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Band 2:

Klinik

 

von Christian Montillon
und Oliver Fröhlich

 

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Kapitel 1: In Trümmern

Kapitel 2: Ein vielversprechendes Projekt

Kapitel 3: So etwas wie Verwandte

Kapitel 4: Ethische Vorbehalte

Kapitel 5: Die Farben des Zorns

Kapitel 6: Wie schmecken Schaltkreise?

Kapitel 7: 13-Fq-32

Kapitel 8: Die Regel des Weltraumdetektivs

Trivid – Die Klon-Verschwörung

Impressum

 

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Die Hauptfigur Lian Taupin. Illustration: Dirk Schulz.

Kapitel 1:
In Trümmern

 

Sie trieb in einem Meer aus Enge. Die Augen öffnete sie so gut wie nie. Warum auch? Schließlich gab es nichts zu sehen außer verzerrten Lichtreflexen und verschwommenen Farben. Gelegentlich füllte ein nicht minder verzerrtes Gesicht ihr gesamtes Universum aus, eine allumfassende, bedrohlich wirkende Präsenz, die ein religiöser Mensch als Gott interpretieren mochte.

Ein absurder Gedanke.

Sie glaubte nicht an Gott.

Sie glaubte an gar nichts. Nicht einmal an sich selbst. Sie war ein Niemand, ohne Vergangenheit oder Zukunft, bestenfalls ein Es, das lediglich im Augenblick existierte. Oder vor sich hin vegetierte.

Es gab nur die Enge und sie.

Und die Stimmen.

Manchmal.

Doch handelte es sich überhaupt um Stimmen? Sie hatte nie zuvor welche gehört, woher sollte sie es also wissen? Gedämpft drangen sie zu ihr, als kämpften sich die Wörter durch eine dicke Schicht aus Melasse und büßten auf dem Weg jegliche Bedeutung ein. Dennoch glaubte sie zu erkennen, worüber sie sprachen: über Schöpfung und Verdammnis, Schicksal und Selbstbestimmung. Über Schlaf und Erwachen.

Ihren Schlaf.

Und ihr Erwachen.

Sie hielt es nicht länger aus. Aber was sollte sie anderes tun, als ihre Existenz still leidend zu ertragen? Es führte kein Weg aus der Beengtheit des Seins. Sie war zu ewiger Bewegungslosigkeit verdammt, gefangen, eingeschnürt von den Fesseln der sie umgebenden Welt.

Sie wollte schreien, doch sie blieb stumm.

Sie wollte strampeln, doch sie regte sich nicht.

Sie wollte sterben, doch die allumfassende Präsenz ihres Universums erlaubte es nicht.

Ein Hauch von Erleichterung überkam sie jedes Mal, wenn sie entschlummerte, die Lichtreflexe, Farben und Gesichter verwehten und die Stimmen verebbten. Das Wissen jedoch, dass sie bald zurückkehrten, ließ sie erschaudern und ...

»Lian?«

Da! Es begann von vorne. Ein weiteres sinnloses Wort, das in ihre Welt der Einsamkeit sickerte.

»Lian!«

Endlich – endlich! – wachte sie auf.

 

 

Sie öffnete die Augen und sah über sich das Gesicht eines Mannes. Glücklicherweise nicht verzerrt wie das, das sie beinahe jede Nacht heimsuchte.

»Hallo, Perry.« Sie versuchte sich an einem Lächeln, das ihr leidlich gut gelang.

»Entschuldige, dass ich dich geweckt habe«, sagte Rhodan. »Aber ich dachte, drei Stunden Schlaf sollten ausreichen.«

Lian fuhr hoch und bemerkte erst in diesem Augenblick, dass sie auf einer Behandlungspritsche lag. Daneben schwebte ein Holo, das ihre Vitalwerte anzeigte. Alles im normalen Bereich, soweit sie das beurteilen konnte. »Drei Stunden? Wo bin ich? Was ist passiert?«

Ein Medoroboter tauchte an ihrer Seite auf, ließ einen Kegel aus bläulichem Licht über ihren Körper gleiten und verkündete: »Keine gesundheitliche Einschränkung feststellbar.« Ob er denselben neutralen und emotionslosen Ton auch verwendete, wenn er bei einem Patienten eine unheilbare tödliche Krankheit diagnostizierte?

»Du genießt die Gastfreundschaft der Medostation von Trivid Sieben«, sagte Rhodan. »Während wir uns im Konferenzraum die Aufzeichnung des Gesprächs zwischen Dano Zherkora und Bran Lindholm angesehen haben, bist du umgekippt. Erinnerst du dich?«

Sie nickte. Nach und nach tauchten vor ihrem geistigen Auge die Bilder auf, die sie in die Ohnmacht begleitet hatten: eine Holoaufnahme zweier plaudernder Männer. Normalerweise nicht gerade das, was einen auf die Bretter schickte, wenn nicht ...

Lian setzte sich auf und ließ die Beine von der Pritsche hängen. Sie sah mindestens zehn weitere Liegen mit Verletzten. Opfer der Explosionen, die Dano als Ablenkungsmanöver für seine Flucht inszeniert hatte. Manche von ihnen waren an Behandlungsgeräte angeschlossen – mit Kabeln, Luftschläuchen, Sonden oder Fäden aus reiner Energie. Es piepste, summte, blinkte in Holos. Der scharfe, bedrohliche Geruch nach Desinfektionsmitteln lag in der Luft.

Eine Übelkeit stieg in Lian hoch, die nichts mit ihrer Bewusstlosigkeit zu tun hatte. Sie wollte nur noch raus. So schnell wie möglich. Weg von Ärzten, Medorobotern und Instrumenten, die ihr Innerstes nach außen kehrten und jedes private Detail ihres Körpers der Öffentlichkeit enthüllten.

Sie versuchte aufzustehen, doch Rhodan hielt sie zurück. »Nicht so hastig. Komm erst mal wieder zu dir. Also, was ist im Konferenzraum mit dir geschehen?«

Widerwillig blieb sie sitzen. Mit misstrauischen Blicken beobachtete sie, wie ein Roboter eine Kanüle in die Armbeuge eines Patienten einführte. »Es war wohl etwas zu viel für mich, Danos Erzählung aus seiner Vergangenheit zu lauschen.« Sie schluckte trocken. Ihr Hals schmerzte. »Ist es dir nicht aufgefallen?«

»Dass er exakt die gleichen Szenen schilderte wie du zuvor mir? Selbstverständlich ist mir das aufgefallen.«

»Nicht nur das. Er hat sie sogar genau so formuliert wie ich. Wie ist das möglich? Wie kann er sich an meine Jugend erinnern und sie für seine eigene halten? Oder umgekehrt? Wir müssen ...« Der Sache auf den Grund gehen. Doch wollte sie das wirklich? Stand nicht zu befürchten, dass das, was sie herausfanden, ihr gesamtes Leben auf den Kopf stellte, ach was: es in Trümmer schlug? Vielleicht sollte sie besser nicht an Dingen rühren, die sie, erst einmal ans Tageslicht gezerrt, nie mehr loswerden konnte. Es wäre wesentlich vernünftiger, sich stattdessen einzureden, dass alles in bester Ordnung war.

Nur dass eben nichts in bester Ordnung war.

Und Dano würde ihr das immer wieder vor Augen führen. Er hatte Lians Mutter entführt – oder eine Frau, von der er das behauptete, denn Lians Erinnerungen zufolge hatte ihre Mutter vor neunzehn Jahren Selbstmord begangen. Er versuchte, sie zu erpressen, ihrer habhaft zu werden, um ... ja, wozu? Sie wusste es nicht. Doch es wäre allzu blauäugig, darauf zu hoffen, dass er sie künftig in Ruhe ließ. Nein, ihr blieb keine andere Wahl. Egal, wie schmerzhaft und zerstörerisch die Erkenntnisse ausfielen, sie musste herausfinden, worum es bei Danos grausamem Spiel ging.

Darum setzte sie nach einer kurzen Pause den Satz fort, wie sie es ursprünglich geplant hatte: »Wir müssen der Sache auf den Grund gehen. Warum hast du mich nicht eher geweckt?«

»Ich dachte, ein bisschen Ruhe tut dir gut. Der Medoroboter versicherte mir, dass du von einer Ohnmacht in normalen erholsamen Schlaf geglitten bist. Abgesehen von irgendwelchen Albträumen, die dein Unterbewusstsein wohl als sehr bedrückend empfunden hat.«

Sie lachte auf. Es klang verbitterter als beabsichtigt. »Das können diese Maschinen feststellen?«

Rhodan schaute sie fragend an. »Klar. Gehirnwellenmuster und so.«

»Kein Wunder, dass ich von diesen künstlichen Medikern und ihren Kollegen aus Fleisch und Blut nichts halte. Die Albträume waren kein kleiner Makel während eines sanften Schlummers! Weißt du, wann ich zum letzten Mal etwas wie normalen erholsamen Schlaf genießen durfte?«

Sie sah zu Boden und rieb sich mit beiden Zeigefingern über die Nasenwurzel. »Natürlich weißt du es nicht. Woher auch? Ich kann mich ja selbst kaum daran erinnern.«

»Was genau meinst du damit? Die Träume?«

Lian blickte auf und entdeckte aufrichtige Besorgtheit in Rhodans Miene. »Die Träume! Nacht für Nacht kehren sie wieder. Manchmal würde ich am liebsten gar nicht zu Bett gehen. Dann halte ich mich mit Aufputschmitteln so lange künstlich wach, bis der Körper irgendwann schließlich doch sein Recht verlangt.«

»Hast du dich von einem Mediker untersuchen lassen?«

Sie winkte ab. »Hör mir auf mit Ärzten! Wie ich gerade sagte: Ich kann sie nicht ausstehen.«

Er nickte, als habe sie etwas außerordentlich Kluges gesagt. »Erzähl mir von diesen Träumen.«

»Lieber nicht. Können wir endlich gehen?«

»Nein!« Seine Stimme klang bestimmt, und zum ersten Mal sah Lian in ihm den anderen Perry Rhodan, die unsterbliche Legende, den unbeugsamen Terraner, der seinen Weg ging und sich jedem entgegenstellte, der ihn davon abbringen wollte. »Ich will ehrlich zu dir sein.«

»Ein Satz, der meistens eine Lüge einleitet«, fiel sie ihm ins Wort.

Er blieb ernst. »Dann stelle ich eben eine Ausnahme dar. Ich war während deiner Ohnmacht nicht untätig. Ich habe recherchiert und einige Dinge herausgefunden.«

»Soll das heißen, du hast nicht an meinem Bettchen gesessen und über mich gewacht? Da bin ich aber enttäuscht.« Sie grinste, allerdings wurde ihr im selben Augenblick klar, dass sie mit ihrem albernen Einwurf auf Zeit spielte. Sie hatte Angst vor dem, was sie hören würde, und wollte den Moment so lange wie möglich hinauszögern.

»Ich werde dir detailliert davon berichten«, fuhr er fort. »Aber nur, wenn du mir deine Träume schilderst. Sie könnten eine wichtige Rolle spielen.«

Lian schaute ihn ungläubig an. »Wie das denn? Es sind nur Träume!«

»Lass uns das anschließend beurteilen.«

Sie seufzte und zuckte mit den Achseln. »Na schön, wenn du dich unbedingt langweilen willst. So viel gibt es da ohnehin nicht zu erzählen. Also keine Handlung oder dergleichen. Eher ein ... bedrückendes Gefühl von Enge und Einsamkeit. Ein riesiges, weltenumspannendes Gesicht, das mich beobachtet. Stimmen.« Sie winkte ab und versuchte dabei, so lässig wie möglich zu wirken. Rhodans besorgte Miene deutete an, dass es ihr nicht sehr gut gelang, und sie fragte sich, ob er vielleicht mehr verstand als sie selbst. »Verrückter Kram. Schwer nachzuvollziehen für jemanden, der es nicht erlebt hat. Träume eben.«

»Oder auch nicht.« Er reichte ihr die Hand und half ihr von der Pritsche. »Lass uns in den Konferenzraum gehen. Dort erfährst du alles, was ich herausgefunden habe. Aber ich fürchte, es wird dir nicht gefallen.«

 

 

Auf dem Weg zum Konferenzraum kamen sie an der Sektion der Raumstation vorbei, die Dano mit seinen – vermutlich improvisierten – Bomben beschädigt hatte. Aus dem Augenwinkel bemerkte Rhodan, wie Lian zusammenzuckte, als sie erneut das Ausmaß der Zerstörung sah: zu bizarren Formen verschmolzene Elemente der Wandverkleidung, Risse, klaffende Löcher. Auch die Luftumwälzungsanlage arbeitete in diesem Bereich nur eingeschränkt, weshalb immer noch ein verkohlter, brenzliger Gestank die Luft erfüllte. Immerhin hatten Reparaturroboter inzwischen die meisten Trümmer weggeräumt, sodass die Szenerie nicht mehr gar so sehr an ein Schlachtfeld erinnerte.

Ein Uniformierter beugte sich über das, was vor der Explosion wohl ein Tisch gewesen war. Offenbar waren inzwischen Einsatzkräfte der Polizei eingetroffen.

»Ich verstehe es nicht«, sagte Lian.

»Was?«

––