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ANDREAS WUNN

BRASILIEN

FÜR INSIDER

Nahaufnahme eines Sehnsuchtslandes

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Redaktion: Andrea Kunstmann, München

Copyright © 2014 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Eisele GrafiDesign, München,

unter Verwendung der Fotos von Christophe Schmid/123rf (Schuhe),

Alex Quennell (Strand), omer sukru goksu/E+/Getty Images

(Landkarte innen rechts)

und pop_jop/iStock/Getty Images (Landkarte innen links)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-12628-5

www.heyne.de

Für meine Eltern

Inhalt

Vor Sonnenaufgang im Bus

Rio de Janeiro: Carioca-Chaos und der Strand

Wahre Liebe: Brasilianer und der Fußball

Häusermeer bis zum Horizont: São Paulo

So klingt Brasilien: Bossa Nova, Samba und mehr

Favelas im Aufbruch: Die andere Seite Rio de Janeiros

Der brasilianische Juni: Proteste und Politik

Wirtschaft: Zwischen Boom und Chaos

Brasilien royal: Der Nachkomme des letzten Kaisers

Havaianas: Brasiliens Gummischlappen erobern die Welt

Alarm am Amazonas: Der Kampf um Belo Monte

Religion: Gott ist Brasilianer! Aber der Papst ist Argentinier

Die Entdeckung der Sinnlichkeit: Karneval im Sambodrom

Niemeyer, Senna und Co.: Von Helden und Models

Der große Mix: Schmelztiegel ohne Rassismus?

So schmeckt Brasilien: Feijoada und mehr oder weniger Raffiniertes

Saudade: Brasilien ist ein Gefühl

Obrigado – Dankeschön

Brasilien zum Weiterlesen: Literatur

Vor Sonnenaufgang im Bus

Rosangela, ich schreibe ein Buch über Brasilien.«

»Ich hoffe, du schreibst nur Gutes.«

»Na ja, nicht nur.«

»Hm.«

»Also, viel Gutes natürlich. Aber eben nicht nur.«

»Da kann man wohl nichts machen.«

Ich sitze neben Rosangela in der letzten Reihe des Busses. Dort wo sie immer Platz nimmt. Draußen ist noch tiefe Nacht, und es ist heiß. Drinnen perlen an den Scheiben Tausende winziger Wassertropfen wegen der voll aufgedrehten Klimaanlage. Die roten und gelben Lichter des Morgenverkehrs huschen nur in Schlieren an uns vorbei.

Es ist halb fünf in der Frühe und Rosangela schon seit einer knappen Stunde wach. Sie wohnt mit ihrer Familie in dem Ort Maricá in einem kleinen Haus mit zwei Mangobäumen und einer Kokospalme im Garten. Jeden Morgen nimmt sie den Bus nach Rio de Janeiro, 70 Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Guanabara-Bucht. Heute fahre ich mit ihr. Im vollen Bus ist es still, fast alle schlafen. Rosangela ist siebenundfünfzig, nicht gerade dünn, hat kurzes, leicht krauses, dunkles Haar, ein rundes Gesicht und manchmal ein verschmitztes Lächeln. Es wird zwei Stunden dauern, bis sie ihr Ziel erreicht hat. Bis sie angekommen ist an ihrem Arbeitsplatz – bei mir zu Hause.

Dieses Buch beginnt mit einem Selbstversuch. Mit einer Entdeckungsreise. Es ist eine Reise, die mich weit weg führt und dennoch nur ein Kurztrip ist. Und es hat mehr als drei Jahre gedauert, bis ich sie angetreten habe. Seit mehr als drei Jahren lebe ich in Rio de Janeiro. Genauso lange arbeitet Rosangela bei mir im Haushalt. Zweimal in der Woche kommt sie in meine Wohnung im Stadtteil Leme, in der Südzone von Rio de Janeiro an der Copacabana. Sie kümmert sich um meine Wäsche, hält die Wohnung sauber und kocht an diesen Tagen für mich. Ein Luxus, den ich mir in Deutschland so kaum leisten könnte, der aber in Brasilien für die Mittel- und Oberschicht Normalität bedeutet.

Jedes Mal, wenn Rosangela frühmorgens kommt, sehen wir uns nur kurz, kaum eine halbe Stunde vermutlich. Es bleibt nicht viel Zeit zum Reden. Ich frühstücke schnell, wir besprechen, was zu tun ist, dann fahre ich zur Arbeit ins ZDF-Studio Rio de Janeiro. Wenn ich abends nach Hause komme, ist Rosangela nicht mehr da. Sie kommt gegen halb sieben und geht um halb drei. Käme und ginge sie später, würde sie morgens und nachmittags nicht jeweils zwei, sondern vielleicht drei Stunden im hoffnungslosen Verkehrschaos von Rio de Janeiro stecken. Manchmal begegnen wir uns tage- oder wochenlang nicht, weil ich auf Reisen in ganz Südamerika unterwegs bin. Rosangela sieht unterdessen in meiner Wohnung nach dem Rechten. Sie hat eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie ich lebe. Von ihr weiß ich dagegen so gut wie nichts. Deshalb habe ich sie gefragt, ob ich sie auf ihrem Weg zur Arbeit einmal begleiten darf.

Der Bus rumpelt weiter über die Schnellstraße, die an Favelas, den Armenvierteln, an Stundenhotels und heruntergekommenen Geschäften für Fensterglas, Türen und anderen Baubedarf vorbeiführt. Immer wenn der Fahrer einem Schlagloch nicht mehr ausweichen kann, bewegen sich die schlafenden Gestalten auf ihren Sitzen vor uns fast wie in Zeitlupe hin und her. Jeden Tag pendeln mehr als zwei Millionen Menschen aus der Peripherie in die reicheren Viertel Rio de Janeiros, um dort ihrer Arbeit nachzugehen. »Du musst kämpfen«, sagt mir Rosangela. »Wer nichts vom Leben will, bleibt sitzen und wartet.«

Rosangela hat schon als kleines Mädchen gelernt zu kämpfen, denn mit elf Jahren fing sie an zu arbeiten. Ihre Mutter, die weder lesen noch schreiben konnte, wusch per Hand die Wäsche für sechzehn wohlhabende Familien im Stadtteil Copacabana. Rosangela half, die schmutzige Kleidung in großen Stoffbeuteln abzuholen und die frisch gewaschenen Hemden wieder abzuliefern. Die zehn Kleiderbügel in jeder Hand wurden immer schwerer und schnitten in die Haut, je länger sie im Bus stand. Mehrmals die Woche legte sie so den langen Weg von ihrer Favela weit draußen, in der sie aufwuchs, bis in Rios Südzone zurück. Copacabana kam der kleinen Rosangela wie eine völlig andere Welt vor. Sie fand die Gegend wunderschön und liebte den Anblick des Strandes. Auf den Straßen sah sie Menschen in eleganter Kleidung.

»Woran erinnerst du dich noch, Rosangela?«

»Ich erinnere mich an den Geruch von gegrilltem Rindfleisch in Copacabana. Bei uns in der Favela gab es immer nur Fisch.«

»Wann hast du zum ersten Mal churrasco gegessen?«

»Da war ich schon verheiratet.«

Wir überqueren die Guanabara-Bucht auf der vierspurigen Brücke, die Niterói mit Rio de Janeiro verbindet. Links in der Ferne thront die erleuchtete Cristo-Statue über der Stadt. Bald wird es hell werden.

Wer zum ersten Mal nach Brasilien kommt, ist oft geblendet und begeistert von den Schönheiten dieses Landes. Von der Herzlichkeit der Brasilianer, der Sinnlichkeit der Musik, der Natur, dem Klima und vielleicht auch den Frauen.

Brasilien ist in seiner Vielfalt und Größe einzigartig und faszinierend. Ein Land wie ein Kontinent, 24-mal so groß wie Deutschland mit fast 8 000 Kilometern Küste und dem einzigartigen Amazonasregenwald. Der fünftgrößte Staat der Erde. Ein wirkliches Sehnsuchtsland mit Traumstränden, Millionenmetropolen und Dschungelpfaden. Ein Schmelztiegel mit 200 Millionen Menschen unterschiedlichster Herkunft, bunt gemischt wie kein anderes Volk dieser Größe. Wer ein paar Tage oder Wochen in Rio de Janeiro verbringt, entdeckt eine gewisse Schwerelosigkeit – im fliegenden Rhythmus der Bossa Nova, in den fast schwebenden Bauten von Oscar Niemeyer, in den verspielten Ballkünsten brasilianischer Straßenkicker oder im süßlichen Geschmack von eiskaltem Kokoswasser am Strand von Ipanema.

Auch politisch und wirtschaftlich glänzte Brasilien im vergangenen Jahrzehnt. Das Land hat sich rasant entwickelt. Durch Wirtschaftsboom und milliardenschwere Sozialprogramme der Regierung sind mehr als 35 Millionen Brasilianer in die Mittelschicht aufgestiegen. Brasilien wurde zur sechstgrößten Volkswirtschaft der Erde – und zum B im Begriff der BRIC-Staaten, jener Gruppe hungriger, ungeduldiger, aufstrebender Schwellenländer (Brasilien, Russland, Indien und China), die nach ihrem wirtschaftlichen Aufschwung längst auch nach politischem Einfluss streben. Und spätestens mit dem Zuschlag für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und für die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro 2016, die beiden größten Events der Welt, hat sich Brasilien eingereiht in die Riege der Global Player.

Das Land nimmt unter den BRIC-Staaten eine Sonderstellung ein. Denn es ist der BRIC-Staat mit Sambafaktor, und das bedeutet Sympathie. Brasilien ist mit Abstand die sympathischste Nation unter den neuen Mächten des 21. Jahrhunderts. Nicht so machtbesessen und grimmig wie Russland, nicht so kompliziert und undurchsichtig wie Indien. Und nicht so undemokratisch und unheimlich wie China. Brasilien ist wie der Apple unter den aufstrebenden Schwellenländern: cooles Image, sinnliches Design.

Ein Land mit positivem Look and Feel. Ein Land ohne Feinde. Brasilien steht für Samba, Strand und Fußball, für Leichtigkeit, Zwanglosigkeit und Lebensfreunde. Ob nun Klischee oder Wahrheit oder eine Kombination aus beidem – Brasilien wird von vielen Menschen weltweit gemocht.

Doch wer länger in Brasilien lebt, lernt auch die Schattenseiten kennen. Brasilien ist immer noch eines der sozial ungerechtesten Länder der Welt. Armut, Gewalt und Kriminalität, Probleme im Bildungs- und Gesundheitssystem, Korruption und eine miserable Infrastruktur sind nur einige der drängendsten Probleme, die das Land in den kommenden Jahren angehen muss. Das Wirtschaftswachstum ist zwischenzeitlich abgesackt. Massive Sozialproteste und Straßenschlachten von Demonstranten mit der Polizei, beginnend im Juni 2013, haben das Land ein Jahr vor der Fußballweltmeisterschaft in Unruhe gestürzt.

Gerade eben noch gab das monotone Fahrgeräusch dem Innenraum des Busses ein beruhigendes Grundrauschen. Jetzt gehen die Türen auf, und der Lärm der Straße fliegt herein. Wir sind am rodoviária, Rios großem Busbahnhof angelangt – hier muss Rosangela umsteigen. Menschenmassen drängen sich auf dem schmalen Bürgersteig. An den Häuserwänden prangen schmutzige Graffitis. Scheinbar planlos halten und fahren die Busse wieder ab. Ein großes, lautes Durcheinander kurz nach Sonnenaufgang. Als wir endlich im Stadtbus sitzen, müssen wir uns gut festhalten, sobald der Fahrer in eine Kurve prescht.

Rosangela hat eigentlich ihr ganzes Leben als Hausangestellte gearbeitet, mal besser, mal schlechter bezahlt und behandelt. Sie ging nur drei Jahre zur Schule, aber ihre Tochter hat studiert und arbeitet für eine Kosmetikfirma. Die Favela, in der sie aufgewachsen ist, will sie nicht mehr betreten. Das sei zu gefährlich wegen der Drogengangs, sagt sie. Rosangela ist eine stolze Brasilianerin. Trotzdem findet sie es richtig, dass die Menschen für mehr Bildung und Gesundheit und für einen besseren öffentlichen Nahverkehr demonstriert haben. »Es wurde langsam Zeit«, sagt sie, als wir auf der linken Seite den Zuckerhut passieren, hinter dem sich die Sonne Richtung Himmel kämpft, der mittlerweile in wunderschönem Morgenrot glänzt.

Dieses Buch ist der große Versuch, Brasilien zu erklären. Dazu schreibe ich über Politik, Geschichte und Wirtschaft, aber auch über die prägenden Dinge des brasilianischen Alltags wie Musik, Strand, Karneval, Essen, Fußball, Religion und vieles mehr. Ich erzähle von meinen zahlreichen Reisen, die ich in den vergangenen Jahren in diesem riesigen und spannenden Land unternommen habe. Und von den Menschen, denen ich dabei begegnet bin. Die Klischees spare ich nicht aus, denn ich habe nichts gegen sie. Oft helfen sie, ein Land kennenzulernen. Doch man muss hinter die Klischees blicken, um ein Land und sein Volk verstehen zu lernen. Brasilien ist für mich nicht nur ein Land der Gegensätze, sondern auch ein Land der Gleichzeitigkeiten. Es löst bei mir – oft im selben Moment – extreme Gefühle an beiden Enden der emotionalen Skala aus. Brasilien kann mich überwältigen und berauschen. Brasilien kann mich empören und aufregen. Nur eines kann Brasilien nicht: mich gleichgültig lassen. Und trotzdem muss ich als Journalist immer wieder die nüchterne, objektive Brille aufsetzen, um dieses Land zu bewerten.

Ein paar Hinweise vorweg: Viele der Menschen, die ich in diesem Buch treffe, duze ich und spreche sie mit Vornamen an – und sie mich. Das mag für den deutschen Leser im ersten Moment fremd klingen, ist aber in Brasilien durchaus üblich. Selbst Präsidenten werden in den Medien bei ihren Spitz- oder Vornamen genannt, siehe Lula und Dilma. Trotzdem spricht man Respektspersonen nicht mit você (du) sondern mit o senhor oder a senhora (Sie) an. Ich habe es im Text immer so übersetzt, wie es gerade kam. Da der Kurs der Landeswährung Real in der Entstehungszeit dieses Buches schwankte, habe ich bei der Übertragung in Euro immer den momentanen Kurs zugrunde gelegt.

Als Korrespondent genieße ich das Privileg, immer wieder in viele verschiedene Realitäten der brasilianischen Gesellschaft einzutauchen. Nun schreibe ich alles auf. Und die Summe dieser journalistischen Momentaufnahmen – in Verbindung mit meinen Alltagserfahrungen – ergibt dieses Buch.

Es ist kurz vor halb sieben. Rosangela und ich steigen vor meinem Apartmentgebäude im Stadtteil Leme aus dem Bus. Ich kneife die Augen zusammen, weil die Morgensonne blendet. Fast zwei Stunden hat die anstrengende Fahrt gedauert, auf der Rosangela normalerweise schläft. Sie legt diese Strecke jeden Tag zurück, denn sie arbeitet noch für andere Familien, die in Rio de Janeiros Südzone wohnen. Nachmittags das gleiche Spiel zurück nach Hause. In der Bäckerei an der Ecke holen wir uns Brötchen. Oben in meiner Küche stehen wir noch ein bisschen zusammen, trinken einen Kaffee und unterhalten uns. Draußen rauschen die Straße und das Meer. Die Stadt ist längst erwacht. Rosangela spült meine und ihre Tasse und wird sich gleich an die Arbeit machen. Sie zieht die Augenbrauen hoch, zuckt andeutungsweise mit den Schultern und lacht.

»Rio de Janeiro macht müde«, sagt sie nur.