eigene Werttaste hatte. Aus Stahl. Das erleichterte die Wahl. Der neue Automat macht mich ganz nervös, ich fluche, krieg das Ding nicht in Begriff, erreiche immer wieder ne falsche Tarifstufe und muss meine Eingabe löschen und wieder neu eingeben. „BITTE WÄHLEN SIE ERNEUT“ steht da nun schon zum vierten Mal souverän auf des Kastens fettigem Monitor. Und neben mir zwei Halbwüchsige. Auch eilig. Fragen mich nervös, wo ich hinwill. Ich sag, nach Kaarst, aber nur für zweizwanzig, ich hätte nämlich ein Ticket 2000, und da bräuchte ich eben noch die Zusatzfahrkarte. Die Typen müssen auch nach Kaarst, sagen sie.

„Dafür muss es doch was geben, Mann, darf ich mal ran?“ fragt einer der Technojünger.

„Gern“, antworte ich und mache Platz. Der Typ fingert kurz auf der Scheibe rum und hat auch prompt die richtige Kombination aus Fahrtziel, Personenanzahl, Wabe und Tarif eingegeben. Tatsächlich, da steht es endlich in brillant-schwarz hinter multifarbig leuchtendem Schmierglas: 2,20 Euro. Den Preis muss ich nun noch bestätigen. Warum das? frage ich mich, weshalb wollen die immerzu alles bestätigt haben? Wer hat die Zeit dazu? Ich will einen Zehneuroschein in den dafür vorgesehenen Schlitz schieben. Gar nicht leicht, viel zu eng das Ding.

„Geht nicht rein!“ sage ich vor mich hin und bin echt sauer. Der Techno neben mir frech: „Braucht wohl Gleitcreme, Alter, wie?“ Der zweite kichert sich eins.

„Wenn du’s besser kannst, mach’s vor“, rate ich dem Ersten ärgerlich.

Dem Typ gelingt es aber auch nicht, der Schein flutscht immer wieder raus.

„Ist wohl nix mit Gleitcreme, wie?“ kontere ich dem Techno froh, da reißt ihm sein Freund meinen Schein aus der Hand und läuft weg damit. Ich denke, ich sehe nicht recht, bin vollkommen verwirrt. So läuft das hier also heute mit mir, denke ich erschüttert, bin übel abgezockt worden, da kommt der Typ wieder zurück, hat den Schein beim Brezelbäcker gegen fünf Zweieurostücke getauscht und gibt sie mir.

„Versuch’s damit, Alter, mach hin!“

Das finde ich wieder nett und probier’s nun mit dem Münzschlitz. Das klappt. Mein Ticket wird ausgeworfen und dazu das Change. Bin ich froh, sage danke und renne mit Affenzahn auf den Bahnsteig hoch, wo gerade S 28 einfährt, Gott sei Dank verspätet. Die Typen hinterher, konnten kaum Zeit für ihr eigenes Ticket haben.

Ich komme gut an, gut rein und auf nen guten Sitz – einen freien, ganz hinten im modernsten S-Bahn-Waggon, den ich je gesehen habe. Echt schick hier, denke ich.

Dann nehme ich mir die Express aus der Tasche, meine Lesebrille aus der Jacke und beginne zu lesen. Den ganzen Afghanistanbinladen-alkaidatalibanscheiß kann ich nicht mehr hören, lässt meine Zeit sowieso nicht zu, und blättere fröhlich zur Kultur. Will wissen, ob der Bohlen nun doch seine Sendung behält trotz der Pöbelsprüche, die er da reißt. Der beschert seinem Sender immerhin höchste Einschaltquoten. Das Pack braucht so einen, sage ich mir.

Zwei Jungs kommen von vorne nach hinten und setzen sich mir gegenüber auf die gepolsterte Plüschbank. Es sind die zwei vom Kartenautomat. Sie beachten mich nicht, drücken sich sofort Ohrstöpsel rein und hören aus einem superflachen MP3-Player Schidda-Schidda Musik.

Der Erste: „Voll krass, wie?“

Der Zweite: „Ja, Mann, da kommt was zusammen.“

Der Erste: „Voll die Geilmusik, eh, da kommt ja immer mehr dazu, Mann!“

Der Zweite: „Hab ich doch gesagt, ist voll die Supermucke, was mir mein Freund gebrannt hat.“

Der Erste: „Ja, ne? Was’n das?“

Der Zweite: „Weiß nicht, aber vollsuperkrassgeil!“

Ich werde neugierig, will wissen, was den beiden da so doll in ihren Ohren klingt. Ich stoße den Ersten mit fragender Geste an, der nimmt seinen Knopf aus dem Ohr, sagt: „Was geht’s dich an, Alter? Haste sowieso keine Ahnung von!“

„Kommt drauf an, wenn du’s mich nicht hören lässt.“

Der Zweite nimmt auch den Knopf aus dem Ohr.

„Was willer?“

„Will hören.“

Wortlos hält mir der Zweite seinen Ohrstöpsel rüber.

Ich höre.

„Das ist Beaucoup Fish von Underworld“, staune ich, „toller Song.“ Dann gebe ich dem Techno sein Ohrbesteck zurück und lese weiter.

Ich höre den Ersten mit dem Zweiten tuscheln: „Redet voll Stuss, der Typ! Underworld – was’n das? Haste mal von denen gehört?“

Der Zweite stößt mich an. „Woher willst’n das wissen, Alter?“

„Ich hab die gleiche CD meinem Neffen gekauft, als er im Krankenhaus lag“, erkläre ich ihm, „und der findet die auch super.“

„Bist du so was wie Onkel von dem?“

„Allerdings“, antworte ich, „Neffe hat immer mit Onkel zu tun, oder?“

Der Zweite: „Dann bist du der Neffe vom Ferdi?“

„Ferdi stimmt“, lache ich, „Neffe nicht. Ich bin Onkel, verstehst du? Der Ältere!“

Der Techno (immer noch der zweite): „Sag ich ja! Dann musst du der Typ sein, von dem der Ferdi immer spricht.“

„Ich weiß nicht, ob mein Neffe von mir spricht“, antworte ich ihm, „aber CDs brennen, das soll er nicht!“

Der Erste: „Ist doch cool, Mann, machen alle heute, bist wohl hinterm Mond, wie?“

„Glaub ich kaum“, sage ich, „ich denke, Musiker sollen auch irgendwann mal was verdienen dürfen mit ihrer Musik, sonst können sie bald gar keine Musik mehr machen, und dann seht ihr ganz schön alt aus.“

Die Technos sind fertig und sagen nichts mehr. Hören einfach weiter ihr Schidda-Schidda Underworld.

Eine Frau auf der anderen Seite des Ganges mit hässlich dicken Beinen aus knallrotem Minirock in Kirschdessin schüttelt mit dem Kopf, schaut immer wieder zu mir rüber, will sich offensichtlich auf meine Seite schlagen. Es gibt aber keine spezifische Seite bei mir, ich bin total parteiisch. Weil ich Musik auch mag! Und gerade solch moderne.

Ich schaue zur Frau rüber mit einem Blick, der ihr verrät, dass sie bei mir nicht landen kann, sage: „Manche brauchen so was, stört’s Sie?“

„Könnte ein bisschen leiser sein, wie?“

„Mich stört’s jedenfalls nicht“, informiere ich.

Ein Handy klingelt.

Alle schauen sich um, wer denn wo sein Gerät herausnimmt und was er oder sie sagt und wie und wann und vor allem mit wem. Die Frau auf der anderen Gangseite kramt in der Handtasche, holt ein schickes Nokia heraus. Es tütet.

„Wat is?“ fragt die Frau.

Man kann hören, dass jemand etwas zu ihr sagt. Dann hört die Frau nicht mehr auf zu antworten, zu ermahnen, zu drohen: „Wie? Wat? Wie kommst du mir dann? Dat dat klar is heut Abend: du guckst die nit mehr an, ja? Un reden tust du auch nit mehr mit die, sonst kannste mich verjässe! Hasse an de Gürkskes jedacht? Na, für’n Nudelsalat, Alter! Bier? Hol auch Wodka! Dat muss jut werden heut mit minne Jeburtstach. Un wenn du dinne Griffel nit von die Alte lässt, dann is Ultimo! Dann kannste mich erläve, da bin ich weg – aus die Maus, klaro? Tschau!“

Die Frau steckt ihr Nokia wieder in die Tasche, tut auf lässig. Sie hat extra laut gesprochen, sie sonnt sich in ihrer Wichtigkeit, ihrem Befehlston und dass sie Aufmerksamkeit rund um sie herum im S-Bahn-Waggon bekommen hat. Aber nur in ihrer näheren Umgebung! Weiter weg wird ebenfalls laut telefoniert. Ich höre Sprüche wie: „Na, der wird sich wundern, der weiß doch gar nicht, wie das geht ...“ Direkt daneben: „Na, Dicke, wo haste dat wieder gekauft? Bei Penny?“ Eine Frau weiter vorne: „Et muss ma Schluss sein mit dat ganze Theater mit dinne Familie und Erbschaft. Et kotz mich echt an! Hau deinem Bruder die Rübe platt, dann haste alles!“ Viel weiter vorne, sehr zerrissen: „So wat – doch nich normal – bin Hartz IV – inne Bahn bezahlen?“

Und weitere Sprüche, überall, und laut vielleicht!

Bei uns tütet es immer noch! Aber gedämpft. Konnte man wegen der lauten Stimme der Gangfrau eben nicht mehr hören. Ne neue Story ist am Anrollen ...

Der Techno vor mir hat sein Handy die ganze Zeit in der Hand. Tütet nicht. Alle gucken plötzlich auf mich, weil das Tüten einfach nicht aufhören will. Ich hab mein Handy tief in der Aktentasche stecken, und mir wird klar, dass es mein eigenes ist, das mit Dreiklang-Melo nervt. Ich will aber nicht rangehen und ignoriere die Störung. Hinter meine Zeitung geklemmt, lese ich interessiert weiter.

Das Sommerloch: Bohlen neuerdings in Frack! War doch bei Mörtel, dem Opernballfuzzi. Lindsay konnte nicht. Die Lohan war sich wohl zu fein für die Wiener Rolle. Oder hatte sie die Nase voll? Womit? fragt die Zeitung.

Gebafft erfahre ich weiter: Fickwunder Dolly Buster macht nun in Kunst. Kunst? Dabei erinnere ich mich, dass Bohlens Naddel-Knaddel von der sich kompostierenden Pop-Konkurrenz ein Brilli-Herz bekommen hatte mit ordentlich Karat dran, das sie einer adeligen Kunstmäzenin verhökern wollte. „Machen Sie Ihr GOLD zu GELD“, fällt mir ein, wie die Werbung auf N24 fordert. Eva Braun, ‘tschuldigung, Hermann, kann mal wieder nicht die Fresse halten, proklamiert, dass die Gruppe Kraftwerk die Autobahn erfunden hat.

„Ist Ihr Handy, was da klingelt!“ reißt mich der Techno von gegenüber aus den Bildern.

„Na und?“

„Willst du nicht rangehen?“

„Warum? Ich will in der Öffentlichkeit nicht. Früher gab es dazu Telefonhäuschen mit Türen, kennst du wahrscheinlich nicht mehr. Was geht’s dich an, ob ich rangehen will oder nicht?“

Der Techno stößt seinen Kumpel an, ist echt erschüttert, sagt: „Guck den mal an, voll cool, der Typ geht einfach nicht ans Handy ran.“

Die beiden sind fertig mit der Welt und glotzen mich blöd an. Ich zucke mit den Schultern und lese weiter. Dann hört mein Handy in der Tasche auf zu tüten. Endlich. Ich ahne, wer das war. Mein Neffe wohl, weil ich wieder ordentlich zu spät bin.

Weiter vorne im Waggon wird es mulmig. Da scheint sich eine Kontrolle anzubahnen. Ich stecke meinen Kopf in den Gang und schaue nach. Tatsächlich, da kommt eine.

Eine kleine Frau in blauer Uniform fordert rabiat die Transporterlaubnisscheine der Fahrgäste. Bei einer Schülerin gibt’s Ärger. Die hat nicht die zugehörige Nummer auf ihr Young-Ticket eingetragen. Damit sei ihre Beförderungsgenehmigung ungültig, sagt die Frau dem Mädchen und will seine Daten notieren. Das Ding hat aber keinen Perso dabei und fängt an zu weinen. Eine Frau will helfen und das Kind in Schutz nehmen. Die Kontrolleuse fängt auch noch mit der Frau ne Diskussion an. Sie solle sich da gefälligst nicht einmischen, wünscht sie. Der Fahrgast wird laut und verbittet sich den Ton der Angestellten. Darüber vergisst die Kontrolleurin das Mädchen und macht nun mit der Frau weiter, will wissen, ob die denn eine gültige Fahrkarte habe. Die Frau empört: „Jetzt hört sich doch alles auf! Ich fahre hier seit Anfang an mit der neuen Linie und habe natürlich eine Monatsfahrkarte! Nur heute gerade habe ich die leider zu Hause vergessen, das kann ja mal passieren, oder?“

„Das hören wir hier jeden Tag hundertmal, gute Frau“, sagt die von der Linie und will vierzig Euro von ihr einstreichen. Die Frau empört sich darüber und will nun wiederum von der Kontrolleuse ihren Namen haben, damit sie sich bei der Verwaltung über deren Ton beschweren kann. Die Uniformierte ruft nach einem Kollegen, der weiter vorne befragt. Der Mann kommt hinzu, und die zwei machen nun die Frau fertig. Sie muss bezahlen, ohne Wenn und Aber, sonst gäb’s ne Anzeige. Die Frau bezahlt zähneknirschend vierzig Euro und setzt sich wütend hin. Kurz darauf ist die Kontrolleurin bei uns. Mich sicherfühlend, zeige ich ihr mein Ticket 2000 und den Zusatzfahrschein.

„Das kostet Sie vierzig Euro, mein Herr!“ sagt die Rabiate nun auch zu mir, während sie professionell aus dem Fenster hinausschaut. Ich bin schockiert und sehe die Frau mit Riesenaugen an.

„Aber ich hab doch vorhin in Düsseldorf extra ein Zusatzticket gekauft“, sage ich verzweifelt, „was wollen Sie noch?“