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Nr. 2876

 

Der Zeitgast

 

Tief im Torus V – auf den Spuren eines kosmischen Verbrechens

 

Leo Lukas

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog: Der Ruf

1. Der Fischer

2. Die Wahl

3. Der Absturz

4. Ein Versprechen

5. Die Urkunde

6. Der Fund

7. Die Rettung

8. Das Implantat

9. Der Schamane

10. Der Einschnitt

11. Der Traktator

12. Der Pakt

13. Der Gyanli

Epilog: Die Antwort

Report

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Im Januar 1519 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) werden zwei Gefahren von der Milchstraße abgewendet: die Herrschaft des Atopischen Tribunals, das aus der Zukunft agiert, und der Kriegszug der Tiuphoren, die aus der Vergangenheit aufgetaucht sind. Beides kostet jedoch einen Preis:

Künftig wird die Lokale Gruppe und deren Umfeld für alle Superintelligenzen und Hohen Mächte unliebsames Territorium sein. Welche Bedeutung dies haben wird, wird sich in den kommenden Jahren und Jahrhunderten zeigen.

Zudem muss Perry Rhodan sterben und als Bewusstsein in ein tiuphorisches Sextadim-Banner eingehen. Auf diese Weise begleitet er den Abzug der Tiuphoren und die Reise in ihre Heimat: die vereiste Galaxis Orpleyd. Als er im Jahr 1522 NGZ dort ankommt, muss er feststellen, dass Orpleyd von einem Geheimnis umgeben wird, dem sich der Terraner nicht entziehen kann. Um es zu ergründen, wird Perry Rhodan DER ZEITGAST ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Terraner will mehr über seine Feinde erfahren.

Cuttra Yass – Der Orakel-Page ist in mehrfacher Hinsicht zwiegespalten.

Attilar Leccore – Der Koda Aratier will wissen, wer er ist.

Der Advokat – Das höchst eigenartige Wesen wird nicht grundlos »erratisch« genannt.

Xervan, Laccess und Astirra As-Karrok – Drei Generationen zeigen das Schicksal eines misshandelten Volkes.

»Große Umwälzungen nehmen ihren Anfang im Kleinen, oft unbemerkt sogar von jenen Einzelpersonen, die den Anstoß dazu geben. Getreu der Grundregel: Willst du die Welt verändern, beginne bei dir selbst.«

(Dieses Zitat wird, leicht variiert, zirka dreihundert verschiedenen Weisen aus fast ebenso vielen Völkern und Epochen zugeschrieben.)

 

 

Prolog

Der Ruf

 

Alles war in Aufruhr.

Cuttra Yass spürte es, wohin er kam, mit wem er sprach, und am eigenen Leib. Manchmal verkrampfte sich plötzlich seine Bauchmuskulatur vor Nervosität. Manchmal flatterten ihm buchstäblich die Kniegelenke.

Immer öfter musste er sich zwingen, ausreichend Nahrung zu sich zu nehmen. Immer seltener fand er Schlaf in den vorgesehenen Ruhephasen.

Selbst Pendar, sein Ysicc, wurde von der allgemeinen Unruhe angesteckt. Cuttra kannte das liebe, wertvolle Tierchen, seit es geschlüpft war. Es war eines der bravsten, gefügigsten, leisesten und unaufdringlichsten seiner Art.

Seit sie aber die Große Reise durch die Sextadim-Halbspurtrasse angetreten hatten, schien Pendar wie ausgewechselt. Und nun, da der Konvoi der Tiuphoren sein Ziel fast erreicht hatte und sie aus dem Halo der Galaxis auf ihre ehemalige Heimat blickten, ließ sich der Ysicc kaum noch in Zaum halten.

»Der Ruf ist ergangen!«, keckerte er schrill, wieder und wieder. »Der Ruf! Der Ruf zur Sammlung!«

»Ja doch«, versuchte Cuttra den kleinen, treuen Begleiter zu besänftigen. Obwohl er wusste, dass akustische Kommunikation wenig fruchtete.

Ysiccs waren halbintelligente Flugwesen. Die klügsten – und zu diesen zählte Pendar sicherlich – vermochten, Wörter zu artikulieren und einfache Sätze nachzuplappern.

Tatsächlich verstanden sie nicht oder maximal ansatzweise, was sie von sich gaben. Sie sprachen bloß Phrasen nach, die sie oft hörten, sodass sie sich ihnen durch die Wiederholung einprägten. Ihre eigentliche Begabung, und damit ihre Unersetzlichkeit, gründete auf einer anderen, nonverbalen Ebene.

Aber, fragte sich Cuttra Yass beklommen, bin ich nicht ähnlich unfähig, das Ausmaß der jüngsten Entwicklungen zu erfassen?

 

*

 

Der Ruf zur Sammlung war ergangen.

Alle hatten, wie unzählige Generationen zuvor, davon geträumt, dass dies in ihrer eng beschränkten Lebensspanne geschehen möge. Niemand hatte daran geglaubt; nicht ernsthaft.

Und doch hatte sie ein Impuls erreicht. Ein Vorschein. Ein Vor-Hall.

Viele an Bord von Cuttras Sterngewerk CIPPACOTNAL waren skeptisch geblieben. Intelligente Tiuphoren zweifelten nichts mehr an, als dass uralte, mythische Prophezeiungen in Erfüllung gingen.

Ausgerechnet in dieser Epoche, die gar nicht ihre war? Just zu meiner Zeit?

Cuttra Yass hatte sich spontan der Fraktion der rationalen Kritiker angeschlossen. Wie hoch konnte die Wahrscheinlichkeit sein, dass ...?

Und war die nüchterne Interpretation, dass es sich um ein Täuschungsmanöver handelte, nicht viel naheliegender?

Den aktuellen Bewohnern der Galaxis Phariske-Erigon, insbesondere denjenigen, die der weit verzweigen Volksgruppe der Lemurer entstammten, musste man absolut jede Gemeinheit zutrauen. Das hatten die Tiuphoren erst nach und nach gelernt und bitter bezahlt.

Mehr als die Hälfte ihrer Sterngewerke hatten sie eingebüßt. Beim gescheiterten Versuch, die an sich perfekt geplante Banner-Kampagne mit der Eroberung und Auslöschung des Solsystems zu krönen, das sie bereits früher einmal besucht hatten, als dort die Kerouten gelebt hatten.

Sie hätten sich nicht zurückgezogen wie geprügelte Ylvis, gewiss nicht. Sie hätten weiter gekämpft, bis zum letzten Schiff, bis zum letzten Soldaten, bis zur letzten Kriegsbrünne.

Dazu war es jedoch nicht gekommen.

Weil davor ...

Weil sich davor erwiesen hatte, zweifelsfrei, aufgrund einer neuen und gleicherweise uralten Autorität, dass der Ruf zur Sammlung echt war. Berechtigt. Das Wahre.

Die Wahrheit. Die endgültige Be-Wahrung von allem, was den Tiuphoren jemals etwas bedeutet hatte.

Kein Trugbild, keine Illusion. Keinerlei von irgendeinem Feind inszenierte Verwirrung.

Trotzdem war Cuttra Yass verwirrt. Seine Beine zitterten, wenn er die Größe dieses historischen Moments zu erahnen versuchte. Auch seine Arme, und sein Kehlkopf. Die Nasenschlitze füllten sich mit übermäßig viel Sekret, das er kaum auszublasen vermochte.

»Ja doch«, sagte er mit bröckliger Stimme zu seinem Ysicc und versetzte ihm einen tadelnden Stups gegen das ledrige Köpfchen. »Alles wird gut.«

»Lüge!«, zeterte das Tier.

Es streckte die Gliedmaßen aus, dass die Flughäute sich spannten, und schnitt eine Grimasse. Der ganze, dreieckige Schädel mit den schwarzen Kulleraugen und dem Mäulchen voller nadelspitzer Zähnchen verzog sich zu einer Karikatur des sonst so liebenswerten Gesichts.

Hart bohrte Pendar seine scharfen Krallen in Cuttras Unterarm und wiederholte: »Lüge! Lüge! Lüge!«

Cuttra Yass beschwichtigte sich selbst mit dem Gedanken, dass der Ysicc nicht wusste, was er daher krächzte.

Trotzdem ... er hatte recht. Alles war in Aufruhr und im Zweifel, sie standen vor Orpleyd.

Endlich.

 

*

 

Euphorie erfüllte das Sterngewerk, sämtliche Sterngewerke des Geschwaders. Hinzu kam jedoch eine andere, fast ebenso starke, gegensätzliche Emotion.

Etwas wie ... Abscheu.

Das war neu, geradezu unerhört. Tiuphoren fürchteten weder Feind noch Tod. Sie verachteten Schwächlinge: schlechte Kämpfer, faule Organisatoren, unfähige Wissenschaftler ... und jedwedes planetare Leben.

Aber sie ekelten sich vor nichts und niemandem. Normalerweise. Nicht jene Tiuphoren, die wie Cuttra Yass einen Zeitsprung über zwanzig Millionen Jahre in diese ferne, dennoch grundsätzlich nicht arg verschiedene Zukunft unternommen hatten.

Hier – jetzt – angekommen, hatten sie anfänglich Probleme gehabt, nicht zuletzt mit der erhöhten Hyperimpedanz. Sie wären jedoch keine Tiuphoren, hätten sie diese Anpassungsschwierigkeiten nicht relativ bald behoben.

Nun jedoch empfanden viele von ihnen eine beinahe animalische Scheu, gepaart mit Zorn und schwer zu beherrschender Wut. Diese Gefühle richteten sich nicht gegen die Terraner. Nein, deren Leistung nötigte ihnen Respekt ab, wie er ungefähr gleichwertigen Feinden gebührte.

Die Terraner hatten, unter Anwendung diverser Tricks und nach wie vor ungeklärter Winkelzüge ihr Heimatsystem verteidigt. Sie und ihre Verbündeten hatten einer scheinbar unbezwingbaren Übermacht erfolgreich getrotzt.

Der Name ihres Anführers, quasi des gegnerischen Tomcca-Caradocc, war bekannt, seit er sich freiwillig dem Kommandanten der SHEZZERKUD gestellt hatte. Er lautete, schwer auszusprechen für tiuphorische Zungen: Perry Rhodan.

Falls den Gerüchten zu trauen war, hatte dieser terranische Krieger sich sogar bereits einmal davor an Bord eines Sterngewerks befunden. Unerkannt, was die Fülle seiner Wirkmacht und seines taktischen und strategischen Potenzials betraf.

Weshalb ihm und einigen seiner Begleiter damals auch die Flucht gelungen war – aus einem tiuphorischen Sterngewerk!

 

*

 

Erstaunlich, ja bestürzend, aber ... Darum ging es momentan nicht.

Nicht primär.

Die Tiuphoren, eine großartig vehemente Zivilisation von militanten Freiraum-Fahrern, deren Angehörige sich vor Urzeiten der Bindung, ja Fesselung an Grund und Boden entledigt hatten, schickten sich an, zurückzukehren an ihren Ursprung. Ihre Sterngewerke verhielten, nachdem sie eine Strecke von 131 Millionen Lichtjahren überwunden hatten, an der Peripherie der Galaxis Orpleyd.

Was erwartete sie in der ehemaligen Heimat? Ein neues, gigantisches Schlachtfeld?

Damit hätte Cuttra sich anfreunden können. Banner-Kampagnen, ebenso kühl wie verwegen entworfen. Tötungs-Choreografien, genial perfid.

Tiuphoren nahmen traditionell keine Rücksicht auf »Unschuldige« oder »Opfer«. Wer zu schwach war, wurde hinweggefegt, und aus.

Würdigere Besiegte bekamen die Chance auf ein geistiges Weiterleben im Sextadim-Banner des jeweiligen Sterngewerks. Falls sie sich darin bewährten; falls sie die ersten Qualen aushielten, ohne aufzugeben und aus purer Feigheit zu verdämmern – dann gingen sie letztlich als vollwertige Komponenten in die Gesamtheit des Catiuphats ein, und darin auf.

In purem, ewigem Kampfesglück.

So hatte Cuttra Yass es gelernt, im Rahmen seiner Ausbildung. Wie er seit frühester Jugend eingesogen hatte, was es nur an Detailinformationen gab. An Bord des Sterngewerks CIPPACOTNAL und außerhalb davon.

Errungenes Wissen führte jedoch – auch das hatte er gelernt – nur zu immer mehr Fragen. Gerade deshalb war er, derzeit, so nahe am Verzweifeln ...

 

*

 

Ein Anruf ereilte ihn.

Nicht vergleichbar mit dem mythischen Ruf zur Sammlung. Sondern schlicht ein Befehl, sich in die Hauptsteuerzentrale zu begeben, ins Herz des Sterngewerks.

Dort fing ihn gleich am Eingang, ehe Cuttra sich orientieren, geschweige denn mit der Situation abfinden konnte, Paqar Taxmapu ab und sagte zu ihm: »Wie du wissen dürftest, ist Urccales Geist im Catiuphat verblieben. Er hatte sich wohl, angesichts der ungewohnten Gesamtlage, zu weit vorgewagt, trotz seiner Erfahrung. Oder er wollte es bewusst verstärken. Wie auch immer: Ich bin sein Nachfolger.«

Cuttra Yass hüstelte und röchelte möglichst lautlos, um seine Rachenhöhle vom Schleim der Befangenheit zu befreien. »Ich wurde davon in Kenntnis gesetzt«, erwiderte er. Seine Stimme hörte sich für ihn selbst kläglich flach und dünn an.

»Somit«, ging Paqar Taxmapu darüber hinweg, »ist der Posten des Orakel-Pagen frei geworden. Es gibt viele von ihrer Aufzucht her geeignete Kandidaten, aber nur drei kommen in die engere Auswahl. Zwei haben wir bereits geprüft. Du bist der Letzte. Was hast du zu deinen Gunsten vorzubringen?«

»Lüge!«, plärrte Pendar auf Cuttras Schulter, nicht ohne erneut schmerzhaft die Krallen in Cuttras Haut zu versenken. »Lauter Lüge!«

»Psst! – Mein Ysicc«, sagte Cuttra Yass hastig, »hat keine oder nur wenig Ahnung davon, was tatsächlich los ist. Aber er ist ein sehr guter Ysicc. Ich habe ihn aufgezogen, über viele Zeitstrecken hinweg. Mit ihm könnte ich das Catiuphat erforschen, vielleicht weiter und tiefer, als es unserer Generation bislang gelungen ist.«

Taxmapu wog seinen Kopf leicht hin und her, in einer merkwürdig fremd anmutenden Geste. Überhaupt war er Cuttra alles andere als geheuer.

 

*

 

An Bord des Sterngewerks CIPPACOTNAL wusste man, dass sich Paqar Taxmapu oft eigenwillig verhielt.

Er war seit Langem als besonders strebsam und karrierebewusst bekannt. Nicht nur, aber auch deshalb hatte Urccale ihn gefördert.

Fast niemand hatte sich in jüngster Zeit mehr gegenüber Maxal Xommot, ihrem Caradocc, herausnehmen dürfen. Öfter als einmal war Taxmapu mit unkonventionellen Wortmeldungen oder Verhaltensweisen aufgefallen. Xommot hatte ihm gleichwohl erlaubt, sich weit mehr in taktische und strategische Belange einzumischen, als es einem nicht Sekundärgeborenen gemeinhin zustand.

Warum?, fragte sich Cuttra Yass.

Die Antwort lag so nahe, dass er spontan die allzu simple Erklärung verwarf. Wie jeder Krieger, war der Caradocc ständig im Visier von Rivalen, die ihm seine Führungsposition streitig machen wollten.

Zwitter wie Cuttra oder Taxmapu zählten jedoch nicht dazu. Unfähig, Kriegsbrünnen anzulegen, hätten sie sich niemals dazu aufschwingen können, die Autorität eines Caradocc infrage zu stellen.

Oder doch?

Was war normal, seit der Ruf ergangen war?

Hatte Maxal Xommot den lästigen Taxmapu zum Schiffsorakel erkoren, um einen Konkurrenten loszuwerden? Um ihn in die rotgoldene Käfigstruktur zu verbannen, die inmitten der Zentrale hing, und ihn somit aus dem Weg zu räumen?

 

*

 

»Warum ich?«, ergänzte Cuttra Yass, immer noch nicht voll bei Stimme, und beantwortete seine Frage sogleich selbst: »Weil ich mich seit Langem mit dem Transfer von Geistkomponenten in das Catiuphat befasst habe, auch mit den technischen Fragen.«

»Theoretisch.«

»Die praktische Anwendung steht ausschließlich autorisierten Orakeln oder Orakel-Pagen zu.«

»Natürlich. – Ende der Befragung«, sagte Paqar Taxmapu kalt. »Geh wieder in deine Unterkunft. Wir, die Angehörigen der Führungsebene, werden uns beraten und dir, sowie deinen Mitbewerbern, zu gegebener Zeit offenbaren, auf wen von euch unsere Wahl gefallen ist.«

»Darf ich noch ...?«

»Nein«, fiel Taxmapu ihm ins Wort. »Du darfst gar nichts. Außer abzuwarten, was oder wen wir bestimmen.«

Cuttra vollführte eine respektvolle Geste und zog sich in seine Kabine zurück. Dort haderte er mit dem Schicksal, und mit seiner Unfähigkeit, in Konfrontationen wie der eben erlebten seine Vorzüge ausreichend herauszustellen.

Pendar schmiegte sich an ihn. »Lüge«, brabbelte der Ysicc müde. »Lüge, alles Lüge.«

Fast wäre Cuttra Yass geneigt gewesen, in das blöde Lamento einzustimmen. Er fühlte sich übertölpelt, nicht ausreichend gewürdigt; von den Eliten missachtet, nachgerade verhöhnt.

Zum Glück entsann er sich des Ratschlags, den seine liebste Lehrmeisterin ihm mehr als einmal erteilt hatte: »Such dir die richtigen Feinde!«

Das waren, in der Vergangenheit, die streitbaren Bewohner der Galaxis Phariske-Erigon gewesen. Das würden in naher Zukunft, sehr wahrscheinlich, die aktuellen Hegemonialmächte von Orpleyd sein.

Gegenwärtig flößte ihm jedoch niemand mehr Misstrauen und Angst ein als Paqar Taxmapu. Sein potenzieller Vorgänger und künftiger Vorgesetzter! Taxmapu, der sich die Position, die er nunmehr bekleidete, wenn nicht erschlichen, sondern möglicherweise gar widerrechtlich angeeignet hatte.

Er, erkannte Cuttra, ist mein wahrer, mein richtiger, persönlicher Feind.

So sehr Taxmapu sich als Mentor gebärdete: Etwas stimmte nicht mit dem Kerl.

Cuttra Yass würde ihm auf den Kiefer fühlen, koste es, was es wolle.

1.

Der Fischer

 

Aus der Sicherheit der dunklen, friedlichen Nische fiel er in grelles Nichts.

Perry Rhodan landete auf einem Steilhang und bretterte diesen hinab. Oder hinauf?

Richtungen sind sekundär, rief er sich ins Bewusstsein – in alles, was er war. Hauptsächlich sein Unterbewusstes gestaltete die Umgebung mittels Zugriff auf seine Erinnerungen.

Ein Auf- und Abhang also, aus Sand: die Flanke einer Düne. Wolken von goldgelb flimmernden Körnern spritzten empor und erschwerten ihm zusätzlich die Sicht. Klebrig legten sie sich ihm auf die Wangen. Immer wieder musste er blinzeln, um die Augen frei zu bekommen.

An die Füße hatte Rhodan Bretter geschnallt. Lange, schmale Latten.

Wie hatte man derlei genannt, damals, vor Jahrtausenden, ehe die allgemeinen Anwendungen der Antigravtechnologie solch primitive Fortbewegungsmittel obsolet gemacht hatten? Richtig: Ski.

Fast hätte Perry Rhodan laut aufgelacht. Was in ihm erinnerte sich just daran?

Er horchte dem Klang des Vokabels nach. Ski. Vermutlich altasiatischen Ursprungs ...

Lenk dich nicht selber ab, verzettle dich nicht!, ermahnte er sich. Erst mal konzentrier dich darauf, nicht zu stürzen!

Es bereitete ihm Mühe, aber auch überraschend viel Spaß, die Latten parallel zu halten und von Zeit zu Zeit schneepflugartig auszustemmen, um Kurven zu fahren und auf diese Weise seine Geschwindigkeit zu kontrollieren. Bald hatte er gelernt, rhythmisch hin- und herzuschwingen und gelegentliche Wellen im trügerischen, rieselnden Untergrund abzufedern.

Rhodans Finger krampften sich um die mit Schlaufen ums Handgelenk gesicherten Griffe dünner Stöcke. Teller an den Spitzen verhinderten, dass diese allzu tief einsanken.

»In die Knie!«, hörte er eine Stimme aus weit zurückliegender Vergangenheit. »Kruzifixalleluja, das ist ja nicht zum Anschauen! Runter mit dem Hintern, und verlagre dein bissel Schwerpunkt auf den Bergski, Bua!«

Das Echo einer wahren Begebenheit, vermutlich. Ein Teil von Rhodans Familie stammte aus dem altterranischen Oberbayern.

Irgendwann hatte er, zusammen mit seinem Vater, diesen merkwürdigen Landstrich besucht. Da war ein Ort gewesen, dessen Einwohner viel auf Tradition hielten, ein Kurort, eigentlich eine Art Doppel-Dorf ...

Und ein gnadenloser Skilehrer. Der hatte Giorgio Mason oder so ähnlich geheißen und den halbwüchsigen Perry im Rahmen eines kurzen Lehrgangs bis aufs Blut gequält. Mit immer denselben, in kaum verständlichem Dialekt gebellten Anweisungen ... Sie halfen Perry nun, nach all der Zeit, die Widernisse dieser Schein-Realität zu bewältigen.

Während er Pflugbögen fuhr, Stemmbögen, ja ab und an recht elegante Parallelschwünge ausführte, wunderte er sich, warum diese Details unvermittelt in seinem Gedächtnis auftauchten. So viel hatte er vergessen, was zweifelsohne bewahrenswerter gewesen wäre.

Lieber hätte er sich den Geruch von Thora da Zoltrals zarter, dünner Haut zurückgewünscht. Oder die explosive Intensität des Zusammenseins mit Gesil. Die Hassliebe, die er für Ascari da Vivo empfunden hatte.

Orana Sestores Feurigkeit. Mory Abros unerschütterliche Willensstärke. Nicht zuletzt die optisch ansprechenden, jedoch furchtbar kratzigen Pullover, die ihm Mondra Diamond gestrickt hatte ...

Rhodan merkte, dass er sich in Reminiszenzen zu verlieren drohte. Weiter tänzerisch schwingend, nachgerade wedelnd, sah er nach oben. Über ihm – oder unten oder seitlich oder sonst wo – wölbte sich der mittlerweile fast vertraute, rotgolden-kristalline Himmel.

Alles nur Schein, hämmerte er sich ein. Subjektive Interpretationen eines letztlich unfassbaren Kontinuums, einer sextadimensionalen Seinsweise, die unsereins niemals vollständig erfassen kann.

Er aber wollte, allen Gefahren zum Trotz, weiter vordringen. Perry Rhodan gierte nach Erkenntnis, nach Wissensgewinn über diese Sphäre, in der er gefangen war, und zugleich freier denn je.

Was ist das Catiuphat? Was eigentlich, ursprünglich? Und zu welchem Endzweck wurde es geschaffen?

Ein gewaltiger Hieb traf ihn, riss ihn von den Beinen, schleuderte ihn in eine blitzartig entstandene Senke voller Sandkörner. Sie umschlossen ihn und verbissen sich, tausendfach, millionenfach, wie winzige, skalpellscharfe Zähne in seine virtuelle Körperoberfläche. Mentale Piranhas. Psionische Brandbomben.

Rhodan schrie auf. Das tat weh!

»Hab ich dich!«, sagte jemand triumphierend.

 

*

 

Die Stimme, die Perry Rhodans akustische Wahrnehmung erfüllte, ja überschwemmte, war tief; so unendlich tiefbassig, dass sie jede einzelne seiner fiktiven Körperzellen berührte und in Schwingungen versetzte.

»Du bist«, sagte die Stimme in einem sonor-mechanischen, autoritären Tonfall, »ein Störfaktor.«

»Nein, da irrst du dich«, entgegnete Rhodan. »Die Zeitumstände haben sich geändert. Ich bin ein Teil der Veränderung, die das gesamte Catiuphat erfasst hat.«

»Unrein!«

»Anders.«

»Schlammig, dreckig. Verseucht, verdorben.«

»Trotzdem eine Ergänzung, eine Psychospende, auf die ihr nicht verzichten könnt. Spätestens, seit die Tiuphoren den Ruf vernommen haben und ihm folgen.«

»Du gehörst nicht zu ihnen.«

»Das trifft auf viele andere Geistkomponenten in diesem Bereich zu.« Rhodan versuchte, auf die Beine zu kommen und sich aus dem Sandloch zu wühlen.

Es war sehr anstrengend. Mehrmals rutschte er zurück. Erst, nachdem er die Stöcke beiseitegeworfen und sich auch der Bretter entledigt hatte, gelang es ihm, die Senke zu verlassen.

Vor ihm erhob sich ein riesiges, wurmartiges Wesen aus der Düne. Pulsierende Wülste bildeten den Leib, den stachliger Pelz umhüllte. »Ich bin der Fischer«, dröhnte die Stimme. »Ich allein entscheide, wonach ich mein Netz auswerfe.«

»Das will ich dir nicht absprechen. Aber warum fängst du gerade mich? Ich hege keine bösen Absichten.«

Dutzende Tentakel wuchsen rasend schnell aus dem Wurmkörper. Sie verflochten sich rings um Rhodan zu einem kuppelförmigen Käfig, der ihm kaum Bewegungsfreiheit gestattete.

»Du stinkst«, sagte die Stimme, die von überall zugleich kam. »Ich darf nicht zulassen, dass du die inneren Segmente vergiftest.«