ilri Bibliothek Wissenschaft

Band 13

Harald Vogel

»Was darf die Satire?«

Kurt Tucholsky und Erich Kästner

– ein kritischer Vergleich

 

ilri Bibliothek Wissenschaft, Bd. 13

1. Auflage 2015

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

Umschlaggestaltung, Satz und Layout: Mediengestaltung Wiese, Leipzig
mediengestaltungwiese.de

ISBN: 978-3-95420-015-3 (Print)

ISBN: 978-3-95420-115-0 (ePUB)

ISBN: 978-3-95420-315-4 (mobi)

ISBN: 978-3-95420-215-7 (ePDF)

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Es tut weh, Kästner wehzutun

Sie waren klug, streitbar und am Ende unglücklich:

ein Gespräch über Kurt Tucholsky und Erich Kästner.

Ich habe Erfolg, aber keinerlei Wirkung (Tucholsky)

Vergeblich leben ist schwer (Kästner)

Kurt Tucholsky und Erich Kästner

– zwei engagierte Schriftsteller.

Ein kritischer Vergleich

Was darf die Satire? (Tucholsky)

Eine kleine Sonntagspredigt (Kästner)

Vom Sinn und Wesen der Satire.

Kurt Tucholsky und Erich Kästner – ein Diskurs

Halb erotisch – halb politisch (Tucholsky)

Die kleine Freiheit (Kästner)

Kabaretttexte von Kurt Tucholsky und Erich Kästner.

Ein wirkungstypologischer Vergleich

»Soldaten sind Mörder«

Kurt Tucholskys Artikel Der bewachte Kriegsschauplatz in der ‚Weltbühne‘ (1931).

Sachtext und literarische Satire.

Diskurs und didaktisches Arrangement

unter Mitarbeit von Michael Gans

Downloadangebot: PowerPoint Präsentation

»Soldaten sind Mörder«: Tucholskys Satz – Text – Kontext.

Didaktische Zugänge

Nachweise

Fußnoten

Es tut weh, Kästner weh zu tun

Ein Gespräch zwischen Karin Großmann und Prof. Dr. Harald Vogel

Erich Kästner erzählt, wie er zufällig im selben Hotel wie Tucholsky in Brissago war und dieser ihm abends auf der Seepromenade am Klavier neue Chansons vorspielte – würden Sie es Freundschaft nennen, was beide verband?

Die Gemeinsamkeit ergibt sich eher durch die Arbeit, beide schreiben für Zeitschriften wie Die Weltbühne. Als Kästner 1929 dort anfängt, ist Tucholsky bereits eine literarische Instanz. Er betrachtet den neun Jahre jüngeren Kollegen beinahe wie seinen Schützling. In einer Rezension nennt er Kästners Gedichte »brillant« und »wunderbar gearbeitet«. Trotzdem ist er mit dem Ganzen nicht glücklich.

Was fehlt ihm?

Kurt Tucholsky ist ein hochgebildeter Intellektueller und Kosmopolit. Er spürt wohl, dass es Kästner, der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen kommt, an politischer Kompetenz und Schärfe fehlt. »Da pfeift einer, im Sturm, bei Windstärke 11 ein Liedchen«, schreibt Tucholsky und ermahnt Kästner, die Zeit kritischer zu beleuchten.

Spürt Erich Kästner dieses Defizit?

Ich glaube, es ist ihm bewusst, dass er nicht heranreicht an die Konsequenz, mit der Kurt Tucholsky seine eigene Meinung äußert und verteidigt. Kästner spürt dessen Überlegenheit.

Hat er auf Tucholskys Kritik an seinen Gedichten reagiert?

Es ist zumindest nicht überliefert. Was im Nachlass von Erich Kästner noch unter Verschluss liegt, weiß ich nicht. Die Skizze vom Zusammentreffen in Brissago am Lago Maggiore ist der einzige Text, in dem Kästner den Kollegen porträtiert. Er zeigt sich selbst als Beobachter, der faul in der Sonne liegt, während Tucholsky unentwegt auf der Schreibmaschine tippt.

Ist die Diskrepanz zwischen Kästner und Tucholsky politisch begründet oder eher charakterlicher Natur?

Beides trifft zu. Deshalb entsteht auch keine wirkliche Freundschaft. Tucholsky ist ein politischer Kämpfer. Er streitet für Ehrlichkeit und Kompromisslosigkeit und kritisiert die Politik, wenn sie faule Kompromisse eingeht. Kästner nennt sich zwar einen Moralisten und Schulmeister, doch er löst diese Absicht nicht ein. In seinen Angriffen bleibt er oft allgemein. Sein Werk ist von Selbstbespiegelungen durchsetzt.

Aber er hat größeren Erfolg, er wird heute mehr gelesen als Tucholsky.

Seine Wirkung ist unbestritten. Er findet einen Ton, der die gebildeten Leser anspricht und die nicht so gebildeten. Wenn ich mit meinem Lyrikprogramm gastiere, gehören Texte von beiden Satirikern dazu. Kästner wird immer liebevoll aufgenommen; man fühlt sich gestreichelt von ihm. Bei Tucholsky wird hinterher diskutiert.

Kann man sagen, dass er auf die Veränderung der Gesellschaft zielt und Kästner auf die Veränderung des Einzelnen?

Der Einzelne ist beiden wichtig, das haben sie gemeinsam: Sie kritisieren selten die konkreten Protagonisten auf der politischen Bühne, sondern die Gesinnung ihrer Mitbürger. Tucholsky will das politische Bewusstsein seiner Leser schärfen, will sie befähigen, die Politik zu durchschauen. Kästner publiziert seine moralischen Postulate in der Hoffnung, die Leser würden sich daran halten.

Gehen Sie nicht zu streng mit ihm um?

Ich weiß, es tut weh, Kästner wehzutun. Aber jüngere Forschungen rechtfertigen die kritische Sicht. Er hat fast die Hälfte seines Werkes in der Nazizeit geschrieben, unter Pseudonymen, und ging dafür viele Kompromisse ein. In einem Brief bittet er die Reichsschrifttumskammer, das Publikationsverbot gegen ihn zurückzunehmen. Das kann man fast Anbiederei an die Faschisten nennen. Nach dem Krieg versucht er seine Rolle im Dritten Reich aufzuwerten und nimmt Bekenntnisse in sein Tagebuch »Notabene 1945« auf, die vorher nicht drin standen. Das finde ich unredlich.

Lassen Sie wenigstens seinen viel zitierten Spruch gelten: »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es«?

Auf dieses eingängige Postulat fällt man leicht herein, wenn man nicht fragt, was es bedeutet, gut zu sein; wie viel Kraft und Widerstandswillen es kostet, das als gut Erkannte durchzusetzen. Erich Kästner selbst bringt diese moralische Kraft nicht auf, selbst wenn er nach außen hin Stärke und Selbstbewusstsein zeigt.

Entscheidet er sich deshalb anders als der Schweden-Exilant Tucholsky für die innere Emigration?

Dabei spielte auch seine überstarke Mutterbindung eine Rolle und das Geheimnis, das er mit der Mutter teilt: dass er vermutlich der Sohn des jüdischen Hausarztes Emil Zimmermann ist. Deshalb bleibt Kästner in Deutschland. Er lässt die Mutter in Dresden mit dem Geheimnis nicht allein.

Das Verhältnis zu Frauen scheint für Kästner wie für Tucholsky problematisch zu sein.

Ich glaube, sie sind beide bindungsunfähig, aus unterschiedlichen Gründen. Kästner hat viele kleine Lieben und zwei große – Ilse Julius, die früh verunglückt, und Friedel Siebert. Vor einer dauerhaften Bindung aber hat er Angst. Der tragische Beziehungskonflikt zwischen seiner Lebensgefährtin Marieluise Enderle und Friedel Siebert, der Mutter seines unehelichen Sohnes Thomas, hindert Kästner an der ersehnten Vaterrolle und verschärft sein psychisches Leiden im Alter. Tucholsky arbeitet mit unerhörter Produktivität, und das ist nur möglich, wenn er sich frei fühlt. Dauerhafte Beziehungen lebt er aus in den Briefen an Mary Gerold oder an die Schweizer Ärztin Hedwig Müller. So kompensiert er die Distanz.

Die Frage, welcher der beiden Satiriker Ihnen sympathischer ist, scheint sich zu erübrigen.

Ich habe Tucholsky schon als Schüler gelesen. Er hat mich auch politisch motiviert. Viele seiner Auffassungen haben geradezu etwas Prophetisches.

Auch die zum Pazifismus?

Ich stehe zu seinem Satz: »Soldaten sind Mörder.« Er wird von der Weltgeschichte bestätigt. Natürlich sehe ich auch, dass wir vielen Konflikten in der Welt hilflos gegenüberstehen. Aber wenn man im Pazifismus konsequent sein will, muss man fordern, dass jede Waffenproduktion eingestellt wird. Eine Waffe tötet. Ein gerechter Krieg ist nicht möglich. Wer will denn entscheiden, ob eine Gruppierung weniger mörderisch ist als die andere? Wer weiß denn, wo die Waffen bleiben, die etwa an die Kurden geliefert werden? Mit welchen Waffen der Islamische Staat schießt?

Sie meinen, diese Konflikte ließen sich mit Pazifismus lösen?

Das wäre ein Irrtum. Pazifismus ist eine Frage der eigenen moralischen Integrität. Wenn man Idealist ist, muss man Konsequenzen ziehen. Tucholsky hat es getan – und im Exil resignierend festgestellt: »Ich habe Erfolg, aber ich habe keinerlei Wirkung.«

Dieses Interview erschien am 17. Oktober 2014 in der »Sächsischen Zeitung« (Dresden) und wird hier mit freundlicher Genehmigung der »Sächsischen Zeitung« nachgedruckt, wofür wir herzlich danken.

Ich habe Erfolg, aber keinerlei Wirkung (Tucholsky)

Vergeblich leben ist schwer (Kästner)

Kurt Tucholsky und Erich Kästner
 – zwei engagierte Schriftsteller.
Ein kritischer Vergleich1

Kurt Tucholsky und Erich Kästner werden literaturgeschichtlich gemeinsam mit Walter Mehring als Literaten der Weimarer Republik unter der Klassifizierung Vertreter der Neuen Sachlichkeit2 sowie der Gebrauchsliteratur3 eingruppiert. Als Lyriker und Journalisten sowie Autoren u. a. der Weltbühne4, der einflussreichsten gesellschaftskritischen Zeitschrift der Weimarer Republik, werden Tucholsky und Kästner in den Literaturhandbüchern zusammen als politische Schriftsteller und politische Aufklärer sowie u. a. mit Mehring, Hollaender, Klabund und Ringelnatz als publikumswirksame Kabarettautoren beachtet. Literaturhistoriker räumen den sogenannten ‚Gebrauchsschriftstellern‘ der ‚kleinen literarischen und journalistischen Formen‘ weniger Aufmerksamkeit ein als den einschlägigen Romanciers und Dramatikern.

So stellen die Herausgeber einer Forschungsanthologie5 von 2002 fest:

Noch immer gilt Tucholsky zwar als einer der bedeutendsten Publizisten der deutschsprachigen Literatur, eine umfassende Würdigung seines literarischen Werks jedoch steht nach wie vor aus. […] Überhaupt ist die Mehrheit der vorliegenden Publikationen zu Tucholsky an politisch-historischen Fragen bzw. an der Erfassung seiner Schriften als journalistischer Tagesschriftstellerei und politischer Publizistik interessiert. […] Diese einseitige Wahrnehmung und Gewichtung von Autor und Werk mögen Ursache davon sein, dass Letzteres bis heute in seinem literarischen und ästhetischen Dimensionen nicht erschöpfend behandelt ist.6

Für die literaturwissenschaftliche Einordnung des Werkes von Erich Kästner gilt nichts anderes, wenn man von den Arbeiten im Rahmen der Kinder- und Jugendliteratur absieht. Wie Mayer betont, werden die Autoren ‚Ringelnatz, Mehring, Tucholsky und Kästner‘ speziell beachtet in ihrer zeitgemäßen ‚Vortragslyrik‘ und deren Wirksamkeit in der Kabarettszene, »welche die Formenwelt und das Repertoire der älteren Volksdichtung ebenso aufgriff wie die der Chansons und Couplets im Pariser Cabaret oder der Songs aus der amerikanischen Kulturindustrie.«7 Letzteres betrifft sicherlich besonders die ‚Songs‘ eines Bert Brecht der in dieser Weimarer Szene als eigenständig wahrgenommen wird.8

Es soll in unserer Betrachtung der vergleichende Blick auf die beiden Protagonisten Tucholsky und Kästner geschärft werden, um trotz festgestellter Gemeinsamkeiten die Unterschiede zwischen beiden Autoren zu kennzeichnen und ihre jeweilige Rolle auf der literarischen, kabarettistischen, journalistischen und gesellschaftskritischen Bühne zu kontrastieren.

Kästner globalisiert gerne seine satirischen Attacken, zielt auf das allgemeine moralische Bewusstsein. Er greift bevorzugt Gesinnungshaltungen an wie Gleichgültigkeit, Eitelkeit, „Dummheit“, den ‚Stumpfsinn‘ der kleinen Leute, egoistische Maßlosigkeit, Überheblichkeit und Gefühlskälte, das Klassenbewusstsein der vornehmen Leute, und brandmarkt die Vorliebe für Drill, soziale Verrohung von Vorgesetzten, Unterdrückungsrituale von Erwachsenen sowie Unterdrückungsstrategien pädagogischer Instanzen und militanter Gruppen.

Tucholsky greift dagegen schärfer die politischen Zeitumstände an, zielgenauer die kritisierten Zustände und Vorgänge, die faschistische Verrohung der Mitmacher, die Bewusstseinsschwäche, Unterwürfigkeit und Handlungslethargie der Mitmacher, die Zaungäste des machtsüchtigen Schauspiels von Unrecht, Willkür, Zensur, Hetze, Ausgrenzung, Schutzhaft, Folter und Fememorde, die bereits vor und nach der Machtergreifung stattfanden, propagiert wurden und zu befürchten waren. Zugleich gilt Tucholskys satirische Waffe nicht nur den Tätern befehlshöriger Aktionsgruppen, korrupter Verbänden und machtwillfährigen Institutionen, sondern auch deren sich passiv und gleichgültig verhaltenden Opfern aller Schichten und ideologischen Couleurs. Neben der vornehmlich nationalistischen Katastrophe reagierte der Europäer Tucholsky auch enttäuscht über die weitgehende Zurückhaltung des Auslands und zum Teil faschistischer Affinität gegenüber der nationalsozialistischen Propaganda.

Aufgrund der Bildungsherkunft und Sozialisation gestalteten sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Kurt Tucholsky10 und Erich Kästner11 unterschiedlich.

Für Tucholsky war das gutbürgerliche Elternhaus prägend (Vater Bankkaufmann, standesgemäß unterdrückender Familienverband, bürgerlich situierte Verhältnisse), Ihn prägten in Stichworten gelistet: Großstadtsozialisation, Studium und Promotion zum Dr. jur., berufliche Karriere (Jurist, Bankkaufmann), Journalist/​journalistischer Prozessbeobachter bei Gericht/​politische Engagements („Nie wieder Krieg“-Bewegung, versch. Annäherungen an Parteien und weltanschauliche Ausflüge), vielseitige Tätigkeit als Schriftsteller und Kabarettautor, fester Mitarbeiter der Weltbühne, zeitweise Herausgeber, politisch diffamierter und verfolgter, schließlich ausgebürgerter Vaterlandsverräter Tucholsky verteidigte und bewahrte seine ideologische Unabhängigkeit und persönliche Integrität. Er vermied soweit wie möglich Berufszwänge, feste Beziehungen, weltanschauliche (religiöse wie politische) Vereinnahmungen.

Als Tucholskys bester Freund galt der Herausgeber der Neuen Schaubühne und späteren Weltbühne, Siegfried Jacobsohn12, der Tucholskys Begabung entdeckte und zu fördern wusste sowie die Unabhängigkeit und persönliche Freiheit Tucholskys auch finanziell absicherte. Jacobsohn galt für Tucholskys als Gesinnungsvorbild und fungierte als redaktioneller Lehrmeister bezüglich des journalistischen und literarischen Handwerks.

Kästner wurde beeinflusst: vom kleinbürgerlichen Elternhaus (offizieller Vater: Sattler, Mutter Näherin), Kleinstadtsozialisation, abgebrochenes Lehrerstudium, Literaturstudium mit Promotion und Journalistenausbildung, zeitweise Finanznöte, Auftragsjournalist und freier Schriftsteller, Kinder- und Jugendbuchautor sowie Drehbuchautor und in der Nazizeit zwar zeitweise mit Schreibverbot belegter, aber stillschweigend geduldeter, unter Pseudonymen publizierender Autor.13

Beide Schriftsteller erreichten internationalen literarischen Erfolg und entsprechende Anerkennung. Diese Würdigung und Reputation wird bei beiden Autoren unterschiedlich gewichtet und diskutiert. Am Ende ihrer ‚Karriere‘ kämpften beide engagierten und verletzbaren Literaten aus unterschiedlichen Gründen mit Einsamkeit, Lebensmüdigkeit, Krankheit und zeitweiser Depression bzw. Resignation.

Während Kurt Tucholsky am Ende seines Schriftstellerlebens die bittere Bilanz zog:

Ich habe Erfolg, aber ich habe keinerlei Wirkung14, galt bei Erich Kästner der Erfolgszwang von Beginn an als Verpflichtung. Erich Kästner bekennt dies bereits 1926 in einem Brief an sein geliebtes ‚Muttchen‘, als er noch kaum bekannt war:

Wenn ich 30 bin, will ich, daß man meinen Namen kennt. Bis 35 will ich anerkannt sein. Bis 40 sogar ein bißchen berühmt. Obwohl das Berühmtsein gar nicht so wichtig ist. Aber es steht nun einmal auf dem Programm. Also muß es eben klappen.15

Erich Kästner mit Mutter

Das Programm war seine Mutter. In seinem autobiografischen Bekenntnis Als ich ein kleiner Junge war bekennt Erich Kästner:

Ida Kästner wollte die vollkommene Mutter Ihres Jungen werden. Und weil sie das werden wollte, nahm sie auf niemanden Rücksicht, auch auf sich selber nicht, und wurde die vollkommene Mutter. All ihre Liebe und Phantasie, ihren ganzen Fleiß, jede Minute und jeden Gedanken, ihre gesamte Existenz setzte sie, fanatisch wie ein besessener Spieler, auf eine einzige Karte, auf mich. Ihr Einsatz hieß: ihr Leben, mit Haut und Haar! Die Spielkarte war ich. Deshalb mußte ich gewinnen. Deshalb durfte ich sie nicht enttäuschen. Deshalb wurde ich der beste Schüler und der bravste Sohn. Ich hätte es nicht ertragen, wenn sie ihr großes Spiel verloren hätte. Da sie die vollkommene Mutter sein wollte und war, gab es für mich, die Spielkarte, keinen Zweifel: Ich mußte der vollkommene Sohn werden. Wurde ich’s? Jedenfalls versuchte ich es. Ich hatte ihre Talente geerbt: Tatkraft, ihren Ehrgeiz und ihre Intelligenz. Damit war schon etwas anzufangen. Und wenn ich, ihr Kapital und Spieleinsatz, wirklich einmal müde wurde, nur um immer wieder zu gewinnen, half mir, als letzte Reserve, eines weiter: Ich hatte die vollkommene Mutter ja lieb. Ich hatte sie sehr lieb.16

Erich Kästner bedauert in seinem autobiografischen Gedicht Kurzgefaßter Lebenslauf (1930)17:

Ich war ein patentierter Musterknabe./​Wie kam das bloß?/​Es tut mir jetzt noch leid.

Dieses ‚vollkommene‘ Muttersöhnchen zeigt noch 1957, also mit 58 Jahren, in seinem altklug erscheinenden Kindheitsrückblick Als ich ein kleiner Junge war nur scheinbar ironische Distanz. Seine vielen Selbsturteile belegen eine verinnerlichte auf sich selbst bezogene Wertschätzung, die von Ida Kästner, besessen von Mutterliebe, bestätigt wird. Beide zeigen gemeinsame Beziehungshörigkeit. Ob daraus Kästners versteckte Beziehungsunsicherheit resultiert, kann nur vermutet werden. Eine egozentrierte Angst des karrierefixierten Musterknaben, die Tucholsky bereits in seinen knappen Einlassungen zu Kästner in seinen beiden Rezensionen 1930 in der Weltbühne diagnostiziert, betrifft eine konstitutive psychische Disposition bei Kästner, die auch sein Verhalten in der Zeit der inneren Emigration während des Dritten Reiches plausibler macht. Erich Kästner rechtfertigt sein Verbleiben in Nazideutschland mit der gebotenen Fürsorge für seine Mutter. Sein angeblicher Vater spielt in dem Gedankenspiel bei Erich keine Rolle.

Auffällig ist, dass auch sein ganzes Werk und seine Briefe von Selbstbespiegelungen dominiert werden. Kästner zeigt eine ichbezogene Neigung, die Fremdurteile meidet. Sowohl die Selbstkommentare als auch die autobiographischen Anspielungen prägen diese Ich-Dominanz, die zugleich auffällig Verhaltensmuster anderer Kollegen selbstbewusst beurteilt.18

In dem bereits erwähnten, seinem unehelichen Sohn Thomas gewidmeten, Buch Als ich ein kleiner Junge war, schwelgt Kästner in pädagogischen Sentenzen, die für seinen Sohn hilfreich erzieherisch wirken sollten. Auch die zeitpolitischen Reflexe, die seine politische Weitsicht belegen sollen, wirken aufgesetzt und auffällig selbstrechtfertigend. Die pädagogischen Maximen, die die Jugendbücher vermitteln sollen, wirken keineswegs so »realistisch«, wie sie genregebend bezeichnet werden. Ebenso kann man die Milieugedichte Erich Kästners nicht als Aufklärungspoeme einer kritisch hinterfragten Realität lesen. Sie wirken vielmehr überzeugend als atmosphärisch dichte und authentisch bezeugte Beobachtungen bzw. nachvollziehbare Erinnerungen. Kästner gelingen auch frech karikierende Fensterblicke in die seelische Innen- und Außenwelt umzingelt von vertrauten Sehnsüchten und verzeihbaren Verfehlungen. Es gelingen ihm dann vereinzelt auch epigrammatische Impressionen als Reflexionen:

Erich Kästner

Das Haus Erinnerung19

Das Haus Erinnerung hat tausend Türen.

Und du hast doch den Weg umsonst gemacht.

Du weißt nicht mehr, wohin die Türen führen.

Und in den Korridoren lehnt die Nacht.

Was einmal war, das lebt hier fort für immer,

auch wenn du selbst es lang vergessen hast.

Das Haus Erinnerung hat tausend Stufen,

waagrechte Säulen der Vergangenheit.

Geh fort von hier. Man hat dich nicht gerufen.

Dien‘ du nur dem Herrn und Knecht der Zeit!

Homo Sapiens oder der Mensch denkt19

Das, was man meint,

trifft selten ein, –

Was Zufall scheint,

kann Schicksal sein!

Tucholsky hatte in seiner Rezension zu Kästners Gedichten20 eine als sächsisch bezeichnete »Enge« diagnostiziert. Sie hängt sicherlich mit Kästners Ängstlichkeit zusammen. »Mut« verlangt der schulmeisterlich auftretende Autor Kästner, Mut zum Gutsein, den er in seinen Gedichten und Kinderbüchern einfordert. Vergeblich sucht man jedoch bei dem selbsterklärten Moralisten, diesen Mut für eine souveräne Realitätsbewältigung nachvollziehbar entfaltet.

Für Stammbuch und Stammtisch19

Freunde, nur Mut!

Lächelt und sprecht:

»Die Menschen sind gut,

bloß die Leute sind schlecht.«

Die Bedingungen und Voraussetzungen für ein solches vorbildliches Verhalten werden nicht offengelegt, die Rolle eines Mut-Menschen bleibt Postulat, für deren Umsetzung, erst recht für Kinder, die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht gegeben sind.

Kästners Dichterkollege Peter Rühmkorf hat diesen Mangel treffend in seinem Essay über Kästner beschrieben:

Das berühmte Epigramm »Es gibt nichts gutes [sic!]/​außer: Man tut es«21 könnte womöglich als solch ein erwünschter Fingerzeig ins praktische Leben verstanden werden, und wem sich der Spruch einmal richtig ins Bewußtsein eingegraben hat, der wird ihn ein Leben lang nicht mehr los. Dennoch scheint mir der Anwendungswert vergleichsweise allgemein, der Lehrinhalt umrißlos, die Richtung beliebig, es sei denn, daß er uns ein für alle Mal verklickert, daß edle Selbstverpflichtungen und gute Vorsätze noch keinen sittlichen Sinn ergeben und nur praktische Hilfeleistung eine brauchbare Moral.22

Rühmkorf weist noch auf die eingängige Rezeption und das sich von selbst erläuternde Verstehen von Kästners Gedichten hin:

Was an den Gedichten herauszubringen oder hervorzuheben ist, hat der Dichter selbst schon genügend weit in den Vordergrund gerückt. Ein Geheimnisbereich, der nicht bereits im ersten Durchgang aufzulichten wäre, scheint nicht vorzuliegen. Und wer sich mit der Enttäuschung literarischer Wunderwerke selbst gelegentlich gern ein paar anregende Stunden bereitet, streckt vor dem offen zu Tage Liegenden schon bald sein analytisches Besteck. Trotzdem ist und bleibt es ein Wunder ganz eigener Art, daß Erich Kästners Verse so anhaltend haften und sitzen und daß sie auch nach langen Jahren der Trennung nichts von ihrem guten alten Freundschaftsgeist verloren haben. Das ist gewiß eine mnemotechnische Situation erster Ordnung, nur noch mit der Anhänglichkeit von Volks- und Kinderversen zu vergleichen, […] die sich in unsere Seelen eingenistet haben kraft eines beinah subversiven Infiltrationsvermögens.23

Damit ist von Rühmkorf eine besondere Rezeptionsmentalität angesprochen, die es so schwer macht, Kästners poetische Kunst kritisch zu relativieren, Kästner weh zu tun. Diese human gestimmte ‚Freundschaft‘ zu seinen Gedichten, die Rühmkorf konstatiert, verweist noch auf einen wenig wahrgenommenen Widerspruch:

Kästners Gedichte, so Rühmkorf, verweigern […] eine perspektivische Gleisführung in eine bessere Zukunft. Wem sie Trost, Mut, Selbstvertrauen, Widerspruchsgeist und Überlebenslust zusprechen möchten, sind diejenigen aus der Bahn geratenen Beunruhigten, die persönlich nicht mehr erfaßbar sind, […] und auch von linker Zukunftsprognostik außer acht gelassen werden, kurz, jene Dissidenten, die in jeder Hinsicht als sozialer Mißwuchs erscheinen.

Parteinahme für die Schlechtweggekommenen oder auch schräg im Gelände Stehenden ist in der modernen Lyrik nicht gerade neu – und die Herkunft Kästners zumal vom Berliner Frühexpressionismus […] ist bis ins Feingewebe hinein nachzuweisen – nur daß sich mit der Zeit (der Nachkriegszeit, der Inflation, der Arbeitslosigkeit, den neuen völkischen Konvulsionen) die bösen Vorahnungen zum schlimmen Tatbestand verfestigt haben und Kästners populistische Tonart diesem neuen breiten Allgemeinbefinden Rechnung trägt. […]24

Gewiß versucht der aufgeklärte Gesellschaftskritiker der Wirklichkeit so nah wie möglich auf den Pelz zu rücken – aber dringt er deshalb schon besonders tief in sie ein? Beziehungsweise kann uns ein vernunftbegabter Kopf natürlich die Entfremdungszeichen des Systems sehr eindrucksvoll plausibel machen und mit den Ursachen auch oft die Verursacher benennen – allein, bleibt er persönlich nicht reichlich verschont außen vor? Dagegen sehen wir jetzt den sentimentalisch engagierten Realisten auf eine beinah körperliche Weise in die Umstände verwickelt und statt zu entlarven […] läßt er uns mitempfinden […] [Kästner bietet] das Lehrmodell eines lyrischen Didaktikers an, das in jeder Hinsicht beunruhigend bleibt: Aufklärung bis an jenen kritischen Punkt betrieben, wo die Ratio mit ihrem Latein am Ende ist und […] der unheilbare Weltschmerz/​hoffnungslose Trübsinn einfach nicht bei sich bleiben kann, er muß sich notgedrungen-umstandsbedingt gegen sich selbst erheben. […]

Wollen wir jetzt bitte beachten, daß eine Schere ja gemeinhin nach zwei Seiten auszweigt, und diese beiden Richtungen heißen ohne Zweifel: Aufklärung und Selbstwahrnehmung, moralische Parteinahme und subjektive Anteilnahme, rationalistisches Besserungsbedürfnis und romantische Auflösungslust.25

Rühmkorf benennt einen grundsätzlichen dialektischen Widerspruch, den beide engagierten Zeitgenossen und gekrängten Idealisten, Tucholsky und Kästner, aushalten und gestalten müssen: den ‚aufrechten Gang‘ beizubehalten bei einem notwendigen und doch zur Resignation stimmenden Aufklärungskampf, dessen Konsequenzen und ein Scheitern vorauszusehen sind.

Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an.26

Dabei gilt es einen fast unvereinbaren fatalen Widerspruch auszuhalten, die Rolle des aufgeklärten Gesellschaftskritikers und des didaktischen Gesinnungsmoralisten mit realistischer Glaubwürdigkeit zu vereinbaren. Tucholsky hat diesen inneren Konflikt in der Zeit seiner zur Ohnmacht verdammten Ausbürgerung im Exil vor der Katastrophe erkannt, Kästner nach der Katastrophe als Schriftsteller im Ruhestand.27 Ein Epigramm aus dem Nachlass von Erich Kästner lautet:

Manchmal28

Bei meiner Ehre:

Vergeblich leben ist schwer!

Manchmal denkt man. Das Beste wäre,

man lebte nicht mehr …