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LITERATUR
KOMPAKT

Herausgegeben von Gunter E. Grimm

Tectum

Georg-Michael Schulz

CHRISTA
WOLF

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Prof. Dr. Georg-Michael Schulz, Prof. i. R. für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Kassel. Promotion Universität Tübingen 1975. Habilitation RWTH Aachen 1986. Wissenschaftliche Schwerpunkte: Drama und Theater des 18. Jahrhunderts; Lyrik und Epik des 20. Jahrhunderts; deutsch-jüdische Literatur im 20. Jahrhundert.

Georg-Michael Schulz

Christa Wolf

Literatur Kompakt – Bd. 11

ISBN 978-3-8288-6530-3

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter

der ISBN 978-3-8288-3758-4 im Tectum Verlag erschienen.)

© Tectum Verlag Marburg, 2016

Reihenkonzept und Herausgeberschaft: Gunter E. Grimm

Projektleitung Verlag: Ina Beneke

Layout: Sabine Manke

Verlag und Autor bedanken sich bei Gerhard Wolf für die Durchsicht des Manuskripts.

Bildnachweis Cover: Christa Wolf, 1989, Bundesarchiv,
Bild 183-1989-1027-300 / Rehfeld, Katja / CC BY-SA 3.0

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben

sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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Inhalt

I. »Vom Faschismus in den Sozialismus« und darüber hinaus

II. Zeittafel

Grafik: Wichtige Punkte

III. Leben und Werk

Grafik: Wolf kompakt

IV. Voraussetzungen, Themen, Werkaspekte

1. Literaturdoktrin – eigenes poetologisches Konzept

2. Selbsterforschung – Bezugspersonen

3. Frauenforschung – Friedensforschung

4. Gattungen – Form – Sprache

5. Literatur als Ersatzöffentlichkeit

V. Frühe Texte – Auseinandersetzung mit der Vergangenheit

1. Moskauer Novelle

2. Der geteilte Himmel. Erzählung

3. Juninachmittag

4. Kindheitsmuster

VI. Die Gegenwart – das Leben in der DDR

1. Nachdenken über Christa T.

2. Kein Ort. Nirgends

3. Störfall. Nachrichten eines Tages

4. Sommerstück

5. Was bleibt. Erzählung

VII. Gender-Thematik

1. Selbstversuch

2. Kassandra. Erzählung

3. Medea. Stimmen. Roman

VIII. Autobiografische Texte

1. Leibhaftig. Erzählung

2. Stadt der Engel. Roman

3. Ein Tag im Jahr und Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert

IX. Wirkung

X. Kommentierte Bibliografie

Glossar

Abbildungsverzeichnis

I.»Vom Faschismus in den Sozialismus« und darüber hinaus

»Ich hatte keine Lust auf Befreiung« (W3, 128). In Christa Wolfs autobiografischem Text Blickwechsel (1970) sagt das die Ich-Erzählerin in Erinnerung an die Sechzehnjährige, die sie im Jahr 1945 war. Gemeint ist die »Befreiung vom Faschismus«. Wolf selbst, geboren 1929, aufgewachsen in der Zeit des Nationalsozialismus und 1945 noch gänzlich in dessen Ideologie befangen, erlebt nach dem Zweiten Weltkrieg die Enthüllung der Wahrheit über die grauenhafte Vergangenheit als einen »Schock« (W12, 444). Umso mehr erfährt sie dann die Begegnung mit den Schriften des Marxismus durchaus als eine Befreiung. In der DDR als einem sozialistischen Staat ersehnt sie sich humane und gerechte Verhältnisse, die in einem radikalen Gegensatz zu denen der Vergangenheit stehen würden. Dabei erscheint es ihr als etwas Außerordentliches, in nur »einem Leben vom Faschismus in den Sozialismus hinüberzuwechseln« (W3, 44), wie sie in ihrer Moskauer Novelle (1961), ihrem ersten literarischen Text, betont.

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Politisierung

Denken und Empfinden Christa Wolfs werden fortan von einer ›Politisierung‹ bestimmt, die weit über den Bereich der Politik im engeren Sinne hinausreicht. Man müsse wissen, schreibt sie gegen Ende des 20. Jahrhunderts und meint damit die Perspektive der Angehörigen ihrer Generation in der noch jungen DDR, »in welchem Maß wir uns als ›politische Menschen‹ sahen und wie weitgehend alle anderen Lebensgebiete und Lebensäußerungen von diesem Selbstverständnis berührt waren« (Hierzulande. Andernorts, 80). Wolfs Texte bezeugen in der Tat durchweg die ständige Auseinandersetzung der Autorin mit politischen Fragen und gesellschaftlichen Problemen. Dementsprechend erhebt sie auch nach dem Ende der DDR immer wieder ihre Stimme. So spricht sie etwa im Sinne der Friedensbewegung oder wendet sich gegen Missstände, die sie in der durch das bloße Gewinnstreben motivierten Forcierung industrieller Fortschritte erkennt, bei der keine Rücksicht auf die von ihnen verursachten Schäden genommen wird. Dabei hat sie nicht nur den Kapitalismus im Auge. Schon früher, 1980, stellt sie die Frage, wie gerade auch der Marxismus so, wie er sich aktuell »präsentiert«, zu einer »rein pragmatischen Ökonomie-Lehre […] herunterkommen konnte« (Tag I, 283). Und bereits 1966 findet sich in ihrem Tagebuch die Kritik am »ökonomistischen Denken«, das sie als Folge des Ende der fünfziger Jahre von Chruschtschow für die Sowjetunion vorgegebenen Ziels sieht, bis 1970 die USA wirtschaftlich zu überholen (Tag I, 91).

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Reichparteitag der NSdAP in Nürnberg, 1936

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Rede Lenins auf dem Roten Platz am 1. Mai 1919

Diese kritischen Einstellungen gehen ebenso in Wolfs Texte ein wie die weitverzweigte Frauenforschung, die sie sich schon seit den siebziger Jahren erschließt. Deutlich wird dies unter anderem in ihrem Interesse an der Rolle von Frauen in der Zeit der Romantik, besonders aber in ihrer Frage nach den patriarchalischen und matriarchalischen Verhältnissen in der Geschichte der Antike und in den antiken Mythen. Hierin gehen politisches Denken und feministische Orientierung eine enge Verbindung ein.

Themen

Wolfs Texte fanden von Anfang an in der Leserschaft in der DDR, aber auch in Westdeutschland und dann international eine enorme Resonanz und erschienen in hohen Auflagen. Dies hängt zunächst einmal mit ihren oftmals ganz aktuellen Themen zusammen – man denke etwa an die Berliner Mauer und die deutsche Teilung (Der geteilte Himmel) oder an das Reaktorunglück von Tschernobyl (Störfall). Aber auch als Wolfs Beschäftigung mit feministischen Fragen vermehrt Eingang in ihre Texte findet (Kassandra, Medea), geschieht dies zu einem Zeitpunkt, zu dem die Leserschaft bereit ist, sich darauf einzulassen.

Von Bedeutung für die Resonanz ihrer Werke sind jedoch auch inhaltliche Akzente anderer Art. So knüpft Wolf in ihren Texten oft an das Nächstliegende und Vertraute an, an den Alltag. Deutlich wird das an thematischen Schwerpunkten wie Familie und Arbeit, die sich in vielen ihrer Werke finden. Überdies kommt in den Texten immer wieder Wolfs entschiedenes Verlangen nach »subjektiver Authentizität« zum Vorschein. Das besagt: Ihr Erzählen, auch das weitgehend fiktionale, muss seinen Ausgangspunkt jeweils in ihr selbst als der Autorin und in ihren eigenen Erfahrungen haben. Dabei sieht sie sich als Schriftstellerin genötigt, sich selbst äußerste Aufrichtigkeit abzuverlangen. Gerade in der Befragung ihrer eigenen Vergangenheit (Kindheitsmuster) kommt dies zum Tragen. Die Texte erlangen durch diesen Anspruch eine psychologische Eindringlichkeit, die sie für die Leser anziehend macht. Zugleich ist im ganz Persönlichen immer wieder ganz Allgemeines präsent, nur eben vermittelt durch eine Person. Ein Akzent anderer Art ist die Zivilisations- und Technikkritik, die bei Wolf eine feministisch inspirierte Komponente besitzt: Im Wettrüsten der Großmächte in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts sieht Wolf eine höchst gefährliche Konsequenz der Tatsache, »daß wir seit Jahrtausenden in einer Männerkultur leben« (W8, 253). Sie erkennt hier eine langfristige Entwicklung, die sich aus der Marginalisierung des Weiblichen und der Abspaltung des um Dominanz bemühten Männlichen vom gemeinsamen Menschlichen ergibt.

Schreibweise

Mit ihrer zunehmend komplexeren Schreibweise macht Wolf es dabei den Lesern nicht immer leicht. Des Öfteren bewegen sich ihre Texte in rascher Folge auf verschiedenen Zeitebenen, wechseln zwischen mehreren Perspektiven hin und her und beziehen auch noch selbstreflexiv Probleme des Erzählens mit ein. All dies vermochte es jedoch nicht, die Beliebtheit Wolfs als Autorin zu schmälern.

Charakteristisch für Wolf als eine Intellektuelle ist die hohe Reflektiertheit ihres Schreibens. Gerade dieser Aspekt hat zu einem essayistischen Werk von einigem Umfang geführt. Darin geht es um Probleme des Schreibens, um Kommentare zu den Texten anderer, um die Begegnungen mit Menschen, insbesondere auch solchen, die als ›Bezugspersonen‹ gelten können (Anna Seghers). Zu den Essays kommen im Lauf der Jahre zahlreiche Reden, Gespräche und Briefwechsel hinzu. Besonders hervorzuheben sind ihre Tagebücher, die, soweit sie veröffentlicht worden sind, Persönliches und Allgemeines in ihrer wechselseitigen Verflochtenheit zeigen.

Verhältnis zur DDR

Auch wenn Wolf zunächst an ihrer Hoffnung auf eine sozialistische Gesellschaft in der DDR festhielt, beharrte sie auf ihrem eigenen Kopf und eigenständigem Denken. Dies zeigte sich schon 1965 in einer mutigen Rede auf dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED. Dabei brachte ihr diese Haltung Konflikte mit den Herrschenden ein, erkennbar unter anderem an den enormen Schwierigkeiten, unter denen Nachdenken über Christa T. 1969 endlich erscheinen konnte. Ihre Hoffnung auf eine Änderung der Verhältnisse in der DDR geht dann Zug um Zug verloren, erschüttert unter anderem durch die Niederschlagung der Reformbemühungen in der Tschechoslowakei 1968 (»Prager Frühling«) und in ganz entschiedenem Maße durch die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR 1976. In den Wochen und Monaten der »Wende« im Jahr 1989 hofft sie dann auch nicht mehr so sehr auf die Möglichkeit der Gestaltung einer sozialistischen Zukunft, sondern eher auf den Erhalt einer eigenständigen, demokratisch erneuerten DDR. Gerade weil sie in den Jahren und Jahrzehnten vor dem Mauerfall – trotz oder wegen ihrer Treue zur Idee des Sozialismus – auf Distanz bleibt zu den tatsächlichen Verhältnissen in der DDR, wird sie für viele Menschen in ihrem Land zu einer Bezugsperson und sogar zu einer moralischen Autorität.

Deutsch-deutscher Literaturstreit

Diese Stellung wiederum bildet den Hintergrund für den »deutsch-deutschen Literaturstreit«. Zu ihm kommt es, als Wolf 1990 in einem zehn Jahre zuvor entstandenen Text (Was bleibt) ihre zwei Jahrzehnte lange Überwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR bekannt macht. Geht es in dem Streit letzten Endes um die Rolle der Intellektuellen in der DDR überhaupt, so entzündet er sich doch gerade an Wolfs Text, dessen verspätetes Erscheinen seitens westdeutscher Medien kritisiert wird. Nochmals ins Blickfeld der Medien gerät Wolf, als sie 1993 mitteilt, von 1959 bis 1962 als »Informelle Mitarbeiterin« des Ministeriums für Staatssicherheit geführt worden zu sein und dies zwischenzeitlich völlig vergessen zu haben. Sie lässt dann die entsprechende Akte veröffentlichen, was sie gänzlich entlastet.

Zeugnisse deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert

Wenn Christa Wolf heute als eine Autorin von Weltrang gilt, dann bezieht sich das auf ihre in fünf Jahrzehnten entstandenen literarischen Werke. Zum Teil wurden sie in viele Sprache übersetzt, ohne dass die innerdeutschen Querelen dabei von besonderem Interesse gewesen wären. Die Herkunft der Autorin ist dennoch von Relevanz, zumal für deutsche Leser: Aufgrund des politischen Engagements von Christa Wolf vermögen ihre Texte in außerordentlich erhellender Weise individuelle Auskünfte zu geben über die Zeit des Nationalsozialismus und über die Verhältnisse in der DDR, in eingeschränkterem Maße auch über die in der Bundesrepublik, die die Autorin des Öfteren besucht hat, über die Zeit der Wende und die ersten beiden Jahrzehnte danach. In diesen letzteren Zeitraum fällt ein längerer Aufenthalt Wolfs in Kalifornien, der in dem letzten noch zu ihren Lebzeiten erschienenen längeren Text (Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud) nochmals einen neuen Horizont eröffnet. Fast könnte man meinen, als verweise auch die geografische Entfernung zwischen Moskau und Los Angeles symbolisch auf die geistige Weite, die das Werk Wolfs von der Moskauer Novelle, dem ersten literarischen Text, bis zu der Stadt der Engel überspannt.

Wolfs Texte sind daher nicht nur Werke von hoher literarischer Qualität, sondern auch Zeugnisse dessen, was einen großen Teil der Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert ausmacht, wobei sie sich kritisch auf die jeweiligen politischen Gegebenheiten beziehen.

II.Zeittafel

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Landsberg an der Warthe, um 1910

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Christa Wolf mit ihren Eltern, um 1930

192918. März: Christa Ihlenfeld wird in Landsberg an der Warthe als Tochter der Kaufleute Otto und Hertha Ihlenfeld geboren

1935Einschulung zu Ostern

1939–1944Besuch der Oberschule in Landsberg

1945Januar: Flucht mit der Familie nach Mecklenburg

1945/46Schreibkraft im Bürgermeisteramt von Gammelin bei Schwerin

1946Besuch der Oberschule in Schwerin

von Oktober 1946 bis April 1947: Aufenthalt in einem Lungensanatorium nahe der Ostsee

1947Umzug der Familie nach Bad Frankenhausen in Thüringen

1949Abitur in Bad Frankenhausen

Eintritt in die SED

Oktober: Beginn des Studiums der Germanistik in Jena

1950Verlobung mit Gerhard Wolf (geb. 1928)

1951Heirat, Wechsel an die Universität Leipzig

1952Januar: Geburt der Tochter Annette

1953Frühjahr: Staatsexamen und Diplomarbeit bei Prof. Hans Mayer (1907–2001)

Umzug nach Berlin-Karlshorst

Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Schriftstellerverband (DSV), Berlin (bis 1955)

1954Erste Auslandsreise (mit einer Delegation des DSV nach Ungarn)

1955Mitglied des Vorstandes des DSV (bis 1977)

1956Cheflektorin beim Verlag Neues Leben, Berlin; sie gibt diese Tätigkeit im selben Jahr wieder auf

September: Geburt der Tochter Katrin

1957Juni: mit einer Delegation des DSV in Moskau

1958/59Redakteurin der Zeitschrift des DSV Neue deutsche Literatur (NDL)

1959Frühsommer: mit einer Delegation des DSV in Moskau

Umzug nach Halle/Saale

Erwähnung Wolfs als »Geheimer Informator« (GI) durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) (unter dieser Bezeichnung bis 1962 geführt)

Wir, unsere Zeit. Gedichte aus zehn Jahren und Wir, unsere Zeit. Prosa aus zehn Jahren, hg. von Christa und Gerhard Wolf

Proben junger Erzähler, hg. von Christa Wolf

1959–1962Arbeit als freiberufliche Lektorin für den Mitteldeutschen Verlag in Halle

1960Studienaufenthalt im VEB Waggonbau Ammendorf bei Halle; Leitung eines Zirkels schreibender Arbeiter

1961Mai: Reise nach Prag. Freundschaft mit der Redakteurin Franzi Faktorova, einer Zeitzeugin als Auschwitz-Überlebende

Moskauer Novelle, für die Wolf im Juni den Kunstpreis der Stadt Halle erhält

Arbeit zusammen mit Gerhard Wolf und dem Filmregisseur Konrad Wolf (1925–1982) am Drehbuch Moskauer Novelle (die Realisierung des Films wurde verboten)

1962Umzug nach Kleinmachnow bei Potsdam; freiberufliche Schriftstellerin

1963Kandidatin (d. h. beratendes Mitglied) des Zentralkomitees (ZK) der SED (vom VI. bis zum VII. Parteitag 1967; nach ihrer Rede beim 11. Plenum des ZK der SED 1965 wird sie nicht mehr in das Gremium gewählt)

Der geteilte Himmel. Erzählung

Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste

Oktober: Reise nach Moskau mit Brigitte Reimann (1933–1973)

1964März: Reise in die Bundesrepublik

April: Rede auf der 2. Bitterfelder Konferenz

Juni: Während einer Reise nach Ungarn Zusammentreffen mit Franz Fühmann (1922–1984)

September: Premiere des Films Der geteilte Himmel (Regie: Konrad Wolf)

Oktober: Nationalpreis III. Klasse für Kunst und Literatur

1965Aufnahme in das P.E.N.-Zentrum der DDR

Arbeit am Drehbuch von Fräulein Schmetterling

Dezember: 11. Plenum des ZK der SED, das der Kunst und der Literatur »Nihilismus« und die Schuld an der »Unmoral der Jugend« vorwirft und das einen kulturellen »Kahlschlag« in der Kultur- und Jugendpolitik zur Folge hat; Wolf bezieht Stellung gegen die Vorwürfe

1966Sommer: Reise nach Prag und in die Karpaten

Oktober/November: Reise nach Moskau und Georgien

Wolf unternimmt auch künftig fast jedes Jahr eine oder mehrere Auslandsreisen, teils als Fahrten zu Tagungen und Kongressen, teils als Lesereisen oder um Ehrungen entgegenzunehmen, teils privat; nach 2000 nimmt die Reisetätigkeit ab

1967Nach dem Rohschnitt Verbot der Weiterarbeit an dem Film Fräulein Schmetterling

1968Nachdenken über Christa T.

November: Premiere der Seghers-Verfilmung Die Toten bleiben jung (Mitarbeit am Drehbuch)

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1969Februar: Nach Überwachung von Christa und Gerhard Wolf seit 1966 Anlage des »Operativen Vorgangs Doppelzüngler« (bis 1989)

1971Juli: Reise nach Gorzów Wielkopolski, früher Landsberg an der Warthe (vgl. Kindheitsmuster)

1972Lesen und Schreiben. Aufsätze und Betrachtungen (in der Bundesrepublik mit dem Untertitel: Aufsätze und Prosastücke)

1973Die »Filmerzählung« Till Eulenspiegel (zusammen mit Gerhard Wolf)

1974Aufnahme in die Akademie der Künste der DDR

Erste Reise in die USA; März bis Mai: Writer in Residence am Oberlin-College, Ohio

Unter den Linden. Drei unwahrscheinliche Geschichten

Anna Seghers: Glauben an Irdisches, hg. von Christa Wolf

1975Sommer in Neu-Meteln (in der Nähe von Schwerin), wo ein altes Bauernhaus (erworben 1973) als zweiter Wohnsitz dient

1976März: Umzug nach Berlin, Friedrichstraße

November: Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann (geb. 1936) aus der DDR, Wolf beteiligt sich an der Protesterklärung

Kindheitsmuster

1977Disziplinierungsmaßnahmen nach dem Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung (»strenge Rüge«, Ausschluss Gerhard Wolfs aus der SED)

Frühjahr: Kur in Héviz (Ungarn)

August: Austritt aus dem Vorstand des Schriftstellerverbandes

Oktober: Teilnahme am Steirischen Herbst in Graz zum Thema »Weibliches Schreiben«

1978Januar: Bremer Literaturpreis

April/Mai: Gastvorlesungen an der University of Edinburgh, Lesungen in Birmingham, Swansea und London

Wolf übernimmt in den folgenden Jahren wiederholt Gastprofessuren (u. a. 1982 die Poetik-Professur der Universität Frankfurt am Main)

1979Kein Ort. Nirgends

1979 Forts.Karoline von Günderrode. Der Schatten eines Traumes. Gedichte, Prosa, Briefe, Zeugnisse von Zeitgenossen, hg. von Christa Wolf

Fortgesetzter Versuch. Aufsätze, Gespräche, Essays

Juni: Protest beim P.E.N.-Zentrum der DDR und beim Schriftstellerverband gegen die Maßregelung Stefan Heyms (1913–2001) und den Ausschluss von neun Kollegen aus dem DSV

Oktober: Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt

1980März/April: Reise durch Griechenland

Oktober: Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt

1981Aufnahme in die Akademie der Künste Berlin-West

Teilnahme an der Berliner Begegnung zur Friedensförderung

1982Mai: Teilnahme am Haager Treffen für den Frieden

Mai/Juni: Poetik-Vorlesungen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main

1983Kassandra. Vier Vorlesungen. Eine Erzählung

Mai/Juni: Gastprofessur an der Ohio State University in Columbus; Ehrendoktorwürde; Wolf bekommt in der Folge noch mehrfach einen Ehrendoktor verliehen

November: Schiller-Gedächtnis-Preis des Landes Baden-Württemberg

1984Juni: Erwerb eines Hauses in Woserin, Mecklenburg, nachdem das Haus in Neu-Meteln im Vorjahr abgebrannt ist

Aufnahme in die Europäische Akademie der Künste und Wissenschaften, Paris

1985Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Gesprächsraum Romantik (zusammen mit Gerhard Wolf)

1986Die Dimension des Autors: Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959–1985, Bd. 1 (Bd. 2: 1989)

Mitglied der Freien Akademie der Künste, Hamburg

1987Störfall. Nachrichten eines Tages

1987 Forts.Oktober: Christa Wolf vergibt (als »Vertrauensperson«) den Kleist-Preis an Thomas Brasch (geb. 1945)

Sie selbst wird ausgezeichnet mit dem Nationalpreis der DDR und dem Geschwister-Scholl-Preis

1988Ansprachen

Juni: schwere Erkrankung (Blinddarmdurchbruch, Blutvergiftung, Bauchfellentzündung), mehrere Operationen

1989Sommerstück

April/Mai: erneute Erkrankung

Juli: Austritt aus der SED

Herbst: Interviews und Reden; am 4. November Rede auf der großen Demonstration für Presse- und Meinungsfreiheit auf dem Berliner Alexanderplatz

28. November: Wolf gehört zu den Verfassern des Aufrufs Für unser Land

Mitglied der Kommission zur Untersuchung der Polizeiübergriffe am 7./8. Oktober in Berlin

Beginn des »Gesprächskreises Christa Wolf«

1990Zusammen mit Gerhard Wolf Gründung des Verlags Gerhard Wolf Janus press GmbH

Was bleibt. Erzählung

Reden im Herbst (auch unter dem Titel Im Dialog. Aktuelle Texte)

Angepaßt oder mündig. Briefe an Christa Wolf im Herbst 1989

1991Honorary Member of the American Academy of Arts and Letters

1992Einsicht in die Überwachungsakten des Ministeriums für Staatssicherheit

September 1992 bis Juli 1993: Scholar am Getty-Center in Santa Monica (Kalifornien/USA – vgl. Stadt der Engel)

1993In einem Zeitungsartikel berichtet Wolf, zwischen 1959 und 1962 »Informelle Mitarbeiterin« des MfS gewesen zu sein. Akteneinsicht Christa Wolf: Veröffentlichung der Akte, die sich mit dieser Zeit beschäftigt; Austritt aus den Akademien der Künste Berlin-Ost und Berlin-West

1993 Forts.Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen (Briefwechsel mit Brigitte Reimann)

1994Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990–1994

Verleihung der Rahel-Varnhagen-van-Ense-Medaille an Christa und Gerhard Wolf

Aufnahme in die (seit dem 1. Oktober 1993 neu etablierte) Akademie der Künste in Berlin

1995Mai: Reise nach Krakau und Gdansk mit Günter Grass (1927–2015)

August: Unsere Freunde, die Maler, Ausstellung in der Kurt-Tucholsky-Gedenkstätte in Rheinsberg und Buchpublikation (mit Gerhard Wolf)

Monsieur – wir finden uns wieder (Briefwechsel mit Franz Fühmann)

1996Medea. Stimmen. Roman

1999Hierzulande. Andernorts. Erzählungen und andere Texte 1994–1998

Auszeichnung mit dem Nelly-Sachs-Preis und dem Langgässer-Preis; auch in den folgenden Jahren erhält Wolf immer wieder Preise

2002Leibhaftig. Erzählung

2003Ein Tag im Jahr. 1960–2000

Das dicht besetzte Leben (Briefwechsel mit und Essays über Anna Seghers, 1900–1983)

2004Ja, unsere Kreise berühren sich (Briefwechsel mit Charlotte Wolff, 1897–1986)

2005Mit anderem Blick. Erzählungen

2006Der Worte Adernetz. Essays und Reden

2009Ehrenpräsidentin des P.E.N.

2010Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Roman

20111. Dezember: Christa Wolf stirbt nach langer schwerer Krankheit in einem Krankenhaus in Berlin.

13. Dezember: Beerdigung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof

2012Rede, daß ich dich sehe. Essays, Reden, Gespräche

August. Erzählung

2013Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert. 2001–2011

2014Nachruf auf Lebende. Die Flucht

Moskauer Tagebücher

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Grab von Christa Wolf auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin

III.Leben und Werk

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Warthebrücke in Landsberg, um 1930

Kindheit

Landsberg an der Warthe (heute: Gorzów Wielkopolski), im 19. Jahrhundert zum Regierungsbezirk Frankfurt (Oder) in der preußischen Provinz Brandenburg gehörend, liegt gut 130 km östlich von Berlin und etwa 45 km östlich der heutigen deutsch-polnischen Grenze. Dort wird Christa Ihlenfeld – so der Mädchenname – am 18. März 1929 geboren. Ihre Eltern besitzen ein Lebensmittelgeschäft und eröffnen später mit Erfolg noch ein zweites. Sie erlebt »eine durchschnittlich angepasste, durchschnittlich glückliche Kindheit in einer durchschnittlichen Provinzstadt in einer außerordentlichen Epoche« (Magenau 2013, S. 21). Außerordentlich ist die Epoche, nachdem die Nationalsozialisten im Jahr 1933 die Macht übernommen haben. Dadurch ist dann Wolfs Kindheit »zwischen private Trivialität und öffentlichen Fanatismus gespannt« (W4, 439). Davon erzählt sie ausführlich in ihrem Text Kindheitsmuster (1976).

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Otto und Hertha Ihlenfeld vor ihrem Lebensmittelgeschäft in Landsberg

Flucht

1945 flieht sie mit der Familie nach Mecklenburg. Die chaotischen Verhältnisse und die trostlose Stimmung während der Flucht werden in den Erzählungen Blickwechsel (1970) und Nachruf auf Lebende. Die Flucht (1971, erschienen 2014) sowie in den Kindheitsmustern beschrieben. Darin erzählt sie, dass sie es 1945 »mühsam hat lernen müssen«, statt »Heil Hitler« künftig »Guten Tag« und »Auf Wiedersehen« zu sagen (W5, 68). Vom Herbst 1945 bis zum Frühjahr 1946 wird Wolf als »Schreibhilfe« im Bürgermeisteramt der Gemeinde Gammelin bei Schwerin eingestellt. Darauf bezieht sich die kurze Erzählung Zu einem Datum (1971), in der die Schreibhilfe über das belehrt wird, »was Gerechtigkeit ist. Nämlich nicht gleiche Behandlung für alle, sondern Vorrechte für die jeweils Herrschenden: dazumal für den Großbauern […], heutzutage eben für den [kommunistischen] Schuster« (W3, 129).

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Christa Wolf mit Eltern und Bruder Horst, 1942

Nachkriegszeit

Von März 1946 an besucht sie in Schwerin wieder die Schule. Den Winter von Oktober 1946 bis April 1947 verbringt sie in einem Lungensanatorium nahe der Ostsee, nachdem sie sich bei einer Mitschülerin mit Tuberkulose angesteckt hat (der Sanatoriumsaufenthalt bildet den Hintergrund für die Erzählung August, erschienen 2012). 1947 zieht die Familie nach Bad Frankenhausen/Kyffhäuser in Thüringen um, wo 1525 die letzte große Schlacht des Bauernkrieges stattfand und wo sich heute das bekannte monumentale Bauernkriegspanorama des Malers Werner Tübke befindet. 1949 macht sie dort Abitur.

Im selben Jahr tritt sie in die SED ein. Später – im Kontext der Beschäftigung mit Kassandra – erinnert Wolf sich »jener frühen entschiedenen Veränderung, die mein Denken, meine Sicht und mein Selbst-Gefühl und Selbst-Anspruch vor mehr als dreißig Jahren durch die erste befreiende und erhellende Bekanntschaft mit der marxistischen Theorie und Sehweise erfuhren« (W7, 166). Abermals später – im Jahr 1988 – meint sie in einem Gespräch:

Meine Generation identifizierte sich schon früh mit der entstehenden Gesellschaft, weil wir hier in den vierziger Jahren gezwungen waren, uns intensiv und radikal mit der faschistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen, schärfer, als das in der Bundesrepublik der Fall war. Das hat eine starke Bindung an diese Gesellschaft geschaffen, die ja durch Antifaschisten aufgebaut wurde. (W12, 200)

Wolf führt dazu weiter aus, dass

wir als sehr junge Menschen, aufgewachsen im Faschismus, erfüllt waren von Schuldgefühlen und denen dankbar waren, die uns da herausgeholt hatten. Das waren Antifaschisten und Kommunisten, die aus Konzentrationslagern, Zuchthäusern und aus der Emigration zurückgekehrt waren und die in der DDR mehr als in der Bundesrepublik das politische Leben prägten. Wir fühlten eine starke Hemmung, gegen Menschen Widerstand zu leisten, die in der Nazizeit im KZ gesessen hatten. (W12, 201f.)

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oben: Schwerin, um 1940; unten: Solebad Frankenhausen, um 1950

Studium, berufliche Tätigkeiten

Es sind dies im Übrigen Erinnerungen und Gedanken, die Wolf wiederholt in Gesprächen erwähnt hat (vgl. z. B. W12, 58f., 445, 710f.). Sie begegnen ähnlich auch bei anderen Autoren der DDR (vgl. den Überblick in Emmerich 2009, S. 11–28). Mit dem Wintersemester 1949/50 beginnt Wolf ein Studium zunächst der Pädagogik, dann der Germanistik und der Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena mit dem Berufsziel Lehrerin. 1950 verlobt sie sich mit Gerhard Wolf (geb. 1928), ebenfalls Student; 1951 heiraten beide. Zum Wintersemester 1951/52 erfolgt ein Wechsel an die Karl-Marx-Universität Leipzig. Hier begegnet Wolf erneut ihrer Landsberger Freundin Christa Tabbert (Christa T.), die ebenfalls Germanistik studiert. Im Januar 1952 wird die Tochter Annette geboren. Im Frühjahr und Sommer 1953 besteht sie ihre wissenschaftlichen Abschlussprüfungen, die sie bei Prof. Hans Mayer (1907–2001) ablegt. Ebenfalls 1953 zieht die Familie nach Berlin-Karlshorst um.

Wolf wird Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Schriftstellerverband (DSV) der DDR (bis 1955). Sie schreibt »linientreue« Literaturkritiken (Magenau 2013, S. 67) für die Verbandszeitschrift Neue deutsche Literatur (NDL) (vgl. Firsching 1996, S. 19–21; Hörnigk 1989, S. 49–65), da sie sich als »mächtig sattelfest« sieht »in dem, was wir für marxistische Literaturtheorie hielten« (W8, 14). Sie wird sogar Mitglied des Vorstandes des DSV (bis 1977). 1956 wechselt sie vom Schriftstellerverband zum Verlag »Neues Leben«, Berlin, und wird dessen Cheflektorin, scheidet aber im selben Jahr wieder aus dem Verlag aus. Im September wird ihre Tochter Katrin geboren. Sie schreibt als freie Autorin für die Zeitschrift des Schriftstellerverbandes, ist 1958/59 Redakteurin der NDL und – nach dem Umzug der Familie nach Halle/Saale – von 1959 bis 1962 freiberufliche Lektorin für den Mitteldeutschen Verlag in Halle.

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Christa Wolf als Studentin in Jena, 1951

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Christa Wolf während ihrer Zeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin des DSV, 1955

Nach Auskunft von Gerhard Wolf ist Christa Wolfs Berufung zur Redakteurin der NDL bereits in unmittelbarem Zusammenhang mit der Kontaktaufnahme des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zu sehen; zwischen 1959 und 1962 wird Wolf als »Geheimer Informator« (GI) geführt (ab 1968 lautet die Bezeichnung »Inoffizieller Mitarbeiter«, umgangssprachlich nach der Wende auch »Informeller Mitarbeiter«). Viel später fragt sie sich, wie sie dies einfach vergessen konnte. »Ich will herausfinden, wie ich damals war. Warum ich mit denen überhaupt geredet habe.« Und sie beantwortet sich diese Frage mit dem gut nachvollziehbaren Hinweis: »Weil ich sie [im Jahr 1959] noch nicht als ›die‹ gesehen habe« (SdE, 257). Die Beziehung zum MfS jedenfalls kann als »typisch für die Frühphase der DDR« gelten; »ähnliche Beispiele« sind »unter anderem Franz Fühmann, Brigitte Reimann, Heinz Kahlau, Ulrich Plenzdorf und Robert Havemann. Typischerweise begannen diese Beziehungen mit Skrupeln und Bedenken gegen ordinäre Spitzeltätigkeit und wurden relativ bald abgebrochen. Typisch auch, dass sich später daraus ein ›Operativer Vorgang‹ entwickelte, dass sich der Generalverdacht des Staates dann gegen die ehemaligen Informanten richtete.« (Magenau 2013, S. 110)

Erste Texte

1960 absolviert Wolf einen Studienaufenthalt im VEB Waggonbau Ammendorf bei Halle – darauf bezieht sich dann Der geteilte Himmel von 1963 – und übernimmt zusammen mit Gerhard Wolf die Leitung eines Zirkels schreibender Arbeiter, beides im Sinne des Kulturprogramms »Bitterfelder Weg«. Im Waggonbau Ammendorf wird dann 1964 auch Konrad Wolfs Verfilmung des Geteilten Himmels gedreht. 1961 erscheint Wolfs Moskauer Novelle, die in der DDR einige Beachtung findet und ihr den Kunstpreis der Stadt Halle einträgt. Von 1962 an arbeitet sie als freiberufliche Schriftstellerin.

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Christa Wolf mit ihrem Ehemann Gerhard, 1963

In die zurückliegenden fünfziger Jahre fällt der XX. Parteitag der KPdSU (1956), auf dem Chruschtschow die Verbrechen der Stalin-Ära zum Teil enthüllt – später, 1993, spricht Wolf von einem »tiefen Schock« (W12, 458). Dieser Parteitag hat vorübergehend gewisse Liberalisierungstendenzen zur Folge. Wolf erinnert sich jedenfalls 1987/88 mit Bezug auf diese fünfziger Jahre an eine »Stimmung übersteigerter Intensität, […] wir würden den Sozialismus, den Marx gemeint hatte, noch erleben. Auf der einen Seite Einübung in nüchternes, kritisches, analytisch-dialektisches Denken, auf der anderen eine Art Heilsgewißheit, wenige Jahre lang.« (W12, 72)

11. Plenum des ZK der SED / Kultureller Kahlschlag

1963 wird Wolf auf dem VI. Parteitag der SED »Kandidatin« (d. h. beratendes Mitglied) des Zentralkomitees (ZK). Im selben Jahr erscheint Der geteilte Himmel, der den Bau der Berliner Mauer als Thema mit einbezieht und für den Wolf den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste erhält. Im Dezember 1965 findet dann das 11. Plenum des ZK der SED statt, das »als kultureller Kahlschlag in die Geschichtsbücher« eingeht (Magenau 2013, S. 175). Den Künstlern wird Nihilismus und Skeptizismus vorgeworfen und ein demoralisierender Einfluss auf die Jugend. In der Folge werden dann auch zahlreiche Bücher, Theaterstücke und Filme verboten. Wolf wendet sich in einer mutigen Rede als Einzige gegen die Vorwürfe (vgl. Diskussionsbeitrag, W4, 113–126), vermag aber nichts auszurichten. Auf ihren Beitrag wird in der Diskussion nicht weiter eingegangen. Sie erleidet eine Herzattacke – eine »Manifestation jenes Zusammenhangs von seelischer Überforderung und starker körperlicher Reaktion, von Konflikt und Krankheit, der sie lebenslang prägte« (Hilzinger 2014, S. 27; vgl. auch ebd., S. 60, 115 u. ö.) und den sie selbst in Gesprächen erwähnt (z. B. W12, 82, 86). Sie verfällt in eine tiefe Depression. Wiederholt beschreibt sie später ihre Reaktion als das »Gefühl: Mir sind die Hände weggeschlagen.« (W12, 595) 1993 meint sie in einem Gespräch, dass sie durch ihre Mitwirkung im ZK »von innen her sehen konnte, wie der Mechanismus [der SED-Politik] funktioniert«, und daher »von 1965 an wußte: Mit dem Apparat habe ich nichts zu tun.« (W12, 452f.) Wie erschütternd diese Erfahrung für sie gewesen ist, zeigt sich darin, dass sie auch noch in Gesprächen der ausgehenden achtziger und der neunziger Jahre wiederholt auf das 11. Plenum Bezug nimmt (vgl. W12, 84f., 595, 708–711). Ihre Rede in dem Plenum führt schließlich auch dazu, dass sie im Jahr 1967 den Status einer Kandidatin des ZK der SED verliert.

Wenn sie dann trotz des 11. Plenums noch nicht gänzlich desillusioniert ist, so erklärt sie dies rückblickend damit, dass

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Beispiel für die restriktive Kulturpolitik nach 1965: Auftrittsverbot für die Jazz-Optimisten im Jahr 1966; hier bei einem Auftritt 1965