Die italienische Originalausgabe erschien 1962 unter dem Titel Il giardino dei Finzi-Contini bei Giulio Einaudi Editore in Turin.

Die erste deutsche Ausgabe erschien 1963 beim Piper Verlag, München.

Die Übersetzung wurde nach der Ausgabe der 1998 bei Arnaldo Mondadori in Mailand von Roberto Cotroneo herausgegebenen Opere durchgesehen.

Diese Ausgabe wurde in freundlicher Zusammenarbeit mit der Fondazione Giorgio Bassani veröffentlicht.

Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter

E-Book-Ausgabe 2016

© 1962, 1974, 1976, 1980 Giorgio Bassani

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© 2001, 2008, 2009 für diese Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/​41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie

© gettyimages/​Laurence Monneret. Die Karnickel zeichnete Horst Rudolph.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

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ISBN: 978 3 8031 4197 2

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2404 3

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Für Micòl

Gewiß, wer auf das Herz hört, dem hat es immer

etwas von den Dingen zu sagen, die geschehen

werden. Aber was weiß denn das Herz? Kaum ein

wenig von dem, was schon geschehen ist.

Manzoni Die Verlobten 8. Kapitel

Prolog

Seit vielen Jahren hatte ich den Wunsch, über die Finzi-Contini zu schreiben – über Micòl und Alberto, über Professor Ermanno und Signora Olga – und über alle die, die sonst noch in dem Haus am Corso Ercole I d’Este in Ferrara wohnten oder wie ich in der Zeit kurz vor Ausbruch des letzten Krieges dort ein und aus gingen. Aber den letzten Anstoß, es wirklich zu tun, empfing ich erst vor einem Jahr, an einem Sonntag im April 1957.

Es war auf einem der üblichen Wochenendausflüge. Wir waren, eine Gruppe von Freunden, auf zwei Autos verteilt, direkt nach dem Mittagessen die Via Aurelia hinausgefahren, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Ein paar Kilometer hinter Santa Marinella waren wir, angezogen von den Türmen einer mittelalterlichen Burg, die plötzlich zu unserer Linken aufgetaucht waren, auf einen Fußweg eingebogen und schließlich über den trostlosen Sandstreifen am Fuße des Berges geschlendert. Aus der Nähe betrachtet war die Burg übrigens bei weitem nicht so mittelalterlich, wie sie aus der Ferne, im Gegenlicht über der blauen blendenden Leere des Tyrrhenischen Meeres gewirkt hatte. Der vollen Gewalt des Windes ausgesetzt, Sand in den Augen und betäubt vom Lärm der Brandung, obendrein außerstande, die Burg zu besichtigen, weil uns dazu die schriftliche Erlaubnis von der Direktion irgendeines, ich weiß nicht mehr welchen, römischen Kreditinstitutes fehlte, fühlten wir uns gründlich enttäuscht und verärgert, daß wir bei einem solchen Wetter, das hier am Meer von nahezu winterlicher Unfreundlichkeit war, nicht in Rom geblieben waren.

Dem Bogen der Küste folgend, gingen wir etwa zwanzig Minuten am Strand auf und ab. Das einzige Mitglied unserer Gesellschaft, das sich fröhlich zeigte, war ein kleines Mädchen von neun Jahren, die Tochter des jungen Ehepaares, in dessen Auto ich saß. Geradezu elektrisiert von Wind und See und dem in rasenden Wirbeln aufgepeitschten Sand, überließ sich Giannina ganz ihrer heiteren offenherzigen Natur. Obwohl ihre Mutter versucht hatte, sie davon abzuhalten, hatte sie sich Schuhe und Strümpfe ausgezogen. Sie lief den anbrandenden Wellen entgegen, die ihre Beine bis zu den Knien umspülten. Sie schien sich, mit einem Wort, königlich zu amüsieren, so sehr, daß ich, als wir bald darauf wieder in den Wagen stiegen, einen Schatten ehrlichen Bedauerns in ihren schwarzen lebhaften Augen sah, die über zarten erhitzten Wangen funkelten.

Wieder auf der Via Aurelia, waren wir fünf Minuten später an der Abzweigung nach Cerveteri. Da wir beschlossen hatten, direkt nach Rom zurückzukehren, zweifelte ich nicht daran, daß wir geradeaus weiterfahren würden. Aber statt dessen verlangsamte Gianninas Vater die Fahrt mehr als nötig und streckte den Arm aus dem Fenster. Er gab dem Fahrer des zweiten, etwa 30 Meter entfernten Wagens zu verstehen, daß er links einbiegen wolle. Er hatte es sich anders überlegt.

So fuhren wir also auf der glatten, asphaltierten Nebenstraße weiter, die uns alsbald zu einem Dorf mit größtenteils neuen Häusern brachte. Von dort aus führte die Straße in Serpentinen zu den Hügeln des Hinterlands, zu der berühmten etruskischen Gräberstadt. Niemand forderte eine Erklärung. Auch ich schwieg.

Hinter dem Ort zwang uns die leichte Steigung der Straße zu langsamerer Fahrt. Wir fuhren nun, im Abstand von nur wenigen Metern, an den sogenannten Montarozzi vorbei, jenen kegelförmigen grasbewachsenen Grabhügeln, die über diesen ganzen Teil Latiums nördlich von Rom – mehr im Hügelland als an der Küste – bis nach Tarquinia und noch weiter verstreut sind, so daß dieses Gebiet nichts anderes ist als ein unermeßlicher, fast ununterbrochener Friedhof. Hier wächst das Gras dichter, grüner und kräftiger als auf dem tiefer gelegenen Plateau zwischen der Via Aurelia und dem Meer – ein Zeichen, daß der ständig vom Meer her wehende Schirokko hier oben bereits viel von seinem Salzgehalt verloren hat und sich das feuchtere Klima des nahen Gebirges wohltuend auf die Vegetation auswirkt.

»Wohin fahren wir?« fragte Giannina.

Das Ehepaar saß vorn, das Kind in der Mitte. Der Vater nahm die Hand vom Steuer und legte sie auf die braunen Locken seiner kleinen Tochter.

»Wir fahren zu Gräbern, die über vier- oder fünftausend Jahre alt sind«, antwortete er wie jemand, der anfängt, ein Märchen zu erzählen, und sich deshalb auch nicht scheut, bei den Zahlen zu hoch zu greifen. »Etruskische Gräber.«

»Wie traurig!« sagte Giannina und seufzte, wobei sie den Nacken an die Rückenlehne schmiegte.

»Warum traurig? Hast du in der Schule gelernt, wer die Etrusker waren?«

»Im Geschichtsbuch stehen die Etrusker am Anfang, zusammen mit den Ägyptern und den Juden. Aber sag mir, Papa, wer ist deiner Meinung nach älter: die Etrusker oder die Juden?«

Ihr Vater brach in lautes Lachen aus.

»Frag einmal diesen Herrn danach«, sagte er und wies mit dem Daumen auf mich.

Giannina wandte sich um. Den Mund hinter der Rückenlehne versteckt, warf sie einen geschwinden, strengen, mißtrauischen Blick auf mich. Ich wartete darauf, daß sie ihre Frage wiederholte. Doch nichts geschah. Plötzlich wandte sie sich wieder um und blickte geradeaus.

Auf der stets leicht ansteigenden, von einer doppelten Zypressenreihe eingefaßten Straße kamen uns Gruppen von jungen Mädchen und Burschen aus den Dörfern entgegen. Es war ihr Sonntagsspaziergang. Die jungen Mädchen, die Arm in Arm miteinander gingen, bildeten zuweilen zu fünft oder zu sechst Ketten, die bis zur Straßenmitte reichten. Seltsam, sagte ich mir, während ich sie betrachtete. Während wir an ihnen vorüberfuhren, sahen sie mit lachenden Augen neugierig durch die Scheiben, aber in die Neugier mischte sich etwas wie ein merkwürdiger Stolz, wie eine kaum verhehlte Verachtung. Wirklich seltsam, schön und frei sind sie.

»Papa«, fragte Giannina, »warum sind alte Gräber nicht so traurig wie neue?«

Eine Spaziergängergruppe, diesmal noch größer, die die Straße zu einem guten Teil für sich beanspruchte und, im Chor singend, nicht daran dachte, beiseitezutreten, hatte unseren Wagen fast zum Halten gezwungen. Gianninas Vater schaltete in den zweiten Gang zurück.

»Weißt du«, antwortete er, »die vor kurzem Verstorbenen sind uns noch näher, und darum haben wir sie lieber. Aber die Etrusker sind doch schon so lange tot« – und wieder erzählte er ein Märchen-, »daß es ist, als ob sie nie gelebt hätten, als wären sie schon immer tot gewesen.«

Wieder entstand eine Pause, noch länger als zuvor. Aber dann (wir waren inzwischen bis kurz vor den weiten Platz am Eingang zur Nekropole gekommen, wo in dichter Reihe Wagen und Reiseautobusse standen) war die Reihe an Giannina, uns eine Lektion zu geben.

»Aber so, wie du das sagst, glaube ich jetzt, daß die Etrusker doch gelebt haben, und ich habe sie so lieb wie alle anderen.«

Der Besuch der Gräberstadt stand nun ganz unter dem Zeichen des ungewöhnlichen Zartgefühls, das aus Gianninas Worten sprach. Kein anderer als sie hatte unser Verständnis geweckt. Sie, die jüngste, hatte uns gewissermaßen an der Hand genommen.

Wir stiegen in das Innere des bedeutendsten Grabes, das der vornehmen Familie Matuta: Es war ein niedriger unterirdischer Saal, in dem etwa zwanzig Totenbetten in je einer Nische der Tuffsteinwand stehen und der reich geschmückt ist mit farbigen Stuckarbeiten, die die geliebten, vertrauten Gegenstände des täglichen Lebens darstellen, Hacken, Äxte, Seile, Scheren, Spaten und Messer, Bogen und Pfeile, aber auch Jagdhunde und Sumpfvögel. Indessen versuchte ich, bereitwillig jeden Rest philologischer Skrupel unterdrückend, mir konkret vorzustellen, was für die späten Etrusker von Cerveteri, das heißt die Etrusker aus der Zeit nach der Unterwerfung durch die Römer, der eifrige Besuch ihres Friedhofs vor der Stadt bedeutet haben mochte.

Noch heute ist ja in den kleinen Orten der italienischen Provinz das Friedhofstor das obligate Ziel eines jeden Abendspaziergangs. Sie kamen aus den in der Nähe gelegenen Wohnhäusern, wahrscheinlich zu Fuß – so malte ich mir aus –, familienweise oder in Gruppen von jungen Menschen, wie wir ihnen gerade auf der Straße begegnet waren; es mochten Liebespaare dabei sein, und manche kamen vielleicht allein. Sie gingen zwischen den konisch geformten Grabkammern umher, solide und massiv wie die Bunker, mit denen die deutschen Soldaten Europa während des letzten Krieges vergebens übersät haben (die eisenbeschlagenen Räder der Leichenwagen hatten im Lauf der Jahrhunderte zwei tiefe Furchen in die gepflasterte Straße gegraben, die den Friedhof durchquerte) – Grabkammern, die gewiß, auch in ihrem Innern, den Wohnburgen der Lebenden ähnelten. Die Zeiten ändern sich – das hatten sie sich gewiß gesagt. Die Zeit war vorbei, in der Etrurien mit seinem Bund freier aristokratischer Stadtstaaten fast die ganze italische Halbinsel beherrscht hatte. Eine neue Kultur, roher und weniger aristokratisch, aber auch stärker und kriegstüchtiger, behauptete nun das Feld. Doch was sagte das schon?

Hatte man die Schwelle des Friedhofs überschritten, wo jeder von ihnen sein zweites Haus besaß, in dem er schon das Lager bereitet hatte, auf dem er bald neben den Vätern ruhen würde, konnte die Ewigkeit nicht länger eine Illusion bleiben, ein Märchen, ein Versprechen der Priester. Die Zukunft mochte, soviel sie wollte, die Welt auf den Kopf stellen; aber dort, in dem engen Bezirk, der den toten Angehörigen geweiht war – dort, inmitten der Gräber, in die man zusammen mit den Toten alles hinabtrug, was das Leben schön und lebenswert machte –, in diesem geschützten, abgeschirmten Winkel der Welt, wenigstens dort (und ihr Denken und Wähnen schwebte noch immer, nach fünfundzwanzig Jahrhunderten, um die konisch geformten Grabhügel, bedeckt von Gras und Kraut), wenigstens dort würde sich nie etwas ändern.

Als wir zurückfuhren, war es dunkel geworden.

Von Cerveteri nach Rom ist es nicht weit, um den Weg zurückzulegen, reicht eine knappe Autostunde. Und doch war es an diesem Abend keine kurze Fahrt. Auf halbem Wege war die Via Aurelia verstopft von Wagen, die aus Ladispoli oder Fregene kamen. Wir waren gezwungen, beinahe im Schritt zu fahren.

Und da, inmitten der Ruhe und Schläfrigkeit (auch Giannina war eingeschlafen), gingen meine Gedanken wieder einmal zurück zu den Jahren meiner Kindheit und Jugend, zurück nach Ferrara und zu dem jüdischen Friedhof am Ende der Via Montebello. Ich sah dort wieder die weiten Rasenflächen, auf denen hier und da ein Baum stand, die Grabsteine und Stelen, die nur am Rand der Ringmauer und der Scheidemauern dichter wurden, und, wie wenn ich sie unmittelbar vor Augen hätte, die monumentale Familiengruft der Finzi-Contini: ein häßliches Grab, zugegeben – ich hatte es von Kindheit an zu Hause sagen hören –, aber immerhin imposant und allein schon dadurch bezeichnend für die Bedeutung der Familie.

Wie noch nie krampfte sich mir das Herz zusammen bei dem Gedanken, daß in dieser Gruft, die doch wohl bestimmt gewesen war, die ewige Ruhe des Auftraggebers zu sichern – seine und die seiner Nachkommenschaft –, nur einer von all den Finzi-Contini, die ich gekannt und geliebt hatte, Ruhe gefunden hatte. Nur Alberto, der älteste Sohn, gestorben 1942 an einem Lymphogranulom, ist dort beigesetzt worden. Während keiner weiß, ob Micòl, die Zweitgeborene, ihr Vater, Professor Ermanno, ihre Mutter Olga und deren gelähmte uralte Mutter, Signora Regina, die alle im Herbst 1943 nach Deutschland deportiert wurden, überhaupt ein Grab gefunden haben.

Erster Teil

1

Es war ein großes und massives Grabmal, wirklich imposant; eine Art von Tempel, halb antik und halb orientalisch, wie man sie noch vor ein paar Jahren in den auf unseren Opernbühnen üblichen Inszenierungen von Aida und Nabucco sah. Auf einem anderen Friedhof, zum Beispiel auf dem anstoßenden Städtischen Friedhof, hätte ein derart anspruchsvolles Grabmal durchaus nichts Erstaunliches gehabt, ja, es wäre vielleicht in der Masse der anderen unbemerkt geblieben. Aber auf unserem Friedhof war es das einzige seiner Art, und so kam es, daß es dem Besucher sogleich in die Augen fiel, obwohl es ziemlich weit vom Eingang entfernt stand, im alten Teil des Friedhofs, wo es seit mehr als einem halben Jahrzehnt keine neuen Begräbnisse mehr gegeben hatte.

Der Mann, der einem angesehenen Architektur-Professor, verantwortlich für weitere mißlungene Bauten der Stadt, den Auftrag zu diesem Grabmal gegeben hatte, war Moisè Finzi-Contini gewesen, Urgroßvater väterlicherseits von Alberto und Micòl, der im Jahre 1863 gestorben war, kurz nach der Eingliederung der Territorien des Kirchenstaates in das Königreich Italien und der damit verbundenen endgültigen Abschaffung des Ghettos auch für die Juden von Ferrara. Großgrundbesitzer und ›Reformer der Landwirtschaft Ferraras‹– wie auf der Gedenktafel zu lesen war, die die jüdische Gemeinde auf der Höhe der dritten Etage im Treppenhaus der Synagoge in der Via Mazzini angebracht hatte, um die Verdienste des Verblichenen ›als Italiener und Jude‹ für alle Ewigkeit festzuhalten –, aber in künstlerischen Dingen von einem nicht besonders kultivierten Geschmack, hatte er sich offenbar mit dem Entschluß begnügt, sibi et suis ein Grabmal bauen zu lassen, und alles Weitere dem Architekten anheimzustellen. Es schien damals eine Zeit der Blüte zu sein; alles forderte zu Hoffnung und Wagemut heraus. Ganz erfüllt von dem Glücksgefühl, die bürgerliche Gleichberechtigung erreicht zu haben – die es ihm als jungem Mann zur Zeit der Repubblica Cisalpina erlaubt hatte, seine ersten tausend Hektar Boden zur Trockenlegung zu erwerben –, hatte sich der gestrenge Patriarch, wie zu verstehen war, bewogen gefühlt, bei einem so feierlichen Anlaß nicht knauserig zu sein. Sehr wahrscheinlich hatte er dem hervorragenden Architektur-Professor freie Hand gelassen, der dann seinerseits, mit all diesem Marmor zu seiner Verfügung – weißem aus Carrara, rosa-fleischfarbenem aus Verona, grauem, schwarz geädertem, gelbem, blauem und zartgrünem Marmor –, buchstäblich den Kopf verlor.

Das Resultat war ein unglaubliches Machwerk, in dem sich architektonische Erinnerungen an das Grabmal des Theoderich in Ravenna, die ägyptischen Tempel von Luxor, ein Nachklang von römischem Barock und sogar, wie die kurzen, dicken Säulen des Peristyls verrieten, von der archaischen Kultur in Knossos miteinander verbanden. Aber nach und nach, Jahr um Jahr, hatte die Zeit, die stets alles auf ihre Weise ordnet, dafür gesorgt, daß in diese unwahrscheinliche Mischung heterogener Stile so etwas wie Harmonie einkehrte. Moisè Finzi-Contini, hier als ein ›unermüdlicher Arbeiter von hehrem Charakter‹ bezeichnet, war 1863 gestorben, seine Frau Allegrina Camaioli, der ›gute Engel des Hauses‹, 1875. Ihr einziger Sohn, Dr.-Ing. Menotti, starb früh, 1877; seine Frau, Josette, aus der Familie der Barone Artom von der in Treviso ansässigen Linie, folgte ihm rund zwanzig Jahre später, 1898. Danach war die Pflege der Familiengruft, in der erst 1914 wieder ein Familienmitglied Aufnahme fand, ein Knabe von sechs Jahren namens Guido, offenbar in Hände übergegangen, die mit der Zeit müde wurden, die Grabstätte zu reinigen und in Ordnung zu halten oder auftretende Schäden auszubessern, vor allem aber der beharrlichen Belagerung durch die Vegetation zu wehren. So konnten die Grasbüschel – es war ein dunkles, fast schwarzes Gras von nahezu metallischer Beschaffenheit –, das Farnkraut, die Brennesseln, Disteln und der Mohn immer ungehemmter vordringen und das Monument überziehen. Und als ich, noch ein Kind, im Jahre 1924 oder 25, sechzig Jahre nach der Einweihung, zum erstenmal die Grabkapelle der Finzi-Contini zu sehen bekam (»Ein wahrer Greuel«, pflegte meine Mutter, die mich an der Hand hielt, jedesmal zu sagen), war sie schon ungefähr in dem heutigen Zustand. Seit Jahren kümmerte sich niemand mehr darum. Halb versunken im wuchernden Grün, der einst glatte und glänzende Marmor blind unter grauen Staubschichten, am Dach und an den Stufen außen sichtlich verwittert von Hitze und Eis, so schien mir die Familiengruft schon damals verwandelt in etwas Kostbares und Wunderbares, in das sich jedes Ding verwandelt, das lange versunken ist.

Wer weiß, wie und warum eine Neigung zur Einsamkeit entsteht. Tatsache ist jedenfalls, daß die gleiche Isolierung und Abschirmung, mit der die Finzi-Contini ihre Toten umgeben hatten, auch das andere Haus umgab, das sie am Corso Ercole I d’Este besaßen. Unsterblich geworden durch Giosuè Carducci und Gabriele D’Annunzio, ist diese Straße in Ferrara den Liebhabern von Kunst und Dichtung in der ganzen Welt so bekannt, daß sich jede Beschreibung erübrigt. Sie befindet sich, wie man weiß, mitten in jenem Teil im Norden der Stadt, der zur Zeit der Renaissance dem engen mittelalterlichen Stadtkern angefügt wurde und eben deshalb Addizione Erculea heißt. Breit und gerade wie ein Schwert, vom Kastell bis zur Mura degli Angeli in seiner ganzen Länge von den gewaltigen braunen Bauten der Adelshäuser gesäumt, ist der Corso Ercole I d’Este mit seinem weiten erhabenen Hintergrund von roten Ziegeln, grünen Pflanzen und Himmel, der einen wahrhaftig ins Unendliche zu führen scheint, so schön und von solcher Anziehungskraft auf die Fremden, daß sich die sozial-kommunistische Stadtverwaltung, die seit nahezu fünfzehn Jahren im Amt ist, von der Notwendigkeit überzeugt hat, ihn keinesfalls anrühren zu lassen, sondern mit aller Entschiedenheit vor jeder Bau- oder Geschäftsspekulation zu schützen, kurz, den ursprünglichen aristokratischen Charakter dieser Straße unversehrt zu bewahren.

Es ist eine berühmte und überdies im wesentlichen unberührt gebliebene Straße.

Und trotzdem, was nun das Haus der Finzi-Contini im besonderen angeht, so frage ich mich, wer noch etwas von ihm weiß. Obwohl man das Haus auch heute noch vom Corso Ercole I aus erreicht – davon abgesehen allerdings, daß man von der Straße aus noch einen halben Kilometer weit über einen riesigen freien Platz, der nur wenig oder gar nicht bepflanzt ist, gehen muß – und obwohl dieses Haus noch immer die historischen Ruinen eines Gebäudes aus dem Cinquecento umfaßt, das einst eine Residenz oder ein Lustschloß der Este war, das der bereits des öfteren erwähnte Moisè 1850 erworben hatte und das später von seinen Erben durch eine Reihe von Anbauten und Ausbesserungen zu einer Art von englischem Landsitz in neugotischem Stil gemacht wurde; obwohl es also aus manchen Gründen noch immer Interesse verdiente, frage ich mich, wer von dem Haus noch etwas weiß. Im Führer des Touring Club wird es nicht erwähnt, was durchreisende Fremde entschuldigt. Aber in Ferrara selbst scheinen sich nicht einmal die wenigen Juden, die die Israelitische Gemeinde heute noch zählt, daran erinnern zu können.

Daß der Reiseführer die Villa nicht erwähnt, ist zweifellos bedauerlich. Aber seien wir gerecht: der endlose Park, der vor dem Krieg das Haus der Finzi-Contini umgab und sich über eine Fläche von ungefähr zehn Hektar erstreckte, auf der einen Seite bis zur Mura degli Angeli und auf der anderen Seite bis zur alten Zollschranke an der Porta San Benedetto, ein Park, der schon an und für sich etwas Seltenes und Besonderes war (in den alten Touring-Führern vom Beginn des Jahrhunderts fehlte nie die Beschreibung, in einem kuriosen Stil: halb eines Lyrikers, halb eines Gesellschaftschronisten) – nun, dieser Park ist buchstäblich verschwunden. All die starkstämmigen Bäume, die Josette Artom zu Hunderten hatte anpflanzen lassen: Linden, Ulmen, Buchen, Pappeln, Platanen, Roßkastanien, Pinien, Tannen, Lärchen, Libanon-Zedern, Zypressen, Eichen, Steineichen, sogar die Palmen und Eukalyptusbäume wurden in den beiden letzten Kriegsjahren gefällt, zu Brennholz gemacht; langsam wird das Grundstück wieder das, was es einmal war, als Moisè Finzi-Contini es von den Marchesi Avogli gekauft hatte: einer der vielen großen Nutzgärten innerhalb der Mauern der Stadt.

Bliebe das Haus selbst. Dieses große, einzigartige Gebäude, übrigens durch einen Luftangriff im Jahre 1944 ziemlich beschädigt, wird noch heute von etwa fünfzig Familien damals Evakuierter bewohnt, Angehörigen jenes Lumpenproletariats – ähnlich der Plebs der römischen Vorstadtviertel –, das sich noch immer vor allem in den Korridoren des Palazzone in der Via Mortara zusammendrängt: verbitterte Menschen, grob und unduldsam (vor ein paar Monaten empfingen sie, wie mir erzählt wurde, den Inspektor vom Städtischen Gesundheitsamt, der auf dem Rad gekommen war, um sich ein Bild von den Verhältnissen zu machen, mit Steinwürfen), Menschen, die auf die gute Idee gekommen sind, alle Reste der alten Fresken von den Wänden abzukratzen, um jeder eventuellen Absicht des Amts für Denkmalspflege der Emilia und Romagna, sie zu exmittieren, zuvorzukommen.

Warum also sollte man unschuldige Touristen in Gefahr bringen? Das werden sich vermutlich die Redakteure der letzten Ausgabe des Reiseführers gefragt haben. Und schließlich, was bekämen sie zu sehen?

2

Konnte man die Familiengruft der Finzi-Contini als einen ›Greuel‹ bezeichnen und sie belächeln, so wurde es einem – selbst noch nach fünfzig Jahren – schwer, über ihr Haus zu lächeln, dort unten in der Einsamkeit zwischen den Stechmücken und Fröschen des Canale Panfilio und der Abfluggräben, über ein Haus, dem man einst voller Neid den Spitznamen magna domus gegeben hatte. Ja, noch heute konnte man es als Herausforderung empfinden! Man brauchte nur zufällig die endlose Mauer entlangzugehen, die den Park an der Seite des Corso Ercole I d’Este begrenzte und etwa in der Mitte von einem feierlichen Tor in dunkler Eiche unterbrochen war, dem doch wahrhaftig die Klinke fehlte; oder man blickte von der anderen Seite aus, oben von der Mura degli Angeli, die über dem Park emporragte, in die grüne Wirrnis von Stämmen, Zweigen und Laub, bis man die merkwürdige spitze Silhouette des Herrensitzes erkannte und, sehr weit im Hintergrund, am Rande einer großen Lichtung, den grauen Fleck des Tennisplatzes – und plötzlich empfand man wieder beinahe so schmerzlich, so brennend wie einst die alte Kränkung, die in dieser hochmütigen Absonderung lag.

Was für ein verrückter Einfall! Typisch neureich!, pflegte jedesmal mein Vater mit fast leidenschaftlichem Groll zu sagen, wenn er auf dieses Thema zu sprechen kam.

Gewiß, gewiß, räumte er ein, rollte in den Adern der einstigen Besitzer, der Marchesi Avogli, »das allerblaueste Blut«; ab antiquo trugen der Garten und die Ruine den höchst dekorativen Namen Barchetto del Duca – alles schön und gut, selbstverständlich! Und um so besser, als Moisè Finzi-Contini, dessen Verdienst, das Geschäft ›erkannt‹ zu haben, unbestritten blieb, bei seinem Abschluß nur das sprichwörtliche Butterbrot gezahlt haben dürfte. Aber weiter?, fügte er unverzüglich hinzu. War es deshalb wirklich nötig, daß nun Moisès Sohn Menotti – nicht ohne Grund, unter Anspielung auf die Farbe eines extravaganten, marderpelzgefütterten Mantels, den er trug, al matt mugnàga genannt, die verrückte Aprikose, daß Menotti den Entschluß faßte, mit seiner Frau Josetta in einen so abgelegenen Stadtteil zu übersiedeln, einen Stadtteil, der heute noch ungesund ist – man stelle sich vor, wie er es erst damals war! – und obendrein so einsam, so melancholisch und vor allem so unangemessen?

Aber mit ihnen, den Eltern, mochte man noch Nachsicht haben. Sie gehörten einer anderen Epoche an und konnten sich im Grunde sehr wohl den Luxus leisten, soviel Geld, wie sie wollten, in alten Steinen anzulegen. Vor allem mit ihr, Josette Artom, aus dem Treviser Zweig des Adelsgeschlechts der Artom (eine prachtvolle Frau in ihrer Jugend – blond, mit starkem Busen und himmelblauen Augen; ihre Mutter, eine geborene Olschky, stammte aus Berlin), mit ihr, die nicht allein das Haus Savoyen vergötterte, in einem Maße, daß sie noch im Mai 1898, kurz vor ihrem Tode, ein beifälliges Telegramm an den General Bava Beccaris sandte, der in Mailand die Artillerie gegen die armen Teufel von Sozialisten und Anarchisten eingesetzt hatte, und die nicht nur leidenschaftlich das Pickelhauben-Deutschland Bismarcks bewunderte, sondern die sich auch, seitdem ihr Mann, ständig ihr zu Füßen liegend, sie in seine Walhalla gesetzt hatte, noch nie die Mühe gemacht hatte, ihre Abneigung gegen die jüdischen Kreise Ferraras zu verhehlen – ein Milieu, das ihr, wie sie sagte, zu beschränkt war –, ebensowenig wie die Tatsache, daß sie, wie grotesk es auch anmutete, im Grunde ihres Herzens antisemitisch war. Was aber nun Professor Ermanno und Signora Olga betraf (er ein Mann der Wissenschaft, sie eine geborene Herrera aus Venedig, das heißt, aus einer zweifellos sehr guten westjüdischen Familie von Sephardim, allerdings ziemlich verarmt; übrigens streng religiös): was bildeten sich diese beiden eigentlich ein? Vielleicht, daß sie richtige Aristokraten geworden wären? Freilich, es war begreiflich: der Tod ihres Sohnes, ihres Erstgeborenen, Guido, 1914 im Alter von nur sechs Jahren infolge eines Anfalls von spinaler Kinderlähmung des amerikanischen Typs, gegen den selbst Corcos nichts vermocht hatte – dieser Tod mußte für beide ein furchtbarer Schicksalsschlag gewesen sein, besonders für sie, Signora Olga, die die Trauerkleider seither nicht mehr ablegte. Doch war es, davon abgesehen, nicht auch denkbar, daß allmählich die vollkommene Zurückgezogenheit, in der sie lebten, ihnen den Kopf verdreht hatte, so daß auch sie auf dieselben absurden Ideen verfielen wie Menotti Finzi-Contini und seine würdige Gattin? Aristokratie! Hat sich was! Statt sich aufzuspielen, hätten sie sehr viel besser daran getan, nicht zu vergessen, wer sie waren, woher sie kamen, da es doch feststeht, daß die Juden – Sephardim und Aschkenasim, Westjuden und Ostjuden, tunesische, jemenitische, Berber- und selbst äthiopische Juden –, in welchen Teil der Erde, unter welchen Himmelsstrich die Geschichte sie auch zerstreut hat, immer Juden sind und Juden sein werden, das heißt nahe Verwandte. Der alte Moisè hatte sich nicht wichtig gemacht! Sein Kopf war von keinem Adelsfimmel vernebelt! Als er im Ghetto wohnte, in der Via Vignatagliata 24, in dem Haus, in dem er allem Drängen seiner hoffärtigen Schwiegertochter aus Treviso zum Trotz, die darauf brannte, so bald wie möglich in den Barchetto del Duca umzuziehen, um jeden Preis bis zu seinem Tode wohnen bleiben wollte, machte er jeden Morgen, mit der Markttasche am Arm, selber seine Einkäufe auf der Piazza delle Erbe. Und dabei war er es gewesen, der – und gerade deshalb mit dem Spitznamen al gatt, die Katze, benannt – seine Familie aus dem Nichts emporgezogen hatte. Denn wenn es auch richtig war, daß Josette mit einer großen Mitgift nach Ferrara gekommen war, zu der eine Villa im Trevisanischen gehörte, die mit Fresken von Tiepolo ausgemalt war, ferner mit einem stattlichen Scheck und, wie sich versteht, mit Schmuck, sehr viel Schmuck, der bei den Premieren im Städtischen Theater, vor dem Hintergrund des roten Samts ihrer Loge, die Blicke des ganzen Saals auf sie, auf den schimmernden Ausschnitt ihres Kleides, lenkte, so war es ebenso wahr, daß es al gatt und nur er gewesen war, der die Tausende von Hektar in der ferraresischen Niederung zwischen Codigoro, Massa Fiscaglia und Jolanda di Savoia, auf denen noch heute im wesentlichen das Familienvermögen beruhte, zusammengebracht hatte. Die monumentale Familiengruft – sie war der einzige Fehler, die einzige Sünde (gegen den guten Geschmack zumal), die sich Moisè Finzi-Contini vorwerfen konnte. Aber das war auch alles.

So erzählte mein Vater, besonders an Ostern während der langen Abendessen, die auch noch nach dem Tode des Großvaters Raffaello in unserem Hause stattfanden und an denen etwa zwanzig Verwandte und Freunde teilnahmen; aber auch an Jom Kippur, an dem die gleichen Verwandten und Freunde zu uns kamen, um das Fasten zu beenden.

Aber ich erinnere mich an ein bestimmtes Osteressen, bei dem mein Vater seinen üblichen kritischen Betrachtungen und Beanstandungen, welche er hauptsächlich machte, um wieder die alten Geschichten aus der jüdischen Gemeinde erzählen zu können, neue und erstaunliche hinzufügte.

Es war 1933, im Jahr der Dezenniumsfeier des faschistischen Regimes. Dank der ›Milde‹ des Duce, der sich plötzlich, wie einer Eingebung folgend, entschlossen hatte, die Arme weit für jeden ›Ungläubigen oder Gegner von gestern‹ zu öffnen, hatte auch in unserer Gemeinde die Zahl der eingeschriebenen Parteimitglieder jäh auf neunzig Prozent emporschnellen können. Und mein Vater, der wie üblich am Ende der Tafel auf dem Ehrenplatz saß, wo jahrzehntelang Großvater Raffaello mit ganz anderer Autorität und Strenge gethront hatte, mein Vater hatte nicht umhingekonnt, dieses Ereignis zu begrüßen. Der Rabbiner Doktor Levi hatte recht getan, so erklärte er, diesen Umstand zu erwähnen, als er kürzlich in der Synagoge in Anwesenheit der höchsten Spitzen der städtischen Behörden – des Präfekten, des Segretario Federale, des Bürgermeisters und des die Garnison kommandierenden Brigadegenerals – eine Rede zur Feier der Verfassung gehalten hatte!

Und doch war mein Vater nicht ganz zufrieden. In seinen blauen Kinderaugen, aus denen der Patriotismus leuchtete, sah ich einen Schatten der Enttäuschung. Er mußte einen schwachen Punkt entdeckt haben, eine kleine Peinlichkeit, so unvermutet wie unangenehm.

Und tatsächlich, als er an den Fingern abzuzählen begann, wer von uns, von den Judìm Ferraras, noch ›draußen‹ geblieben war, und dann schließlich zu Ermanno Finzi-Contini kam, der nie Mitglied der Partei geworden war, ohne daß man allerdings so recht den Grund dieser Weigerung verstand, zumal wenn man an seinen ansehnlichen Landbesitz dachte –, entschloß sich mein Vater plötzlich, gleichsam unzufrieden mit sich selber und seiner Diskretion, uns zwei kuriose Umstände mitzuteilen, die, wie er vorausschickte, in keinem Zusammenhang miteinander standen, aber deshalb nicht weniger bedeutsam waren.

Erstens: daß, als sich Rechtsanwalt Geremia Tabet in seiner Eigenschaft als Ritter vom Heiligen Grab und als intimer Freund des Segretario Federale eigens auf den Barchetto del Duca hinausbegeben hatte, um dem Professor die bereits ausgefüllte Mitgliedskarte zu überreichen, ihm dieser nicht nur die Karte zurückgab, sondern ihn auch kurz darauf, gewiß sehr höflich, aber auch ebenso entschieden vor die Tür setzte.

»Und was für eine Ausrede hatte er?« fragte jemand gereizt.

»Man hat noch nie gehört, daß Ermanno Finzi-Contini den Mut eines Löwen besitzt.«

»Mit welcher Entschuldigung er abgelehnt hat?« fragte mein Vater und lachte laut auf. »Mit irgendeiner der üblichen Ausreden, daß er ein Gelehrter sei (ich möchte bloß wissen, in welchem Fach!), zu alt und sich sein Leben lang nicht um Politik gekümmert habe und so weiter und so fort. Übrigens war er schlau, unser Freund! Er muß wohl das finstere Gesicht Tabets gesehen haben, und zack! steckte er ihm fünf Tausendlirescheine in die Tasche.«

»Fünftausend Lire!«

»Genau. Zugunsten der Ferienkolonien des nationalen Jugendwerks. Das hat er sich gut ausgedacht, nicht wahr? Aber jetzt hört die zweite Neuigkeit!«

Und nun berichtete er der Tischgesellschaft, wie vor einigen Tagen der Professor in einem Brief an den Rat der Jüdischen Gemeinde, übermittelt durch den Rechtsanwalt Renzo Galassi-Tarabini (konnte man einen Rechtsanwalt finden, der scheinheiliger, frömmelnder und bigotter war?), offiziell um die Erlaubnis gebeten hatte, die kleine alte Spanische Synagoge in der Via Mazzini, die seit mindestens drei Jahrhunderten nicht mehr zum Gottesdienst benutzt worden war und nun als Möbelmagazin diente, auf eigene Kosten wiederherstellen zu lassen ›zur Benutzung durch seine eigene Familie sowie eventuelle Interessenten‹.

3

1914, als der kleine Guido starb, war Professor Ermanno neunundvierzig und seine Frau Olga vierundzwanzig Jahre alt. Der Kleine fühlte sich elend und wurde mit sehr hohem Fieber ins Bett gesteckt, wo er sogleich in tiefen Schlaf fiel.

Doktor Corcos wurde dringlich gerufen. Nach einer stummen, nicht enden wollenden Untersuchung mit zusammengezogenen Augenbrauen hob Corcos unvermittelt den Kopf und fixierte mit ernstem Blick erst den Vater und dann die Mutter. Der Blick des Hausarztes war lang, streng und sonderbarerweise verächtlich; unter dem dichten, schon ganz ergrauten Schnurrbart verzog sich sein Mund zu der bitteren Grimasse für hoffnungslose Fälle.

»Da ist nichts mehr zu machen«, wollte Doktor Corcos mit diesem Blick und dieser Grimasse ausdrücken. Vielleicht aber noch etwas anderes. Nämlich daß auch er vor zehn Jahren (und vielleicht sprach er sogar am selben Tage davon, bevor er sich verabschiedete, oder aber, und das gewiß, erst fünf Tage später mit Großvater Raffaello, während beide langsam dem prachtvollen Trauergeleit folgten), daß auch er einen Sohn verloren hatte, seinen Ruben.

»Auch ich habe diese Qual erlebt, auch ich weiß, was es heißt, einen Sohn von fünf Jahren sterben zu sehen«, sagte Elia Corcos unvermittelt.

Mit gebeugtem Kopf, die Hände auf die Lenkstange seines Fahrrads gestützt, ging Großvater Raffaello neben ihm. Es sah aus, als zählte er die einzelnen Kieselsteine auf dem Corso Ercole I d’Este. Bei diesen Worten, recht ungewohnt im Munde seines skeptischen Freundes, blickte er ihn verwundert an. Ja, was konnte Elia Corcos von all dem wissen? Er hatte lange den schlaffen Körper des Kindes untersucht, sich den tödlichen Verlauf der Krankheit eingestanden, dann hatte er die Augen aufgeschlagen und den Blick starr auf die versteinerten Gesichter der Eltern gerichtet: den Vater, schon ein alter Mann, die Mutter, noch ein Mädchen. Wie hätte er in diesen beiden Herzen lesen, wie den Zugang zu ihnen finden können? Und wer würde ihn je in Zukunft finden? Die Grabinschrift für den kleinen Toten in der Familiengruft auf dem Israelitischen Friedhof (sieben Zeilen auf einer bescheidenen rechteckigen Tafel aus weißem Marmor, ziemlich flach eingraviert und geschwärzt) sollte nur so viel enthalten:

Wehe!

GUIDO FINZI-CONTINI

(1908  1914)

erlesen an Gestalt und Geist,

deine Eltern rüsteten sich,

dich immer mehr zu lieben,

nicht dich schon zu beweinen

Immer mehr. Ein leises Schluchzen, weiter nichts. Ein Schmerz, der das Herz abdrückte und den man mit niemandem auf der Welt teilen konnte.

Alberto wurde 1915, Micòl 1916 geboren – beide ungefähr gleichaltrig mit mir. Sie besuchten weder die jüdische Volksschule in der Via Vignatagliata, wo Guido in die Erste Vorschulklasse gegangen war, ohne das Schuljahr beenden zu können, noch später das staatliche Humanistische Gymnasium G. B. Guarini, diesen frühen Schmelztiegel der besten Ferrareser Gesellschaft, der jüdischen wie der nichtjüdischen, und daher mindestens ebenso zeremoniös. Sie wurden vielmehr, sowohl Alberto als auch Micòl, privat unterrichtet, und Professor Ermanno unterbrach von Zeit zu Zeit seine Studien – Landwirtschaft, Physik und die Geschichte der jüdischen Gemeinden in Italien –, um ihre Fortschritte zu überwachen. Es waren die überdrehten, aber auf ihre Weise großzügigen Jahre des beginnenden Faschismus in der Emilia. Alles, was einer tat und ließ, wurde damals – auch von jemandem wie meinem Vater, der mit Vorliebe Horaz und sein Wort von der aurea mediocritas, vom Goldenen Mittelweg, zitierte – recht grob danach beurteilt, ob es patriotisch oder defaitistisch war. Seine Kinder auf eine öffentliche Schule zu schicken galt allgemein als patriotisch. Sie sie nicht besuchen zu lassen als defaitistisch – und damit für alle Eltern, die ihre Kinder auf eine öffentliche Schule schickten, als entschiedene Herausforderung.

Aber eine Beziehung, wie schwach auch immer, mit der äußeren Welt, mit Kindern, die wie wir auf eine staatliche Schule gingen, hatten Alberto und Micòl Finzi-Contini bei all ihrer Absonderung dennoch aufrechterhalten.

Es waren zwei Professoren vom Guarini-Gymnasium, die wir gemeinsam hatten und die die Verbindung zwischen uns herstellten.

Professor Meldolesi zum Beispiel, unser Lehrer in Italienisch, Latein, Griechisch, Geschichte und Geographie in der vierten Gymnasialklasse, stieg nachmittags häufig aufs Fahrrad und fuhr von dem wohlhabenden Viertel, das in jenen Jahren vor der Porta San Benedetto entstanden war, wo er, allein, in einem möblierten Zimmer wohnte, dessen Lage und Blick er uns oft geschildert hatte, zum Barchetto del Duca, wo er sich manchmal bis zu drei Stunden lang aufhielt. So auch Signora Fabiani, unsere Mathematiklehrerin.

Um die Wahrheit zu sagen: von der Fabiani sickerte nie etwas durch. Sie stammte aus Bologna, eine kinderlose Witwe, über fünfzig Jahre alt und sehr kirchlich gesinnt. Während sie uns abhörte, bemerkten wir, wie ihre Miene zusehends zerstreut wirkte, wobei sie vor sich hin murmelte und ständig die Augen verdrehte – himmelblaue, sozusagen flämische Augen –, als wäre sie drauf und dran, in einen Zustand der Verzückung zu verfallen. Sie betete. Für uns Ärmste zweifellos, die wir fast sämtlich unbegabt für Algebra waren, wahrscheinlich aber auch, um den Übertritt der jüdischen Herrschaften zum Katholizismus zu beschleunigen, in deren Haus sie zweimal in der Woche kam. Die Bekehrung von Professor Finzi-Contini und Signora Olga, vor allem aber der beiden Kinder, Alberto, so intelligent, und Micòl, so lebhaft und hübsch, erschien ihr wohl als eine gar zu bedeutsame und dringliche Angelegenheit, als daß sie ihre Erfolgsaussichten mit einer banalen Indiskretion aus dem Unterricht vermindert hätte.

Professor Meldolesi dagegen schwieg keineswegs. In Comacchio geboren und von bäuerlicher Abkunft, hatte er seine Erziehung bis zum Gymnasium auf einer Klosterschule genossen (vom Priester, vom kleinen Landpfarrer mit seiner wachen Gescheitheit und manch quasi ›weiblicher‹ Eigenschaft hatte er viel); als er dann sein Studium in Bologna begann, war er gerade noch rechtzeitig gekommen, um die letzten Vorlesungen von Giosuè Carducci zu hören, dessen ›bescheidener Schüler‹ zu sein er sich rühmte. Für ihn bedeuteten die Nachmittage auf dem Barchetto del Duca, in einer Umgebung, gesättigt von Erinnerungen an die Renaissance, mit dem Fünfuhrtee im Kreise der vollzählig erschienenen Familie – und Signora Olga kam oft um diese Stunde, die Arme voll Blumen, aus dem Park ins Haus –, und später in der Bibliothek, wo er bis zum Einbruch der Dunkelheit das gelehrte Gespräch mit Professor Ermanno genoß – für ihn bedeuteten diese wunderbaren Nachmittage etwas sehr Kostbares, so daß er sie auch vor uns zum Thema ständiger Gespräche und Erörterungen machte.

Und als ihm Professor Ermanno eines Abends enthüllte, daß Carducci im Jahre 1875 zehn Tage lang Gast seiner Eltern gewesen war, und als er ihm das Zimmer zeigte, in dem er gewohnt, und er das Bett berühren durfte, in dem er geschlafen hatte, als er ihm am Ende ein ganzes Bündel von handgeschriebenen Briefen des Dichters an seine, des Professors, Mutter mitgab, damit er sie einmal in aller Ruhe ansähe, da kannten seine Erregung und seine Begeisterung keine Grenzen mehr. Er war bald davon durchdrungen und suchte auch uns zu überzeugen, daß jener berühmte Vers aus der Canzone di Legnano:

O blonde, o schöne Kaiserin, o treue …

in dem sich bereits deutlich die noch berühmteren Verse ankündigen:

Woher kamst du? Die die Jahrhunderte

uns so mild und schön überlieferten …

und gleichfalls die aufsehenerregende Bekehrung des großen Maremmensohns zu dem ›königlichen Ewigweiblichen‹– königlich und aus dem Hause Savoyen – von niemand anderem inspiriert worden seien als von der Großmutter väterlicherseits seiner Privatschüler Alberto und Micòl Finzi-Contini. Was für ein prachtvolles Thema – so hatte Professor Meldolesi einmal während des Unterrichts mit einem Aufseufzen gesagt – zu einem Artikel für die Nuova Antologia, in der Alfredo Grilli, sein Freund und Kollege Grilli, seit langem seine bissigen Serra-Glossen veröffentlichte! Irgendwann wollte er, natürlich mit allem durch die Umstände gebotenen Takt, dem Besitzer der Briefe davon sprechen. Und verhüte der Himmel, daß dieser angesichts der Bedeutung der Briefe nein sage, wo doch inzwischen so viele Jahre vergangen waren und sich Carducci überdies in vollkommener Korrektheit nur mit Ausdrücken wie ›liebe, verehrte Baronin‹, ›hochverehrte Gastfreundin‹ und ähnlichen an die Dame gewandt hatte. In dem glücklichen Fall einer Zustimmung wollte dann er, Giulio Meldolesi, es übernehmen – vorausgesetzt, daß er auch hierfür die ausdrückliche Genehmigung erhielte –, jeden dieser Briefe abzuschreiben und dann diese heiligen Scherben, diese ehrwürdigen Funken vom großen Hammer, mit einem Minimum von Kommentar zu versehen. Denn was für einen Kommentar brauchte schon der Text dieser Briefe? Keinen weiter als eine allgemein gehaltene Einführung, allenfalls vervollständigt durch einige knappe historisch-philologische Fußnoten …

Aber außer den gemeinsamen Lehrern gab es auch die Prüfungen für die Privatschüler – sie fanden im Juni gleichzeitig mit denen für die Schüler staatlicher und Internatsschulen statt –, die uns wenigstens einmal im Jahr mit Alberto und Micòl in unmittelbare Berührung brachten.

Für uns interne Schüler gab es vielleicht, vor allem wenn wir versetzt worden waren, keine schöneren Tage. Als hätten wir plötzlich Sehnsucht bekommen nach der soeben erst beendeten Zeit des Unterrichts und der Hausaufgaben, fanden wir für unsere Zusammenkünfte keinen besseren Ort als den Vorhof der Schule. Wir standen in dem weiten Vorraum, in dem es kühl und dämmerig war wie in einer Krypta, und drängten uns vor den großen weißen Anschlägen mit den endgültigen Zensuren, wie gebannt von unseren Namen und denen unserer Kameraden, über die wir uns, wenn wir sie dort so lasen, in Reinschrift und unter Glas hinter einem dünnen Drahtgitter, nie genug wundern konnten. Es war schön, von der Schule nichts mehr befürchten zu müssen, schön, gleich wieder hinaustreten zu können in das klare blaue Licht eines Vormittags, wie es uns vom Eingang her zublinzelte, und schön, lange Stunden der Muße und der Freiheit vor sich zu haben, die man nach Belieben verbringen durfte. Alles war schön, alles wundervoll in diesen ersten Ferientagen. Und welches Glück bereitete der ständig wiederkehrende Gedanke an die bevorstehende Reise ans Meer oder ins Gebirge, wo man sich an die Schule, für so manch anderen noch Mühe und Qual, bald kaum mehr erinnern würde!

Und eben bei diesen anderen (zumeist plumpe Burschen vom Lande, Söhne von Bauern, vom Dorfpfarrer auf die Prüfungen vorbereitet, die, bevor sie die Schwelle zum Guarini-Gymnasium überschritten, verwirrt um sich blickten wie Kälber, die zur Schlachtbank geführt werden), bei diesen anderen befanden sich Alberto und Micòl Finzi-Contini, sie beide allerdings keineswegs verwirrt, gewöhnt, wie sie es seit Jahren waren, zu kommen und zu triumphieren. Vielleicht ein bißchen ironisch, besonders mir gegenüber, wenn sie, durch die Vorhalle gehend, mich zwischen meinen Kameraden entdeckten und mich von weitem mit einem Wink und einem Lächeln grüßten. Aber stets wohlerzogen, eher zu sehr, und liebenswürdig – wirklich wie Gäste.

Sie kamen nie zu Fuß, ebensowenig mit dem Fahrrad, sondern im Wagen, in einem dunkelblauen Brumm-Brumm mit großen Gummirädern und roten Stangen und alles blinkend von Lack, Glas und Nickel.

Der Wagen stand vor dem Schultor des Guarini-Gymnasiums, Stunden und Stunden, ohne vom Fleck zu rücken, außer um Schatten zu suchen. Und man muß zugeben, daß auch dies: die Kutsche aus der Nähe und in allen Einzelheiten zu untersuchen – angefangen von dem mächtigen Gaul, der nur hin und wieder gelassen ausschlug, mit seinem gestutzten Schwanz und der bürstenförmig kurz geschnittenen Mähne, bis zu der winzigen Adelskrone, die sich silbern vom Blau des Wagenschlags abhob – und gar von dem nachgiebigen Kutscher, der, obwohl in einfacher Livree, auf dem Bock wie auf einem Thron saß, die Erlaubnis zu erhalten, auf einen der beiden seitlichen Wagentritte zu steigen, um nach Herzenslust, die Nase an die Scheibe gedrückt, das Wageninnere zu mustern, alles in grauem Plüsch und in Halbdunkel getaucht (wie ein Salon – in einer Ecke staken sogar Blumen in einer schmalen, schlanken, kelchförmigen Vase) – daß auch dies ein Vergnügen war: eins der vielen abenteuerlichen Vergnügungen, deren jene wunderbaren Frühsommermorgen unserer Jugend voll waren.

4

Was mich persönlich betrifft, so hatte in meiner Beziehung zu Alberto und Micòl von jeher eine größere Vertraulichkeit gelegen. Die Blicke des Einverständnisses, all die vertraulichen Zeichen, die mir Bruder und Schwester gaben, jedesmal wenn wir uns in der Nähe des Guarini-Gymnasiums trafen, spielten, wie ich genau wußte, auf etwas an, das nur uns allein anging.

Eine größere Vertraulichkeit. Aber worauf beruhte sie eigentlich?

Selbstverständlich in erster Linie darauf, daß wir Juden waren, und das wäre in jedem Fall mehr als genug gewesen. Ich will sagen: Zwischen uns brauchte es gar nichts Gemeinsames zu geben, nicht einmal so viel, wie aus den paar Worten, die wir gelegentlich gewechselt hatten, entstanden sein mochte – der Umstand, daß wir waren, was wir nun einmal waren, daß wir zweimal im Jahr, an Ostern und Kippur, mit unseren Eltern und nächsten Verwandten vor derselben Tür in der Via Mazzini erschienen – und oft geschah es, daß, nachdem alle zusammen durch die Haustür gegangen waren, die Enge der im Halbdunkel liegenden Vorhalle die Erwachsenen zu Begrüßungen mit gezogenem Hut, mit Händeschütteln und tiefen Verbeugungen veranlaßte, zu denen ihnen sonst das ganze Jahr keine Gelegenheit bot –, dieser Umstand genügte uns Kindern, um in unseren Blicken, sobald wir uns anderswo und besonders in Gegenwart von Fremden wiedersahen, das Zeichen oder das Lachen eines stillen Einverständnisses aufleuchten zu lassen.

Daß wir Juden und im Register der gleichen israelitischen Gemeinde eingetragen waren, sagte in unserm Fall allerdings noch recht wenig. Was bedeutete im Grunde schon das Wort ›Jude‹? Welchen Sinn konnten für uns Ausdrücke wie ›Jüdische Gemeinde‹ oder ›Israelitische Universität‹ haben, die nichts über jene andere, tiefere Vertrautheit sagten – geheim und in ihrer Bedeutung nur von dem zu ermessen, der an ihr teilhatte –, die darauf beruhte, daß unsere beiden Familien auf Grund einer Tradition, älter als alle Erinnerung, dem gleichen religiösen Ritus oder, besser gesagt, der gleichen ›Schule‹ angehörten? padani, intra muros