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Der Autor

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Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Für den Inhalt und die Korrektur zeichnet der Autor verantwortlich.

© 2016 united p. c. Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-7103-2942-5

ISBN e-book: 978-3-7103-2990-6

Umschlagfoto: https://pixabay.com/

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: united p. c. Verlag

Autorenfoto: Peter Faust

Handlung, Personen und Orte der Handlung sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit ist rein zufällig.

www.united-pc.eu

1

Pünktlich um 6.30 Uhr wollte der Polier auf seiner Baustelle den Baukran in Betrieb nehmen. Der neue Tag begann wolkenverhangen und, obwohl Sommer war, wehte ein kalter Wind. Dem Polier fröstelte, die Feier am Vortag hatte lange gedauert und war alkoholfeucht gewesen. Der Chef hatte zwar eine nette Ansprache gehalten, es war die Feier zur Pensionierung zweier altgedienter Kollegen gewesen, doch düstere Anspielungen zur anhaltenden Wirtschaftsflaute waren wieder dabei. Dass der Unternehmer gegenüber der Belegschaft den Betrieb krank jammerte, war er ja gewohnt, das war Routine und sollte Gehaltsforderungen der Mitarbeiter in Grenzen halten. Als dann der Baumeister auch noch gegen 22 Uhr die Feier verlassen hatte, waren alle erstaunt, ließen sich aber die Feststimmung nicht verderben und gingen erst nach Mitternacht heim.

Der Polier schaltete den Strom ein und nahm die Fernsteuerung, um die Beweglichkeit des Kranauslegers zu testen. Da hörte er einen markerschütternden Schrei und einen Krach, als ob alle abgestellten Scheibtruhen auf einmal umgefallen wären. Er legte die Fernsteuerung beiseite und ging in den Hof, woher der Krach gekommen war. Der Hilfsarbeiter, den alle Ali nannten, kam ihm entgegengelaufen und schrie: „Schefe tot liegen!“

„Beruhig dich Ali“, sagte der Polier väterlich. „Lass mich einmal nachschauen.“

„Keine Polizei, keine Polizei!“, schrie Ali in Panik.

„Sei still, blöder Hund. Du bist eh ang‘meldet“, herrschte ihn einer der Maurer der eben eingetroffenen Partie an.

So standen sie also unschlüssig, was zu tun wäre um den Baumeister herum, der Polier die beiden Maurer, der Ali, der sich tatsächlich wieder beruhigt hatte. Der Tote lag auf dem Rücken, in einer Blutlacke um den Kopf, mit weit aufgerissenen Augen und schreckverzerrtem Gesicht, als hätte er vor seinem Tod in die Hölle geschaut und den Teufel persönlich gesehen.

Ein paar Bretter, die links und rechts unter dem Körper hervorragten, ließen den Polier zum Rohbau hinaufschauen. „Ist vom Gerüst gefallen, die Bretter fehlen oben“, sagte einer der Maurer, der den Blicken des Partieführers gefolgt war.

„Er war doch gestern abends noch bei uns im Wirtshaus. Was geht er noch so spät am Bau?“, wollte der zweite Maurer wissen. „Um Zehne sieht auch ein Baumeister nichts mehr am Bau. Schon gar nicht, wenn er von einer Feier kommt.“

„Wann der Chef auf die Baustelle kommen wollte, hat man nie wissen können. Vorgestern hat er mich noch in der Früh g‘fragt, warum wir noch nicht weiter sind. Da muss er auch in der Nacht am Bau g‘wesen sein“, brummte der Polier. „Ich glaub, wir müssen anrufen.“ Zu dem stumm dastehenden Bautrupp sagte er streng, mit einem sorgenvollen Blick auf den Toten: „Rührt nichts an, bleibt, wo ihr seid, ich hol Hilfe.“ Dann ging er zum Büro-Container und rief in der Zentrale an. Er kam aber nicht weiter als: „Der Chef ist vom Gerüst geflogen … Blede Urschel, hat aufg‘legt.“ Als wiederholtes Wählen derselben Nummer nur das Besetzzeichen brachte, versuchte er die zweite Nummer der Zentrale, die zum Bautechniker gehörte. Der Ingenieur hob aber nicht ab, war offenbar bereits auf einer anderen Baustelle. Unschlüssig, ob er selbst die Polizei rufen sollte, versuchte er noch einmal, die Sekretärin des Chefs zu erreichen. Die Nummer war zwar nicht mehr besetzt, es meldete sich aber niemand. „Wird heulen wie ein Schlosshund“, dachte er sich. Er tippte auf die Notrufnummer der Polizei, da hörte er ein Folgetonhorn, legte erleichtert das Telefon weg und lief auf die Straße, um dem Fahrer den Weg zu weisen.

Tatsächlich näherte sich rasch ein Notarztwagen und bremste abrupt an der Baustelle. Der Arzt und zwei Sanitäter mit einer Tragbahre stiegen aus. Der Polier wies ihnen den Weg in den Hof des Neubaus, wo der Baumeister lag, noch immer umgeben vom ratlos blickenden Bautrupp.

Nach einer kurzen Untersuchung sagte der Arzt erbost: „Was rufen Sie den Notarzt? Der Mann ist doch schon ein paar Stunden tot, der braucht keinen Arzt mehr.“

„Höchstens einen Pathologen“, sagte einer der Sanitäter und kicherte, während der andere ungerührt grinste, was ihnen einen tadelnden Blick des Arztes eintrug.

„Das war ich nicht, muss die Sekretärin gewesen sein“, antwortete der Polier betroffen. Es war ihm unangenehm, dass ihm vorgeworfen wurde, den schon lange eingetretenen Tod seines Chefs nicht erkannt zu haben.

„Ist vom Gerüst gefallen“, mischte sich einer der Maurer ein.

Der Notarzt blickte nur kurz zur unübersehbaren Lücke im Geländer des Gerüsts hinauf und wieder zum Toten, dann sagte er: „Das können Sie aber nicht gesehen haben, der liegt schon die halbe Nacht da. Holen Sie lieber die Polizei. Die muss feststellen, ob das ein Unfall oder mehr war.“

„Wieso mehr?“, fragte der Polier so aggressiv zurück, als wollte er damit feststellen, dass mehr auf seiner Baustelle einfach nicht passieren könnte.

„Ich bin Arzt und kein Hellseher. Sie brauchen die Kriminalpolizei“, antwortete der Notarzt und ging mit seinen Gehilfen zum Fahrzeug. Den eben eingetroffenen Funkstreifenbeamten rief er zu: „Der Tote liegt schon seit Stunden im Hof. Ich muss weiter, mich brauchen die Lebenden.“

Die Polizisten gingen in den Hof und einer fragte die Bauleute: „Wer hat hier das Sagen?“

„Ich“, antwortete der Polier.

„Verlassen Sie mit ihren Leuten den Hof, aber nicht die Baustelle. Die Kollegen von der Kriminalabteilung werden Sie befragen wollen. Wir müssen jetzt den Tatort absichern.“

„Wieso Tatort? Das war doch ein Unfall“, versuchte der Polier, zaghaft zu protestieren.

„Gehen Sie schon“, wurde ihm unwirsch geantwortet.

Die Bauleute trollten sich in den kleinen Aufenthaltsbereich im Büro-Container und vertrieben sich durch Rauchen und Zeitungslesen die Langeweile.

Fast gleichzeitig kamen die Kriminalpolizei und der von der Sekretärin alarmierte Bautechniker an. Die Funkstreifenbeamten wiesen die Kriminalisten ein, der Bautechniker wurde zu den Bauarbeitern in den Container geschickt. Der ältere der beiden Kriminalbeamten, ein Bezirksinspektor, kannte die Uniformierten gut und zeigte daher heiter auf seinen jungen Kollegen: „Der war noch vor Kurzem einer von euch, jetzt muss ich ihn bei der Kripo einarbeiten. Erst wenn der was kann, darf ich in Pension gehen. Hoffentlich lernt der schnell.“

„Wie lange noch, Herr Bezirksinspektor?“

„Zwei Jahre“, brummte der, dann sah er sich den Toten an, der noch immer so dalag, wie ihn der Polier gefunden hatte.

„Ist in der Nacht vom Gerüst gefallen“, sagte ein Polizist und deutete nach oben.

„Ganz oben fehlt das Geländer“, beeilte sich, der neue Kriminalist zu bemerken.

„Genau“, sagte der Bezirksinspektor. „Da gehen Sie jetzt hinauf und schauen, ob Sie Spuren finden. Machen ein paar Fotos von der Absturzstelle. Aber, junger Freund, fallen Sie mir nicht auch noch runter. Nehmen Sie sich einen Führer, einen der Maurer mit. Die kennen sich auf der Baustelle aus. Wo sind die eigentlich?“

„Die hab ich in den Büro-Container geschickt, damit sie hier keine Spuren verwischen. Dort stehen sie Ihnen zur Verfügung“, sagte ein uniformierter Polizist diensteifrig.

„Sollten wir nicht die Spurensicherung zum Tatort beordern?“, wagte der Assistent einzuwenden.

„Dazu müssten wir erst feststellen, dass es sich hier um einen Tatort handelt“, wurde er prompt im strengen Amtston belehrt. „Und machen Sie weiter, ich möchte hier keine Wurzeln schlagen.“ Etwas leiser brummte er: „Frühstück hab ich heut auch noch keins g‘habt.“ Dann gab er sich einen Ruck und rief dem jungen Kollegen nach: „Schicken Sie mir den Bautechniker her, bevor Sie raufsteigen!“

Als der Ingenieur aus dem Bürocontainer kam, wurde er gleich mit der Frage empfangen: „Geht Ihr Chef immer nachts auf die Baustellen? Da wär es ja kein Wunder, wenn er einmal abstürzt.“

„Nach Arbeitsschluss oder vor Arbeitsbeginn, wenn halt genügend Licht dafür vorhanden ist, macht er die Kontrollen.“

„Gestern war Sonntag. Da war doch kein Arbeitsschluss.“

„Ja und dann gibt es zumeist Ärger am Montag.“

„Wieso Ärger?“

„Der Baufortschritt ist ihm immer zu langsam.“

„Ist das normal in Ihrem Gewerbe?“

„Ohne Druck geht heute nichts mehr“, seufzte der Bautechniker. „Die Konkurrenz wird immer härter.“

„Hatte Ihr Chef Feinde?“, fragte der Bezirksinspektor überfallsartig.

„Nicht dass ich wüsste“, stotterte der Techniker.

„Wielange sind Sie schon in der Firma?“

„Fünf Jahre.“

„Dann kenn Sie sich schon ein wenig aus.“

„Ja.“

„Wie geht es jetzt mit der Firma weiter?“

„Die Schwester des Chefs hält die Hälfte der Geschäftsanteile. Sie wird jetzt das Sagen haben.“

„Versteht sie etwas vom Geschäft?“

„Vor ihrer Heirat mit einem Rechtsanwalt hat sie im Betrieb mitgearbeitet.“

Dann kam der junge Kriminalist mit dem Polier aus dem Rohbau.

„Spuren gefunden?“, fragte der Bezirksinspektor.

„Eigentlich nicht. Doch dort, wo das Geländer fehlt, ist eine Fensteröffnung. In den Raum dahinter liegen einige Bretter, damit könnte der Mann durch die Fensteröffnung vom Gerüst gestoßen worden sein. Hier“, er zeigte sein Handy, „sehen Sie die Bretter.“

„Die liegen doch sauber auf einem Stapel.“

„Sauber sind die Pfosten aber nicht“, wandte der Ingenieur ein, der auch neugierig das Handybild betrachtete. „Ein Stoß damit müsste eine Kalkspur am Gewand hinterlassen haben.“

„Sehen Sie eine Kalkspur am Gewand des Verunfallten Herr Kollege?“, fragte der Bezirksinspektor ironisch.

Der junge Beamte beugte sich über den Toten und sagte dann enttäuscht, er hatte die Ironie des Vorgesetzten nicht überhört: „Ich sehe nichts.“

„Na also. Außerdem liegen die Bretter nicht herum, sondern sind ordentlich aufgestapelt. Ein Täter hätte das Brett einfach fallen gelassen. Oder haben Sie alles so fürs Foto hergerichtet?“

„Natürlich nicht, Herr Bezirksinspektor!“

„Glauben Sie an einen ordnungsfanatischen Mörder?“

„Kaum“, sagte verlegen der Junge.

„Na dann, also Schluss. Ich geh jetzt endlich zum Frühstück. Sie nehmen noch die Aussagen der Bauarbeiter zu Protokoll, Herr Kollege, dann können sie auch einrücken.“

2

Missmutig warf Chefinspektor Kleinschmied die Autotür in der Garage des Landeskriminalamts zu. Wieder war ein freies Wochenende vorüber. Das heißt, frei war die Zeit ja nicht. Seine Frau hatte ihr Psychologenmeeting in ihrer Wohnung, seine Tochter lebte nach ihrer Scheidung zwar wieder bei den Eltern, besuchte dieses Wochenende aber einen Fortbildungskurs für leitende Pädagogen in Salzburg. Kleinschmied argwöhnte, dass ihr Salzburgtermin in direktem Zusammenhang mit den Aktivitäten ihrer Mutter stand. Der Gedanke an seine Tochter erfüllte ihn mit Stolz und zugleich mit Sorge. Sie war Schuldirektorin geworden und leider sehr streng Disziplin fordernd, nicht nur in der Schule, sondern auch zu ihrer Tochter Lydia und zu ihrem Vater. Die liebe Enkelin, mit der sich Kleinschmied gut verstand, machte ein Auslandssemester und war also auch nicht da. So war Kleinschmied der Einzige, der all die Psychologenspielchen mit guter Miene ertragen musste – es ließ sich beim besten Willen kein plausibler Grund für eine dienstliche Abwesenheit von zu Hause finden.

Montagmorgen mochte Kleinschmied nicht, nicht nur an diesem Tag, er litt unter Trennungsschmerz vom Sonntag, wie er einmal scherzhaft seinem Freund Zahnbrecher, dem Art für Allgemeinmedizin, klagte und fragte, ob es dagegen Medizin gäbe. Kleinschmied wurde heiter, seine schlechte Laune war verflogen, als er sich die Reaktion des anderen Freundes, Kotter, in Erinnerung rief. Der Apotheker Kotter meinte, dass ein wirksames Medikament gegen den Sonntagstrennungsschmerz ein bestimmtes Abführmittel sei. Nach der Einnahme von drei Pillen am Sonntagabend hätte man am frühen Montagmorgen und auch noch im Laufe des Vormittags keine Zeit für den Sonntagstrennungsschmerz. „Manchmal führen wir uns wie kleine Kinder auf“, dachte er sich, als er bei seiner Bürotür angekommen war.

„Guten Morgen, Schmidtchen!“, sagte Kleinschmied fröhlich und betrat sein Büro. „Wie war Ihr Wochenende?“

„Die Familie ist krank“, klagte Frau Schmidt.

„Grippe?“, fragte der Chefinspektor besorgt. Er fürchtete die Krankenstände seiner Büroassistentin, sie machten aus seinem gewohnten Dienstbetrieb ein völliges Durcheinander. Der Umgang mit dem Computer war nicht seine Sache, außerdem fand er dann Berichte seiner Mitarbeiter nie, weil sie entweder noch nicht geschrieben, oder falsch eingeordnet waren.

„Nein, keine Grippe. Sie spielen Fußball!“

„Ja richtig! Ihr Mann spielt den Trainer und Ihre Zwillinge laufen am Feld bei einem Lokalverein. Warum stört Sie das? Seien Sie froh, dass sich Ihre ‚Männer‘ sportlich betätigen. Sport soll ja gesund sein. Meine Frau hatte bei uns daheim ihren Psychologenzirkel und ich musste zwangsweise alles miterleben. Bei solcher Gelegenheit fühle ich immer, dass die praktische Psychologie ungesund ist.“

„Muss ich mehr sagen als: Wochenendturnier in Kärnten, Reisebus, Übernachtung in einem lauten, drittklassigen Hotel. Ich musste als Betreuerin einen Krankenstand ersetzen. Fußball auf der Fahrt, im Training, im Spiel, im Hotel und auf der Heimfahrt, war mir zu viel. Wenn sie wenigstens gewonnen hätten …“ Ihr Diensttelefon klingelte.

„Der Herr Oberst lässt Sie bitten, gleich zu ihm zu kommen, Herr Chefinspektor“, sagte Frau Schmidt, nachdem sie das Gespräch beendet hatte.

„Er lässt mich bitten?“, räsonierte Kleinschmied. „Was hat er?“

„Ich weiß es nicht. Mehr hat er nicht gesagt. Seine Stimme hat unglücklich geklungen.“

„Was! Er hat selbst angerufen? Nicht seine Sekretärin? Wissen Sie, ob die Sekretärin krank ist?“

„Sie ist nicht krank. Ich hab sie heute früh gesehen. Sie hat ein neues Auto und ist ein paar Mal korrigierend auf ihrem Stellplatz hin- und hergefahren.“

Kleinschmied lachte. „Dann krieg ich hoffentlich beim Oberst einen Kaffee, wenn sie mit dem Einparken fertig ist“, sagte er und ging zum Büro seines Vorgesetzten. Der Oberst war nur ein Jahr jünger als Kleinschmied. Sie kannten einander seit der Polizeischule.

„Othmar nimm Platz“, sagte der Oberst, als er Kleinschmied eintreten sah und deutete auf die Sitzgarnitur. Dann bestellte er bei seiner Vorzimmerdame Kaffee und setzte sich seufzend zu Kleinschmied, der sein Schmunzeln nicht unterdrücken konnte. Er sagte aber nichts, da er den Oberst schon lange genug kannte, um zu wissen, dass die folgenden Mitteilungen – oder was es auch immer sein würde – dem Oberst äußerst unangenehm waren.

„Was wir hier besprechen“, begann der Oberst zögerlich, nachdem sie ihren Kaffee bekommen und schweigend getrunken hatten, „muss unter uns bleiben, da es ziemlich heikel ist. Ich muss dich bitten, eine peinliche Anschuldigung diskret zu untersuchen.“

Kleinschmied wollte schon fragen: „Dienstlich?“ Als er aber den unglücklichen Gesichtsausdruck seines Vorgesetzten bemerkte, unterdrückte er die Frage.

„Du weißt, die Frau des verstorbenen Rechtsanwalts Doktor Fizhuber ist mit meiner Frau ins Gymnasium gegangen. Leider auch Frau Bernau.“

„Wieso leider? Die Frau Bernau magst du doch“, platzte Kleinschmied heraus.

Der Oberst stöhnte: „Frau Bernau behauptet, sie hätte den seit Wochen begrabenen Anwalt quietschlebendig in der Stadt gesehen.“

„Oh je!“, sagte Kleinschmied, „und jetzt unterstellt eine liebe Freundin deiner Frau einer andern lieben Freundin, ein Verbrechen begangen zu haben.“

„Genau. Und du weißt, meine Frau kann sich, sie ist doch Landespolitikerin, keinen Skandal in ihrem Freundeskreis leisten. Wie sie mir zusetzt, die Angelegenheit zu applanieren, kannst du dir nicht vorstellen.“

„Die Frau Bernau wird eine andere Person für den Rechtsanwalt gehalten haben. Da sind wir beide uns doch einig?“

„Ja, natürlich! Das hab ich ihr auch zu erklären versucht.“ Der Oberst wischte sich den Schweiß von der Stirn, sprang auf, öffnete das Fenster und saugte gierig die frische Luft ein.

„Kein Grund, aus dem Fenster zu springen. Vom ersten Stock aus muss es zwar nicht letal ausgehen, weh würde es trotzdem tun“, kam Kleinschmieds Reaktion auf die Handlung des Obersten reflexartig.

„Ich brauche Luft! Die Frau Bernau schafft mich. Sie ist nicht davon abzubringen, den Verstorbenen lebendig gesehen zu haben.“

„Ach! Du hast es schon versucht.“

„Ja, und in meiner Verzweiflung über ihre Sturheit und auf Drängen meiner Frau gesagt, du, mein bester Ermittler, dich um das Problem kümmern wirst.“

„Dir ist aber klar, dass ich Zeugen befragen und das Umfeld des Rechtsanwalts nach Anhaltspunkten untersuchen muss, Staatsanwaltschaft, andere Dienststellen und …“

„Niemand!“, rief der Oberst. „Du musst nur objektiv feststellen, dass sich Frau Bernau getäuscht hat und es ihr schonend beibringen. Deine Frau ist doch Psychologin. Du solltest sie um ihre Mithilfe bitten.“

„So eine Sauerei“, dachte sich Kleinschmied. Sein Wochenende war verdorben und die neue Woche begann noch blöder mit einem Auftrag, der kein Auftrag war, sich wie eine Lappalie aufführte und sicher unsichtbar die größten Probleme bereithält, wie ein Eisberg im Meer unter Wasser viel größer ist als oben. „Also der Reihe nach“, gab er sich dienstbeflissen und zückte sein Notizbuch. „Jetzt sagst du mir alles über die handelnden Personen.“

„Alles?“, versuchte der Oberst zu scherzen, nachdem er sich wieder gesetzt hat. „Auch das, was ich nicht weiß?“

„Alles. Die meisten Zeugen erzählen mir das, was sie nicht wissen, am ausführlichsten. Also erzähle! Ich muss mir ein Bild machen. Ohne Recherche geht nichts. Woran ist der Rechtsanwalt gestorben?“

„Herzinfarkt.“

„Zu Hause, im Büro, in einer Bar, bei einer Dame?“

Der Oberst wand sich hin und her. Schließlich fragte er: „Warum ist das denn wichtig?“

Kleinschmied lachte: „Bravo! Die Rolle als Zeuge liegt dir. Bist du mit dem Rechts … Nein, warst du mit dem Rechtsanwalt befreundet?“ Und als der Oberst nur stumm nickte: „Heraus mit der Sprache. Was stimmt nicht am Tod des Anwaltes?“

„Er war bei einer Freundin.“

„Und ist bei ihr vielleicht gestorben?“

„Ja.“

„Seine Frau war darüber sicher nicht begeistert.“

„Sie war nicht begeistert.“

„Und jetzt spukt der Geist des Rechtsanwaltes durch die Vorstellungswelt der Freundinnen deiner Frau.“ Kleinschmied konnte nur mühsam ernst bleiben.

„Musst du Konrads Tod nachfragen?“

„Ja. Hat seine Frau von seinen Seitensprüngen gewusst?“

„Wir waren Jagdkameraden …“, sagte der Oberst gedankenverloren.

„Verstehe. Du warst das Alibi.“

„Ja. Und justament an diesem vermaledeiten Tag konnte ich nichts für ihn tun, ich war mit dem Amtsleiter und anderen Polizeioffizieren bei einem internationalen Polizeitreffen.“

„Name und Adresse der Dame?“

„Purkersdorf.“

„Die heißt so?“

„Nein. Dort hat sie ein Haus. Sie ist eine Dame der Gesellschaft.“

„Gehört sie etwa auch zu den Freundinnen deiner Frau?“

„Nein! Die Freundinnen haben nur von ihrer Existenz gewusst.“

„Dann glaub ich nicht, dass sie nicht mehr wissen.“

„Ich hab keine Ahnung. Die Damenrunde plaudert zwar ausführlich, geizt mir gegenüber aber mit Tratschgeschichten. Sie akzeptiert eben, dass mich Tratsch nicht interessiert“, versuchte der Oberst, als Herr der Lage zu erscheinen.

Kleinschmied grinste vergnügt: „Aber einen Namen wird sie schon haben, die Dame der Gesellschaft.“

„Rosemarie Brauner.“

„Na bitte, geht ja. Die Adresse weißt du nicht?“

„Nein.“

„Wird mir die lokale Polizeidienststelle schon weiterhelfen können. Der Tod von Doktor Fizhuber wird genug Staub aufgewirbelt haben.“

„Ein Staub, den du nicht noch einmal aufrühren darfst!“, rief der Oberst erschrocken.

„Ohne Informationen, keine Arbeit“, sagte Kleinschmied streng und stand auf.

„Bleib!“, antwortete der Oberst versöhnlich und reichte ihm einen vorbereiteten Zettel mit Namen und Kontaktdaten der involvierten Personen. Neben Rosemarie Brauner und den Freundinnen seiner Frau stand noch der Name des Hausarztes des Verstorbenen. „Ich möchte aber, dass du alle Schritte im Vorhinein mit mir absprichst.“

Kleinschmied warf einen Blick auf den Zettel: „Warum auch der Hausarzt?“

„Der hat den Totenschein ausgestellt.“

„Totenschein? Keine Obduktion?“

„Doch. Frau Fizhuber wollte ja sichergehen, dass ihr Mann keinem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.“

„Wird kein Forensiker gemacht haben, ist aber jetzt noch nicht so wichtig“, brummte Kleinschmied. Und sagte schließlich: „Gut! Dann fang ich mit Franziska Bernau an, befrage vorsichtig Anna Fizhuber und wende mich dann Rosemarie Brauner zu. Sollte ich etwas Sinnvolles erfahren, oder Rat brauchen, komme ich zu dir.“

„Ja, so mach wir’s, Othmar“, sagte der Oberst zufrieden und in der Hoffnung, dass die leidige Affäre bald aus der Welt geschafft wäre.

„Du wirst ja deine Frau auf dem Laufenden halten wollen. Frag sie aber sicherheitshalber, sozusagen als Tauschgeschäft, ob sie nicht Hintergrundinformationen über die Rechtsanwaltsgeliebte hat, auch wenn sie nicht zu ihrem Kreis gehört. Frau Schmidt werde ich als Einzige meiner Leute ins Vertrauen ziehen. Du kannst also mit ihr kommunizieren, wenn ich nicht da bin. Und nun mach bitte mit den Frauen Bernau, Fizhuber und Brauner für mich Termine aus, du kennst sie ja gut. Ich kann nicht als Polizist antanzen und Fragen stellen, wenn ich keinen Ermittlungsauftrag habe.“

„Mit der Brauner auch?“, fragte der Oberst überrumpelt.

Mit den Worten: „Ich dachte, der Doktor Fizhuber war dein Freund“, verließ Kleinschmied den unglücklich schauenden Vorgesetzten.

Kaum war Kleinschmied in seinem Büro zurück und hatte Frau Schmidt über den neuen Auftrag unterrichtet, kam der Oberst zu ihm. „Othmar“, sagte er, „ich hab dir noch etwas nicht gesagt, weil es vermutlich nur Tratsch ist. Aber du wolltest ja auch das wissen, was ich nicht weiß.“

„Und was ist das, was du nicht weißt?“

„Ich glaube die Franziska, also die Frau Bernau, wollte seinerzeit unbedingt den Rechtsanwalt heiraten, als sie noch jünger war. Ganz dürfte sie das Vorhaben nie aufgegeben haben. Sie hat immer irgendwie seine Nähe gesucht.“

„Weißt du, was du da sagst?“, fragte Kleinschmied wie elektrisiert.

„Was meinst du? Wie kommst du dazu?“, stotterte der Oberst verstört.

„Das heißt, dass die Zeugin Bernau den verstorbenen Doktor Fizhuber zu genau gekannt hat, um sich zu täuschen. Es sei denn, sie ist schon ein bisschen gaga.“

„Nein!“, rief der Oberst fast panisch. Fasste sich schnell wieder und sagte ruhig: „Sie ist keineswegs gaga.“

„Na ausgezeichnet!“, sagte Kleinschmied, „Dann werde ich mich auf die Spur des Verbrechens setzen.“

3

Frau Franziska Bernau, die Zeugin, die den toten Rechtsanwalt lebendig gesehen haben wollte, empfing Kleinschmied sehr freundlich in ihrer geräumigen Wohnung im noblen 19. Wiener Bezirk. Sie schien auf Kleinschmied schon ungeduldig gewartet zu haben, so erleichtert, wie sie über seinen Besuch war. Auf dem Tischchen im feudalen Wohnzimmer stand bereits eine Kanne Kaffee und seine sensible Nase zeigte ihm neben dem Kaffeegeruch auch noch einen Kuchen an. Kuchen? Ein Gugelhupf aus Germteig, wie er ihn bei seiner Großmutter immer bekam.

„Frau Bernau“, begann Kleinschmied also nach einer Tasse Kaffee und zweier Stücke Kuchen, „ich bin ja nicht zum Kuchenessen hergekommen. Der Kuchen schmeckt mir übrigens ganz besonders. Nur bei meiner Großmutter, und die ist schon lange tot, hab ich so einen guten Gugelhupf bekommen. Sie haben einen Mann zu erkennen geglaubt, der schon ein-, zwei Wochen verstorben ist. Ist das richtig?“

„Ja. Ich hab geglaubt, mich trifft der Schlag. Da geh ich neulich aus dem Haus und sehe den Konrad, also den Doktor Fizhuber, mir entgegenkommen. Ich bin stehen geblieben und hab ihn angestarrt. Er ist aber grußlos an mir vorbeigegangen, obwohl wir uns seit gut dreißig Jahren kennen. Zuerst hab ich geglaubt, dass ich mich getäuscht hab und mich nur eine frappante Ähnlichkeit genarrt hat. Dann bin ich ihm nachgegangen und seh ihn in eine Trafik gehen, sodass ich Gelegenheit hatte, ihn durch die Auslagenscheibe des Geschäfts etwas genauer zu betrachten. Ich war mir sicher, dass es der Konrad war. Der charakteristische Kopf mit der hohen Stirn und den Geheimratswinkeln und die etwas untersetzte Statur haben zu ideal gepasst, als dass ich an eine Täuschung hätte denken können. Dabei war ich erst auf seinem Begräbnis.“ Frau Bernau wischte sich verstohlen über die Augen, was Kleinschmied natürlich nicht verborgen blieb.

„Wie stehen Sie zur Familie des Rechtsanwaltes Fizhuber, Frau Bernau?“, fragte er sofort. „Ich möchte ein bisschen Hintergrundinformationen haben, um mir ein Bild machen zu können.“

„Ich möchte nicht tratschen und vielleicht gar meine Freunde ausrichten, nur weil ich einem Schwindel oder nur einem Irrtum aufgesessen bin.“

„Tratschen Sie ruhig. Unser Gespräch ist solange nur informell, also unverbindlich, bis ich Anhaltspunkte für ein Verbrechen feststellen kann. Sie wissen ja, dass ich von der Kriminalpolizei bin.“

„Ja, das weiß ich. Also, Anna Fizhuber, die Frau Landtagsabgeordnete und ich sind schon seit der Volksschule Freundinnen.“

„Mit der Frau Landtagsabgeordneten ist Agnes Kupsky, die Frau meines Vorgesetzten gemeint?“

„Ja.“

Und weil die Zeugin wieder schwieg, fragte Kleinschmied: „Sie waren immer in Kontakt mit der Familie Fizhuber?“

„Ja. Daher glaube ich, dass ich den Konrad gut kenn und mir sicher bin, wenn es nicht so dumm wär, dass er es gewesen sein muss.“

„Die Frau Fizhuber weiß von Ihrer Begegnung?“, versuchte Kleinschmied, in seiner Vernehmung vorsichtig weiter zu kommen.

„Um Gottes willen, nein!“, rief Frau Bernau entsetzt. „Ich habe nur mit Agnes darüber gesprochen. Anna würde sofort annehmen, dass wir ihr eine Schwindelei oder noch etwas Böseres unterschieben möchten. Sie ist ohnedies empfindlich, wenn die Rede auf ihren verstorbenen Mann kommt. Und jetzt ist auch noch ihr Bruder bei einem Unfall ums Leben gekommen.“

„Das macht mir die Sache nicht einfacher. Zuerst noch eine technische Frage: Die Statur, die Bewegungen, vielleicht auch die Stimme sind doch spezifische Eigenheiten eines Menschen.“

„Er hat nicht mit mir gesprochen.“

„Ja, er ist grußlos an Ihnen vorbeigegangen. Doch jetzt geben Sie Acht. Wenn man jemand nicht sehen will, macht man bei einer unvermeidbaren Begegnung eine verhaltene, verschämte Mimik, die unschwer erkennen lässt, dass irgendetwas nicht stimmt. Da müsste ein großes Schauspielertalent in einem stecken, wenn man das verbergen könnte. Haben Sie wirklich nichts Derartiges bemerkt?“

„Nein.“

„Sicher nicht?“

„Nein, sicher nicht.“

Kleinschmied versuchte, die Zeugin herauszufordern: „Die Begegnung war geradezu unheimlich. Sie waren doch geschockt. Sind Sie sicher, dass Ihnen das aufgefallen wär?“

„Ja ich bin mir sicher.“

„Stimmte die Größe?“

„Er ist mir ein bisschen kleiner vorgekommen. Doch der Gang. Konrad hat ein wenig beim Gehen geschwankt, und vor allem seine Macke haben mich schließlich überzeugt.“

„Welche Macke?“, fragte Kleinschmied rasch, um Frau Bernau nicht wieder zweifeln und zögern zu lassen.

„Er hat ab und zu mit der Zunge geschnalzt. Beim Spazierengehen, aber auch beim Schach spielen, Zeitung lesen und sogar vor dem Fernsehapparat. Anna hat diese Macke sehr gestört, sie hat sich darüber bei uns häufig beschwert.“

„Als der Mann an Ihnen vorbeigegangen ist.“

„Grußlos.“

„Grußlos an Ihnen vorbeigegangen ist, hat er da mit der Zunge geschnalzt?“

„Ja, hat er. Ich hab mich richtig gefoppt gefühlt.“

Kleinschmied betrachtete die Zeugin kritisch, er konnte sich nicht entscheiden, ob er ihr Verhalten als gekränkt oder trauernd einschätzen sollte. So beschloss er, direkt zu fragen: „Entschuldigen Sie die direkte Frage, Sie waren nicht einmal emotional an Doktor Fizhuber gebunden?“

„Ja und nein.“

Kleinschmied lächelte gütig, um ihr Vertrauen zu wecken: „Wie soll ich das verstehen?“

„Als wir beide noch jung waren, Konrad und ich, konnte ich mir gut vorstellen, seine Frau zu werden. Wie hab ich mir das schön ausgedacht. Zumal ich Grund hatte zu glauben, dass auch er sich eine Verbindung mit mir gewünscht hat. Ich war so naiv, dass ich nicht bemerkt habe, wie er gleichzeitig Anna umworben hat. Natürlich sie stammte aus einem reichen Haus, der Vater war ein großer Bauunternehmer. Meine Eltern waren einfache Angestellte. Die ganze Familie, ich habe noch eine Schwester, hat in einer Mietwohnung gewohnt. Wir Geschwister mussten uns ein Zimmer teilen. Bei mir war also kein reiches Erbe zu erhoffen. Die Fizhuber hatten den Reichtum ja auch nicht erfunden, Konrad musste sich das Studium durch Arbeit finanzieren.“

„Verstehe, da hat der mittellose Student doch lieber die reiche Erbin geheiratet. Und Sie waren dem Konrad Fizhuber nicht böse?“

„Böse? Am Anfang war ich eingeschnappt. Doch als ich bemerkt hatte, dass der Konrad die Treue nicht halten konnte und da und dort eine Liebschaft angefangen hat, war ich ganz froh darüber, dass er mich nicht geheiratet hat.“ Kleinschmied wollte schon weiter fragen, da ergänzte sie: „Und für eine bloße Liebschaft war ich nicht zu haben.“

„Wie kommt es dann, dass Sie und Frau Fizhuber Freundinnen sind? Und vor allem noch immer, nach der Erfahrung mit Konrad Fizhuber?“

„Wir kennen uns schon aus unserer Gymnasialzeit. Anna, die Frau Fizhuber, ist um zwei Jahre älter als Agnes, Konrad und ich. Agnes und ich sind ab der Oberstufe in dieselbe Klasse gegangen und der Konrad in die Parallelklasse. Ottokar, er ist gleich alt wie Konrad, hat die Höhere Technische Lehranstalt absolviert und ist Bauingenieur geworden.“

„Entschuldigung. Wer ist Ottokar?“, unterbrach Kleinschmied.

„Der verunglückte jüngere Bruder von Anna, der Baumeister Ottokar Formann, mit dem sie das vom Vater geerbte Unternehmen führt.“