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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Capitán Juan Sánchez Sarmiento durchmaß den Raum mit unruhigen Schritten. Seine Bewegungen hatten die Gereiztheit einer Raubkatze im Käfig.

Das prasselnde Kaminfeuer vermochte seine Nerven nicht zu beruhigen. Trotz der Wirren der zurückliegenden Geschehnisse hatte jemand Gelegenheit gefunden, die Holzscheite anzuzünden. Für den hochgewachsenen Spanier eine pure Ironie. Zu dem Zeitpunkt, als das Kaminholz von seinen Ordonnanzen bereitgelegt worden war, hatte die Zitadelle von Ferro noch ihren Erbauern gehört, den Repräsentanten der ruhmreichen spanischen Nation.

Jetzt, von einem Tag auf den anderen, symbolisierte das verdammte Kaminfeuer, wie sehr sich die Verhältnisse auf Ferro geändert hatten. Da waren Bastarde, die sich erdreisteten, jenes wärmende Feuer zu entfachen, das eigentlich dem Kommandanten und seinem Offiziersstab vorbehalten war.

Jawohl, Bastarde waren es, die sich hier ins warme Nest gesetzt hatten. Pöbel ohne einen Funken von Anstand und Gottesfurcht.

Es war kühl an diesem Septembermorgen des Jahres 1591.

Ferro, die westlichste und zugleich kleinste der Kanarischen Inseln, war mit dichtem Nebel umhüllt. Noch gab es kein Anzeichen dafür, daß sich die milchigen Schwaden auflösen und die grünen Hügel der Insel entblößen würden.

Capitán Sarmiento blieb zum wiederholten Male vor einem der Fenster stehen, ballte die Hände zu Fäusten und wippte auf den Zehenspitzen. Der Nebel ersparte ihm den Blick auf den Hafen. Nur die „Sevillana“ lag dort noch an der Mole, überladen mit seinen am Leben gebliebenen Männern, deren Stolz von einer wilden Meute irischer Höllenhunde gebrochen worden war. Eben jene Meute hatte die beiden anderen Galeonen noch im Hafen versenkt, ehe sie auch nur Segel setzen konnten.

In ihrer blindwütigen Entschlossenheit, mit der sie die Festung im Handstreich genommen hatten, waren diese Kerle wahrhaftig einem Rudel todesverachtender Wölfe gleich gewesen. Im hintersten Winkel seiner Gedanken mußte Sarmiento allerdings gestehen, daß Trägheit und übersteigerte Selbstsicherheit entscheidend zu dem Debakel beigetragen hatten. Vergeblich versuchte er, diesen Gedanken zu unterdrücken.

Stimmen wurden laut. Rauhe Stimmen, begleitet von hallenden Stiefeltritten.

Capitán Juan Sánchez Sarmiento drehte sich um, legte die Hände auf den Rücken und sah zur Tür, die von außen verriegelt worden war. Außerdem hatten sie einen Wachtposten aufgestellt. Auch das war eine Demütigung. Die irischen Bastarde hielten den stellvertretenden Kommandanten der Zitadelle für so unbedeutend, daß sie ihm nur einen einzigen Posten zugedachten. Und als gefährlich schätzten sie ihn offenbar auch nicht ein, denn sie hatten ihn nicht einmal in Ketten gelegt, geschweige denn gefesselt.

Was sie draußen vor der Tür herumgrölten, verstand er nicht. Ihre keltische Sprache war so rauh und unkontrollierbar wie sie selbst.

Der Riegel bewegte sich klirrend. Dann flog die Tür unter einem Fußtritt auf und krachte gegen die Innenwand aus Quadersteinen. Capitán Sarmiento bemühte sich, Haltung zu bewahren. Hochaufgerichtet blickte er der lärmenden Horde entgegen. Dank seines mittelblonden Haars und seiner beträchtlichen Körpergröße sah Sarmiento nicht aus wie ein typischer Spanier. Auf sein respekteinflößendes Äußeres war er stets stolz gewesen, unterschied es ihn doch von seinen meist kleinwüchsigen und schwarzhaarigen Landsleuten.

Nun, Respekt war bei diesem wilden Haufen wohl das, was man am allerwenigsten erwarten konnte.

Gestikulierend und durcheinanderredend quollen sie herein. Der eine überschrie den anderen. Sarmiento war versucht, ein überhebliches Lächeln aufzusetzen. Disziplin schienen sie ebensowenig zu kennen wie all die anderen guten Eigenschaften eines rechtschaffenen Christenmenschen.

Capitán Juan Sánchez Sarmiento fühlte sich in diesem Augenblick wie ein Fels, der die abendländische Kultur zu vertreten und einer Brandung zivilisationsferner Wildheit zu trotzen hatte.

Sie verteilten sich im Raum.

Sarmiento erschrak. Erst jetzt sah er, daß sie den Coronel mitbrachten. Zwei rothaarige Kerle mit breitflächigen Gesichtern, die von der Trunksucht gezeichnet waren, stießen den armen Mann herein und hielten ihn auf ein Zeichen ihres Anführers fest.

Coronel Luis Adriano Barroso Rubio sah wie ein Schatten seiner selbst aus, das Gesicht bleich und eingefallen, die Augen stumpf und glanzlos. Sarmiento erschauerte. Welchen Wechsel diese eine Nacht für den Kommandanten von Ferro mit sich gebracht hatte! Er versuchte, dem Obristen mit seinem Blick Mut zuzusprechen, ihm zu signalisieren, es sei noch längst nicht alles verloren. Doch Sarmiento beschlich das Gefühl, daß Rubio ihn kaum wahrnahm.

Der Anführer der Iren brüllte einen barschen Befehl. Sofort verstummte die Meute.

Nur auf Lautstärke schienen sie zu reagieren. Aber immerhin, sie gehorchten. Sarmiento stellte es mit heimlichen Erstaunen fest.

Brendan O’Connell, so hieß der Anführer, stieß die blonde Frau von sich, die sich eben noch an seinen Oberarm geschmiegt hatte. Ihr Name war Philomena O’Donovan. Mit einem Funkeln in den Augen zog sie sich zurück zum Kamin, wo sie mit trotzigem Gesichtsausdruck vorgab, die Wärme mehr zu genießen als die Nähe ihres Gefährten.

Capitán Sarmiento kannte auch die Namen der übrigen Iren, die in der Meute Führungspositionen innehatten. Mit prahlerischem Stolz hatten sie sich nach der Besetzung der Zitadelle vorgestellt. Für einen weltgewandten Spanier waren irische Namen durchaus einprägsam. Bei seinen bisherigen drei Reisen in die Neue Welt hatte Sarmiento jedesmal an der irischen Westküste Station gemacht. Zu den dortigen Handelshäusern der Iren pflegte Spanien gute Beziehungen.

O’Connell, der Kopf der wilden Meute, hatte einen engen Vertrauten namens James Ryan. Ryan war offenbar Schatzmeister und persönlicher Berater in einer Person. Dann gab es noch die beiden Unterführer Mick Laragh und Liam O’Driscoll. Außer den beiden Kerlen, die den Coronel gepackt hielten, standen noch vier weitere in der Nähe der Tür. Sie gehörten zum Fußvolk, wie Sarmiento feststellte.

„Guten Morgen, Don Juan“, sagte Brendan O’Connell mit spöttischem Grinsen. „Richtig so? Du hast doch nichts dagegen, wenn ich dich so nenne – oder?

Die anderen stimmten ein glucksendes Gelächter an, verstummten aber sofort, als ihr Anführer herrisch abwinkte.

Juan Sánchez Sarmiento zog die linke Augenbraue hoch und maß den Iren mit einem unerschrockenen Blick.

„Ich könnte wohl nichts dagegen tun – Paddy.“

Es war, als hätte ein Donnerschlag die Männer getroffen. Sie starrten den Spanier an, entgeistert und ungläubig. Nur der Coronel, blaß und geistesabwesend, schien von allem nichts zu begreifen.

Sarmiento empfand noch immer jene herausfordernde Art von Stolz. Wenn es auch Galgenhumor sein mochte, so kümmerte es ihn nicht. Stolz deshalb, weil er diesen Namen kannte, bei dem die Iren so empfindlich reagierten. Stolz auch, weil sein Englisch besser war als ihr von keltischen Brocken durchsetztes Kauderwelsch.

O’Connell trat einen Schritt auf den Capitán zu. Der Anführer der irischen Freibeuter war untersetzt und breitschultrig, hatte rotblondes Haar und einen ebensolchen Vollbart. Er reckte den Kopf vor und blinzelte.

„Wie war das eben, Don Juan?“

„Sie haben es sehr wohl verstanden, Mister O’Connell. Ich sehe keinen Grund, mich zu wiederholen.“

O’Connell furchte die Stirn. Plötzlich wandte er den Kopf zur Seite.

„Habt ihr das gehört?“

„Was?“ knurrte Mick Laragh, ein knochiger und hochgewachsener Mann. Sein bartloses Gesicht war mit Sommersprossen übersät, sein braunes Haar hatte einen rostroten Schimmer.

„Was er gesagt hat, du Affe!“ O’Connell brüllte es.

Laragh schwieg beleidigt.

James Ryan räusperte sich. Er trug einen dunklen Spitzbart, war klein, drahtig und dunkelhaarig und hatte einen füchsischen Gesichtsausdruck.

„Wenn ich richtig verstanden habe, Brendan, dann sieht er keinen Grund, dich noch einmal ‚Paddy‘ zu nennen.“

„Mhm. So war es wohl“, brummte O’Connell und wandte sich wieder dem Capitán zu. „Einmal ist schon zuviel, Don Juan. Ich sehe also keinen Grund, dir dafür nicht eine runterzuhauen.“

Ohne erkennbaren Ansatz schlug O’Connell blitzschnell zu. Seine flache Hand klatschte in das Gesicht des Spaniers. Unter der Wucht des Schlages stürzte Sarmiento zu Boden, doch kein Schmerzenslaut drang über seine Lippen. Als er sich auf die Seite rollte und aufrichten wollte, traf ihn ein Fußtritt von Liam O’Driscoll, einem schwarzhaarigen Riesen mit wildwucherndem Vollbart.

Capitán Sarmiento schlug der Länge nach hin, und die Meute johlte vor Vergnügen. Dennoch gab der Spanier keinen Laut von sich, mit dem er seine Niederlage noch betont hätte.

Die blonde Frau stieß sich vom Kamin ab und lief mit wehenden Rökken herbei. Sie war üppig gebaut, und ihre Oberarme konnten an Umfang mit denen eines Mannes leicht mithalten. Tief beugte sie sich über den am Boden Liegenden. Ihr mächtiger Busen war nahe vor seinem Gesicht und schien den Ausschnitt des Leinenhemds sprengen zu wollen. Sie tätschelte seine Wangen, daß es klatschte, und sie kicherte dabei.

„Da gehen dir die Augen über, was, mein Junge? Wenn du jetzt könntest, wie du wolltest, was? Aber das wünsche dir nur nicht, denn du wärst nicht der erste, den Philomena O’Donovan auf dem Zahnfleisch kriechen läßt!“

Die Männer brüllten vor Vergnügen. Brendan O’Connell hielt sich prustend den Bauch.

Die Rechte der Frau zuckte plötzlich vor, klemmte Sarmientos Nase zwischen Zeigefinger und Mittelfinger ein und drehte. Der Spanier schrie auf.

Philomena O’Donovan richtete sich grinsend auf.

„Seht ihr, ihr Lappen? Da muß erst eine schwache, kleine Frau zupakken, um so einen lausigen spanischen Olivenfresser zum Quieken zu bringen!“

Wieder johlten die Männer los. O’Connell schlug seiner Gefährtin begeistert auf das Hinterteil und trieb sie von dem Capitán weg.

Zornrot im Gesicht richtete sich Sarmiento auf. Er rieb sich die Nase, die ein noch dunkleres Rot als seine Gesichtshaut angenommen hatte.

Breitbeinig baute sich Brendan O’Connell vor ihm auf.

„In Ordnung, Don Juan. Können wir jetzt ein paar vernünftige Töne von Mann zu Mann ausspucken?“

Sarmiento ließ die Hand sinken und atmete tief durch.

„Sie treffen hier die Entscheidungen, Mister O’Connell. Ich habe keine andere Wahl, als das zu akzeptieren.“

„Das hast du schön gesagt, Don Juan. Wirklich, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen.“ O’Connell trat einen Schritt zur Seite und deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf den Coronel, der mehr in den Fäusten seiner beiden Bewacher hing, als daß er auf eigenen Füßen stand. „Sieh dir deinen armen alten Kommandanten an, Don Juan. Ist er nicht zu bedauern? Läufst du nicht über vor Mitleid, wenn du siehst, wie verdammt ihm die ganze Sache an die Nieren geht?“

„Es ist sehr leicht, sich an einem wehrlosen Mann zu vergreifen“, sagte Sarmiento ruhig.

„Oh, komm mir nicht so!“ brüllte O’Connell. „Wir haben den Mann nicht mal mit dem kleinen Finger angefaßt. Ihr spanischen Scheißer müßt endlich mal lernen, von eurem hohen Roß runterzusteigen.“ Seine Stimme senkte sich unvermittelt zum Flüsterton. „Und ich warne dich, Amigo! Wenn du noch mal das Wort ‚Paddy‘ in den Mund nimmst, breche ich dir jeden Knochen einzeln im Leib!“

Sarmiento preßte die Lippen aufeinander. Immer mehr gelangte er zu der Meinung, daß diese Kerle nicht ganz richtig im Kopf waren. So, wie sie sich aufführten, waren sie nichts anderes als ein gottloser Haufen.

Mit welchem Recht traten sie für die Ehre ihres Schutzheiligen St. Patrick ein? Ganz sicher hieß jeder zweite oder dritte von ihnen Patrick, also Paddy, wie überall in Irland. Sie setzten sich über alle Maßstäbe hinweg, die für einen anständigen Christenmenschen galten.

Deutete man das aber an, dann führten sie sich auf, als müßten sie ihre Kirche mit dem eigenen Blut verteidigen. Und das, obwohl eben jene Kirche bestimmt nichts mehr von ihnen wissen wollte.

Ja, sie waren nicht ganz richtig, da oben unter der rotbehaarten Schädeldecke. Sarmiento verbiß sich in die Überzeugung, daß er es schlicht und einfach mit Verrückten zu tun hatte.

„Zur Sache jetzt“, fuhr O’Connell fort. „Daß ihr von eurer hübschen kleinen Insel verschwinden müßt, ist wohl klar. Wir wollen das aber nicht so sang- und klanglos erledigen. Deshalb habe ich dir noch einmal deinen Kommandanten mitgebracht, Don Juan. Sieh ihn dir gut an. Vielleicht ist es das letzte Mal, daß du ihn so – na, sagen wir, so heil und in einem Stück siehst.“

Abermals stimmten die Iren johlendes Gelächter an, und wieder mußte O’Connell sie zum Verstummen bringen.

„Natürlich ist der Coronel noch Herr seiner Sinne. Damit du siehst, daß wir ihn nicht mißhandelt haben, soll er selbst erklären, wie ich mir die Sache vorstelle.“ Er gab den Bewachern des Obristen einen auffordernden Wink. „Los, laßt ihn reden!“

Capitán Sarmiento begriff den Sinn noch nicht. Stirnrunzelnd sah er zu, wie einer der beiden Bewacher dem Coronel einen Ruck gab.

„He, Señor! Don! Wir wollen eine kleine Ansprache von dir hören! Sag deinem Capitán, was unser Freund Brendan mit dir vorhat!“

Coronel Luis Adriano Barroso Rubio erwachte aus seiner Geistesabwesenheit. Der Kommandant der Zitadelle war von schlanker Statur und mittelgroß. Seine elegante Kleidung trug die Spuren der vergangenen Nacht, die er im Kerker zugebracht hatte. Sarmiento wußte, daß sein Vorgesetzter annähernd sechzig Jahre alt war. Rubios Haar war silbergrau, nur der schmale Oberlippenbart hatte noch die ursprüngliche dunkle Farbe.

Coronel Rubio räusperte sich. Seine Stimme klang brüchig wie Herbstlaub.

„Diese Männer“, begann er auf Spanisch, „haben einen Plan gefaßt, durch den sie …“

„He, he!“ brüllte O’Connell. „Wenn hier geredet wird, dann Englisch! Das gefällt uns zwar auch nicht viel besser als euer Spanisch, aber wir verlangen ja nicht, daß ihr unsere Sprache sprecht. Also noch mal von vorn, alter Mann!“

Im blassen Gesicht des Coronels zuckte kein Muskel.

„Diese Männer haben einen Plan“, wiederholte er. Sein Englisch war akzentbeladen, doch sonst korrekt. „Sie wollen damit ihre Herrschaft über die Zitadelle von Ferro sichern. Ich soll als Faustpfand dafür hierbleiben, daß keine spanische Galeone es wagen wird, die Festung anzugreifen. Das ist alles, Capitán.“

Sarmiento sperrte den Mund auf. Er brachte kein Wort hervor. Dieses Vorhaben der Iren war ungeheuerlich.

Coronel Rubio brachte ein müdes Lächeln zustande.

„Lassen Sie nur, Sarmiento. Sie brauchen sich nicht aufzuregen. Ich habe mein Leben gelebt. Dieses Schicksal ist für mich weniger schwer als für einen jungen Mann.“