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Haupttitel

Verlag Voland & Quist GmbH, Dresden und Leipzig, 2016

© by Verlag Voland & Quist GmbH

Lektorat: Micha Ebeling

Korrektorat: Annegret Schenkel

Umschlaggestaltung: HawaiiF3

Satz: Fred Uhde

E-Book: eScriptum, Berlin

ISBN: 978-3-86391-165-2

www.voland-quist.de

Volker Strübing ist Slammer, Lesebühnenautor, Filmemacher, dreimaliger Sieger der deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaften, Erfinder von Kloß und Spinne und eigentlich ganz nett. Geboren wurde er 1971 in Thüringen. Er ist gelernter Facharbeiter für Datenverarbeitung und studierte nichts (das aber lange und in verschiedenen Fachrichtungen). Er wäscht gerne ab, hasst Staubsaugen und hat noch viel vor. 2028 erscheint sein bisher bester Roman Das Eichhörnchen, das mit einem Kandelaber auf der Nase den Ärmelkanal durchschwamm und die Welt rettete, mit dem er weltweit die Bestsellerlisten stürmt. Zuletzt erschienen: Das Mädchen mit dem Rohr im Ohr und der Junge mit dem Löffel im Hals (Voland & Quist).

Inhalt

  1. Tach allerseits!
  2. Computer
  3. Fleisch
  4. Liebe
  5. Eisbären
  6. Dummheit
  7. Freude
  8. Information
  9. Fehler
  10. Märchen
  11. Arbeit
  12. Träume
  13. Freiheit
  14. Fußball
  15. Geld
  16. Witze
  17. Oliven
  18. Nachwort

Tach allerseits!

Das Leben ist wie ein Glas Bier. Für die einen halb voll, für die anderen halb leer. Und manchmal eben auch einfach ganz leer oder ganz voll. Oder vielleicht gar kein Glas Bier, sondern ein Glas Brause.

Wenn das Leben wie ein Glas Bier ist, dann ist eine Kneipe wie das Universum, und wir können alle Geheimnisse des Lebens ergründen, indem wir uns an die Bar setzen und beobachten. Stephen Hawking hat einen Bestseller mit dem Titel Das Universum in der Nussschale geschrieben. Hier nun also: Das Universum in der Eckkneipe.

Die Kneipe, von der wir hier erzählen, befindet sich irgendwo in Ostberlin. Gegenüber ihren Paralleluniversen in Westberlin, München oder Eisenhüttenstadt hat sie einen entscheidenden Vorteil: Sie ist gleich bei mir um die Ecke.

Den Namen der Kneipe möchte ich nicht verraten, nennen wir sie »Schrödingers«, denn solange man nicht hineinschaut, weiß man nie, ob die Katze auf der Fensterbank noch lebt oder schon tot ist. Man könnte also sagen, dass die Kneipenkatze gleichzeitig lebendig und tot ist, und würde damit eindrucksvoll beweisen, dass man keine Ahnung von Quantenmechanik hat.

Wenn man sich die Mühe macht, hineinzuschauen (www.klossundspinne.de) wird man jedenfalls erleichtert feststellen, dass die Katze noch lebt.

Außer der Katze haben es sich noch ein paar Stammgäste bequem gemacht: An seinem Platz direkt am Zapfhahn, dort, wo das nächste Bier nie weit entfernt ist, sitzt Kloß. Kloß würde das Leben niemals mit so erfreulichen Analogien wie Biergläsern oder Pralinenkästen beschreiben, denn Kloß hat schlechte Laune. Immer. Kloß ist die Mutter aller Miesepeter und das uneheliche Kind von Bernd dem Brot und Marvin dem Roboter. So wie Licht für jeden Beobachter stets dieselbe Geschwindigkeit hat, hat Kloß für jeden Beobachter unabhängig von dessen eigener Stimmung stets die schlechteste Laune im ganzen Universum, sprich der ganzen Kneipe.

Sein Kumpel Spinne ist das genaue Gegenteil: Nichts tut seiner Lebensfreude Abbruch, kein Thema ist so deprimierend, dass er ihm nicht auch etwas Positives abgewinnen könnte, und selbst wenn all seine Versuche, in seiner Stammkneipe ein schönes Glas Brause zu bekommen, am archaischen Kneiperstolz des Wirtes scheitern, kann das nichts an seiner guten Laune ändern. Man kann auch ohne Brause glücklich sein!

Auf dem Platz an der Wand hockt manchmal Wird-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen-Dirk und sagt unvermittelt »Hitler«. Ganz selten verirrt sich sogar ein gänzlich Fremder in die Kneipe; meist ein junger Mann mit Bart, der aber in der Regel nur mal schnell aufs Klo will, weil er woanders so viel Kaffee oder Beck’s to go getrunken hat. Und schließlich ist da noch Horst: ein rosa bepulloverter Geist, ein bebrillter blinder Fleck, eine kleine verschüchterte Bewegung im Augenwinkel. Man muss schon sehr genau hinschauen, um ihn überhaupt zu bemerken. So genau schaut aber niemand hin. Horst ist tatsächlich wie Schrödingers Katze, nur eben leider keine Katze, sondern ein derart langweiliger und eigenschaftsloser Mensch, dass sich auf Teufel komm raus niemand findet, der sich die Mühe machen würde, seinen zwischen Existenz und Nichtexistenz oszillierenden Zustand durch Beobachtung festzulegen. Germanistikstudenten späterer Generationen werden kluge Arbeiten schreiben, in denen sie Horst mit dem Autor dieser Zeilen gleichzusetzen versuchen. Totaler Quatsch, aber immer noch besser, als wenn sie Marketing studieren würden.

In jeder Galaxie und jeder Kneipe dreht sich alles um das Zentrum beziehungsweise den Wirt. Im Falle der Milchstraße handelt es sich um ein gigantisches Schwarzes Loch von 4,3 Millionen Sonnenmassen, im Falle der Kneipe handelt es sich um Norbert, der auch ein bisschen Übergewicht hat. Ein ärmelloses Unterhemd bringt seinen Bierbauch bestens zur Geltung. Wenn ihn nicht gerade ein Gast stört, verbringt Norbert seinen Arbeitstag in stummer Meditation, wobei er oft zu Einsichten von erhabener Weisheit gelangt, an denen Sie, liebe Leserinnen und Leser, auf den folgenden Seiten teilhaben können.

Viel Spaß beim Lesen. Um mit den Helden dieses Buches zu sprechen: »Hihi, das ist lustig!« – »Isses nich.«

Computer

»Tach allerseits!« Spinne platzt in die traurige kleine Kneipe wie ein Junggesellenabschied in eine Trauerfeier.

»Tach Spinne«, murmelt Kloß in sein Bierglas.

»Tach«, schnauzt Norbert, der Wirt.

»Hitler«, sagt Wird-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen-Dirk.

»Norbert, machste mir ’ne Brause?«, fragt Spinne, obwohl er die Antwort schon ahnt.

»Brause hamwer nich. Schnaps kannste haben«, brummt Norbert.

»Ach nee, dann erstmal nüscht«, sagt Spinne und setzt sich fröhlich auf einen der zahlreichen freien Barhocker. »Na Kloß, wie geht’s?«

»Scheiße geht’s.«

»Ach du grüne Neune, was ist denn los?«

»Mein Computer ist kaputtgegangen. Mitten im Spiel.«

Spinne nickt. »Ach, darum sitzt du schon so früh hier an der Bar!« Dann klopft er seinem Kumpel auf die Schulter. »Na, Mensch, ist doch super, dass der Computer kaputt ist!«

Kloß hebt das erste Mal den Blick vom Bier und schaut Spinne ehrlich überrascht an. »Wieso denn das?«

»Na Mensch, da haste mal wieder Zeit für andere Sachen«, sagt Spinne. »Bist doch voll versauert vor dem Ding!«

»Na und? Jetzt versauer ich eben vor dem kaputten Computer. Oder hier. Soll’ n daran besser sein?«

»Du musst ja nich versauern! Du kannst die Zeit ja für was anderes nutzen!«

»Was anderes?«

»Ja!«, ruft Spinne. »Hobbys und so.«

»Mein Hobby ist versauern«, sagt Kloß und versenkt den Blick wieder im Bierglas.

»Früher haste doch so gerne … hm … irgendwas hast du doch bestimmt mal gerne gemacht?!«

»Am Computer gesessen?«

»Nein, noch früher, als du noch gar keinen Computer hattest. Anfang der 90er …«

»Hm. Kann mich nicht erinnern. War aber scheiße.«

»Na, vielleicht ist ja der kaputte Computer die Chance, rauszufinden, was dir sonst noch so Spaß macht. Mensch Kloß, geh ein bisschen raus, triff dich mit Freunden …«

»Freunde? Ist das sowas wie bei Facebook? Die mich zu Farmville einladen und ›nachdenkliche Sprüche‹ teilen und finden, dass ich hässlicher bin als eine zwei Tage alte Schrippe?«

Spinne zieht die Augenbrauen hoch. »Was, wieso das denn?«

»Naja«, sagt Kloß. »Das war so ein Experiment, das ich mir ausgedacht habe. Ich habe das Foto von ’ner ollen Schrippe als neues Profilbild hochgeladen, und alle haben ›Gefällt mir‹ gedrückt. Das kann doch nur heißen, dass sie froh waren, statt meinem Gesicht die olle Schrippe zu sehen.«

»Hm, wahrscheinlich hat die Schrippe einfach freundlicher geguckt als du. Jedenfalls meinte ich echte Freunde. Real Life und so.«

»In 3D und zum Anfassen?«, fragt Kloß.

»Genau.«

»Mit Körpergeruch und Pickeln und Bierbauchansätzen und sich langsam lichtenden Haaren? Die man im Krankenhaus besuchen muss, wenn sie kaputtgehen? Die dich anrufen, damit du ihnen am Sonnabendvormittag beim Umzug hilfst?« Während Kloß aufzählt, rollt Spinne mit den Augen und ahmt mit der rechten Hand einen schnatternden Entenschnabel nach. »Genau!«, entgegnet er, als Kloß seine Litanei beendet. »Die dir am Sonnabendvormittag beim Umzug helfen und dich im Krankenhaus besuchen, wenn du kaputtgegangen bist. Die dich aufmuntern, wenn’s dir scheiße geht.«

»Die einem mit ihrer guten Laune auf die Nerven gehen, meinst du … Hab ich dir mal erzählt, dass ich nach einer Stunde mit dir zwei Stunden Killerspiele spielen muss, um meine Aggressionen loszuwerden?!«

»Na, das wird ja nun nichts, wo doch dein Computer kaputt ist!«, sagt Kloß und verschränkt fröhlich die Arme.

Hinter seiner Bar erwacht Norbert. »Also, wenn ihr mich fragt …«, sagt er.

»Also, wenn ihr mich fragt«, sagt er noch einmal, »is dis alles bloß Flucht.«

»Genau«, ruft Spinne. »Flucht vor der Realität!«

»Nee«, brummt Norbert. »In die Realität.«

»Was?«

»Ja, so Leute, die sich wieder ’n olles Nokia aus der Vorkriegszeit zulegen, weil der Akku so lange hält, oder die bei Facebook posten, dass sie jetzt drei Tage auf Facebook verzichten wollen – und erst recht die Nasen, die das dann liken! –, und natürlich ganz besonders die Typen, denen der Computer kaputtjeht, und dann rennense überall rum und heulen, dass ihnen der Computer kaputtjegangen is und lassen sich bemitleiden, dabei sindse eigentlich froh drüber, sonst würdense sich nämlich ’n neuen kaufen, statt in die Kneipe zu rennen – naja, mir soll’s recht sein! Dis sind doch alles Leute, die mit Computern und Internet und den ganzen Anforderungen der sozialen Netzwerke nich mehr klarkommen. Und dann versuchense in der analogen Welt die Sorgen und den Stress ihrer digitalen Existenz zu vergessen. Flucht, nüscht weiter. Würd mich nich wundern, wenn Kloß ›ganz aus Versehen‹ eine Tasse Kaffee über seinen Computer jekippt hat, weil’s ihn so deprimiert, dass jeder Zehnjährige besser killerspielt als er.«

»Hast du?«, fragt Spinne.

Kloß verwahrt sich gegen diese Unterstellung: »Es war Tee, Kaffee wär zu schade.« Er zuckt die Schultern. »Es ist aber auch zum Verzweifeln. Die Kids von heute sind einfach zu gut, da kannste nich mehr mithalten. Die haben einen schneller zerlegt, als man ›Ich hab schon Egoshooter gespielt, da sind deine Eltern noch mit’m Luftballon um die Russenkolonne rumgerannt‹ sagen kann.«

»Hihi. Du bist lustig«, sagt Spinne.

»Bin ich nicht.« Kloß trinkt den letzten Schluck seines Bieres. »Norbert, machste mir noch eins?«

»Na logen«, sagt Norbert. »Wisst ihr, ick kann ja voll verstehen, dass dis alles manchen Leuten zu viel wird mit den Computern und dem Internet und allem. Nimm nur mal mich: nüscht als Stress. So’n virtuelles Dominastudio betreibt sich eben ooch nich von allein.«

»Was?«, fragen Kloß und Spinne und gucken sich an.

»Ja, denkt ihr, ick verdien mit der Kneipe jenuch? Kaum Gäste und von denen bestellt dann ooch noch die Hälfte Brause!«

Spinne schüttelt den Kopf. »Hihi! Nee. Aber erzähl mal: Hüpfste da mit Lederschlüpfer und Peitsche vor der Webcam rum oder was?«

»Quatsch! Deine Phantasie möcht ich haben. Oder nee, lieber nich. Is jedenfalls alles janz seriös. Und textbasiert. Und offiziell isses es auch keen Dominastudio, sondern Psycho-Coaching für Leute mit Minderwertigkeitskomplexen.«

»Oh mein Gott«, sagt Kloß.

»Psycho-Coaching? Bist du denn dafür qualifiziert?«, fragt Spinne.

»Ich bin Wirt«, bejaht Norbert. »Und so schwer isses ooch nicht. Die Kunden dürfen gegen eine geringe Gebühr all ihre Selbstzweifel in die Eingabemaske tippen und bekommen dann von mir die Nachricht, dass sie vollkommen recht haben und alle ihre Zweifel begründet sind.«

»Oh mein Gott«, sagt Kloß.

»Hihi, du bist ja ein Arsch!«, sagt Spinne.

»Aber hallo!«, sagt Norbert. »Und die Kunden sind sehr zufrieden. Die meisten kommen immer wieder auf die Seite. Endlich gibt ihnen mal jemand recht, dis hat oft ’ne heilsame Wirkung. Kein ›So hässlich biste doch gar nich‹. Und außerdem jibt’s da doch ooch so’n Sprichwort: Nur weil du Minderwertigkeitskomplexe hast, heißt dis noch lange nich, dass du nich minderwertig bist! Da isses doch besser, offen damit umzugehen.«

»Also bei mir hat’s nicht geholfen«, sagt Kloß.

Norbert starrt ihn an. »Oh krass, du warst Kunde? Ähm, naja, die nächste Beratung is natürlich kostenlos.«

Spinne kichert. »Hihi, kostenkloß.«

»Was?«, sagen Kloß und Norbert.

»Ach nüscht.«

»Na dann is ja jut. Jedenfalls steig ich aus dem Jeschäft sowieso bald aus. Hab da was viel Einträglicheres am Start. Komplett auf Spendenbasis. Ein Online-Mausoleum für echte und virtuelle Haustiere: ›Das Leben ist ein Pony-Friedhof.‹ Läuft super.«

Spinne guckt ihn mit großen Augen an. »Du bist das?«

»Oh krass, haste etwa was gespendet?«

»50 Euro! Ich fand die Idee irgendwie so süß!«

»Oh Mann. Naja, tut mir leid. Ähm. Pass uff, ick hab doch ooch noch so’n Onlineshop, da kriegste ’n Gutschein für.«

»Cool. Was verkaufste denn da?«

»Ach, so dies und das für Verschwörungstheorie und -praxis. Am besten geh’n die Anti-Chemtrail-Zäpfchen.«

»Anti-Chemtrail-Zäpfchen?«

»Ja. Also eigentlich sind’s nur Himbeerbonbons, ihr wisst schon, die mit der rauen Oberfläche, wo man sich immer den ganzen Gaumen uffschuppert. Aber naja, die Kunden sollen sie sich ja ooch nich in den Mund stecken …«

»Verstehe«, sagt Spinne. »Aber naja, lass mal gut sein mit dem Gutschein.«

»Na jut, dann geb ich dir ’n Drink aus, okay?!«

»Ah, super, das find ich nett von dir, machste mir …«

»Vergiss es.«

Fleisch