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Über das Buch

»Sie streckte eine zitternde Hand aus. Der Kristall fühltesich seltsam an, nicht kalt und glatt, wie sie es erwartet hätte, sondern warm und beinahe lebendig. Sein Pulsieren änderte den Rhythmus und war jetzt langsamer.

Dann begriff sie es: Das rote Licht flackerte im Takt ihres Herzschlags.«

Tief in den Eingeweiden eines Berges stoßen Laurin und Didi auf eine geheimnisvolle Höhlenlandschaft mit zwergenhaften Gestalten, einer verborgenen Stadt und leuchtenden, magischen Steinen. Es ist eine faszinierende Welt, eigentümlich und anziehend, die unerwartete Kräfte und Wünsche in ihnen weckt. Sie ahnen nicht, welchen Gefahren sie sich damit aussetzen und wie wenig ihre Ankunft erwünscht ist.

Das neue Meisterwerk vom

»King of Fantasy«

»Also ich finde, du bist eindeutig zu groß«, führte Didi den Gedanken zu Ende, den er vor seinem letzten Bissen begonnen hatte. Dabei hatte er bestimmt eine Minute auf seinem Hühnchen herumgekaut, als wäre es eine alte Schuhsohle.

Wenn Laurin ehrlich war, schmeckte es auch ungefähr so.

»Hm?«, machte sie lahm, riss ihren Blick von seinem dümmlichen Erstklässler-Grinsen los und musste die Augen zusammenkneifen, als sie aus dem Fenster und in das ungefilterte Licht einer Augustsonne blickte, die sich offenbar fest vorgenommen hatte, die ganze Welt in Grund und Boden zu brennen.

Man hätte auch sagen können: Es war unerträglich heiß. Draußen flimmerte die Luft über dem Hof und senkte sich so schwer wie geschmolzenes Blei auf die Haut. Wenn es an diesem altehrwürdigen Kloster etwas gab, das sie noch mehr vermisste als einen Swimmingpool und Menschen, die nicht als Pinguine verkleidet und mit einem bescheuerten Dauergrinsen im Gesicht herumliefen, dann war es eine Klimaanlage.

Und natürlich Tablets.

Und Fernsehen.

Facebook, nicht zu vergessen.

Und das iPhone, das sie sich ein halbes Jahr lang praktisch vom Mund abgespart hatte und das jetzt zu Hause in Einzelhaft in ihrem Spind auf ihre Rückkehr wartete.

Ja, es war ein wirklich traum-haf-ter Urlaub.

»Dein Name«, plapperte Didi fröhlich weiter. »Du bist eindeutig zu groß für eine Laurine.«

Michael, der neben ihm saß, kicherte und bewahrte Didi auf diese Weise zumindest davor, zum alleinigen Ziel des Ärgers zu werden, der allmählich in Laurin erwachte.

Sie fragte sich, warum überhaupt. Sie hatte Didi und seinen idiotischen Freund schon in der ersten Sekunde als ausgemachte Hirnis eingestuft, und an diesem Urteil hatte sich bis heute nichts geändert. In weiteren vier Tagen war er wieder aus ihrem Leben verschwunden, und zehn Minuten später vergessen. Es lohnte sich nicht, sich auch nur über ihn zu ärgern.

Sie tat es trotzdem.

»Es heißt Laurin, nicht Laurine«, antwortete sie. »Und einen Laurin, nicht eine.«

»Echt?« Didi legte angestrengt die Stirn in Falten und sah prompt noch ein bisschen bescheuerter aus. Eigentlich war das schade, denn er war im Grunde ein gut aussehender Junge. Groß für seine knapp vierzehn Jahre und von athletischem Wuchs, mit strahlend blauen Augen, der nachtfarbenen Haut und dem leicht gelockten, beinahe blauschwarzem Haar, das er gegen jeden herrschenden Trend fast schulterlang trug, hätte sie sich ihn in ein paar Jahren gut auf dem Cover eines Hochglanz-Modemagazins vorstellen können. Aber so weit würde es niemals kommen, denn er war zwar ein gut aussehender, trotzdem aber ein Depp.

Wenn auch ein verdammt gut aussehender. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen so gut aussehenden Jungen getroffen zu haben.

Aber sie hatte auch noch nie von einem gehört, der Didi hieß.

»Du meinst, deine Eltern haben dir einen Jungennamen gegeben?«

Laurin schluckte die Antwort herunter, die ihr dazu auf der Zunge lag; etwas in der Art: Na, deine dir ja offenbar auch nicht. Wie sehr sie dieses Gespräch hasste, das sie schon eine Million Mal geführt hatte!

»Laurin ist nicht unbedingt nur ein Jungenname«, belehrte sie ihn, vielleicht nicht ganz korrekt, aber in dafür umso überzeugterem Ton, auf den er ganz bestimmt hereinfallen würde. »Es ist der Name eines mythologischen Zwergenkönigs.«

»Mythologisch?«, fragte Michael. »Wo liegt das denn?«

Laurin verdrehte lautlos die Augen.

»Also doch ein Jungenname«, sagte Didi triumphierend. »Wenn er ihr König war!«

»Vielleicht hatten sie ja auch eine Königin«, antwortete Laurin. »Wo steht denn geschrieben, dass alle Zwerge männlich gewesen sind?«

Sie bedachte Michael, der fast einen Kopf kleiner war als sie, dabei mit einen beredten Blick, den er allerdings ignorierte.

Mit einem schmutzigen Grinsen krähte er: »Eben! Irgendwie müssen sie sich schließlich fortgepflanzt haben!«

»Egal ob König oder Königin«, plapperte Didi weiter, »wie sind deine Eltern auf die Idee gekommen, die einen so be… sonderen Namen zu geben?«

Er hatte eigentlich ein anderes Wort benutzen wollen, das spürte sie deutlich. »Ich werde sie fragen«, sagte sie spröde und stand mit einem Ruck auf. »Sobald ich herausgefunden habe, wer sie waren.«

Didi wirkte plötzlich betroffen, und er sagte auch irgendetwas, doch Laurin hörte gar nicht mehr hin, sondern fuhr auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Speisesaal. Ohne innezuhalten, eilte sie hinaus und über den Hof und ins Halbdunkel des Säulengangs auf der anderen Seite, an dessen Ende ihr Zimmer lag.

Missmutig stapfte sie zu der brettharten Pritsche, von der einer der Pinguine hier in einem Anfall von Größenwahn behauptet hatte, es wäre ein Bett, lehnte sich mit angezogenen Knien gegen die weiß getünchte Wand dahinter und beschäftigte sich für eine ganze Weile damit, sich selbst leidzutun.

Das war eigentlich gar nicht ihre Art … aber vor einer Woche hätte sie sich auch nicht träumen lassen, die kostbarsten Tage des Jahres freiwillig in einem Kloster zu verbringen, das vor fünfhundert Jahren wahrscheinlich schon als unbequem, spartanisch und bestenfalls öde durchgegangen wäre.

Es begann mit diesem Zimmer, das seinen Namen ebenso wenig verdiente wie das Bett, auf dem sie saß. Seit sie hier war, wusste sie immerhin, warum man die Unterkünfte von Nonnen und Mönchen Zellen nannte, und nicht Zimmer. Sie waren es. Laurin hätte ohne zu zögern mit einer richtigen Gefängniszelle getauscht. Welcher Teufel hatte sie eigentlich geritten, es für eine gute Idee zu halten, die Sommerferien in einem Kloster zu verbringen?

Nicht, dass sie die Wahl gehabt hätte …

Es klopfte, und die Tür ging auf, noch bevor sie »Herein« sagen konnte. Einer der weiblichen Pinguine trat ein. Prompt meldete sich Laurins schlechtes Gewissen wegen dem, was sie gerade gedacht hatte. Soweit sie das nach zwei Tagen sagen konnte, war Schwester Rosie wirklich nett und alles andere als eine Fanatikerin. Laurin schätzte sie auf allerhöchstens fünfundzwanzig.

»Ich wollte nur nachsehen, ob alles in Ordnung ist«, begann Rosie lächelnd. »Du bist so schnell hinausgerannt.«

»Ich bin nicht gerannt«, behauptete Laurin unfreundlicher, als sie es eigentlich wollte. »Und was soll nicht in Ordnung sein?«

»Du bist nur sehr schnell hinausgegangen, ich verstehe«, sagte Rosie. »Hat dich dieser Junge geärgert?«

»Didi?« Laurin schüttelte heftig genug den Kopf, um sich beinahe selbst zu überzeugen. »Ein Depp wie der kann mich gar nicht ärgern.«

»Das ist genau die richtige Einstellung«, sagte Rosie, während sie näher kam und sich neben Laurin auf die Bettkante setzte. Das baufällige Möbel knarrte, als würde es gleich zusammenbrechen. »Es ist nicht so, als hätte ich gelauscht, aber ich habe gleich am Nebentisch gesessen und ihr wart laut genug.«

»Sie haben uns gehört?«, fragte Laurin.

»Ich saß am Nebentisch, gleich hinter euch«, antwortete Rosie. »Und du.«

»Du?«

»Rosie«, bestätigte die Ordensschwester. »So viel älter als du bin ich nun auch wieder nicht, also ist es albern. Und wir duzen uns hier sowieso alle. Oder bestehst du darauf, dass ich ab sofort Fräulein Laurin zu Ihnen sage?«

Laurin musste gegen ihren Willen lächeln, und genau das hatte Rosie natürlich beabsichtigt. Sie bedauerte es fast ein bisschen, Schwester Rosinante wohl nie besser kennenzulernen. Sie konnte sich vorstellen, dass sie gute Freundinnen gewesen wären. Hätte sie nur nicht dieses Pinguinkostüm getragen.

»Du hast übrigens wirklich einen ganz außergewöhnlichen Name«, fuhr Rosie fort.

Laurin zog eine Grimasse. »Ja, der Meinung war Spatzenhirn Didi auch.«

Rosie konnte ein amüsiertes Funkeln nicht mehr aus ihren Augen verdrängen. »Ich glaube, er weiß ganz genau, was dein Name bedeutet und welche Geschichte dahintersteckt«, sagte sie, »sonst hätte er das nicht gesagt. Er wollte dich nur hochnehmen. Möchtest du, dass ich mit ihm rede?«

»Das lohnt nicht«, antwortete Laurin. »In einer Woche bin ich hier weg und sehe ihn nie wieder.«

»Es hat ihm leidgetan. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als du hinausge…gangen bist. Ich würde mich nicht wundern, wenn er sich bei dir entschuldigt. Bestimmt hat er es nicht böse gemeint.«

Als ob es sie interessierte, wie Didi und sein dusseliger Freund irgendetwas meinten, oder …

Moment mal – dachte sie gerade schon wieder über diesen Blödmann nach?

Rosie räusperte sich plötzlich unecht und stand auf. »Entschuldige. Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Eigentlich bin ich auch nur gekommen, um dich an den Ausflug zu erinnern. Wofür hast du dich eingetragen? Die Brauerei oder das Bergwerk?«

Wenn Laurin ehrlich war, interessierte sie weder eine pleitegegangene Bierbrauerei noch ein Bergwerk, das schon vor einem halben Menschenalter aufgegeben worden war. Aber alles war besser, als einen weiteren Nachmittag herumzusitzen und Löcher in die Luft zu starren.

Hatte sie schon erwähnt, dass es eine schlechte Idee gewesen war, Urlaub in einem Kloster zu machen?

»Bergwerk«, sagte sie einsilbig.

»Eine gute Wahl«, lobte Rosie. »Der Rosengarten ist fantastisch.«

»Rosengarten? Ich dachte, wir besichtigen ein Bergwerk?«

Rosie drohte ihr spielerisch mit dem Zeigefinger. »Jetzt nehmt Ihr mich auf den Arm, Majestät«, sagte sie. »Ihr wollt mir nicht weismachen, dass Ihr hierher nach Tirol kommt und nicht einmal wisst, wie der Berg heißt, in dem sich Euer Königreich befindet?«

»Nein«, antwortete Laurin. »Ich meine: Ja, genau das will ich sagen. Der Rosengarten ist ein Berg?«

Rosies spöttisches Lächeln machte einem Ausdruck von Verwunderung Platz. »Ja«, sagte sie. »Die Rosengartenspitze, um genau zu sein. Wenn du aus dem Tor gehst, siehst du direkt zu ihr hoch. Die Leute haben dort oben schon vor Tausenden von Jahren nach wertvollem Erz gegraben. Aber das wird euch euer Führer bestimmt viel besser erklären, als ich es könnte. Immerhin dauert die Fahrt eine gute Stunde.«

»Eine Stunde?«, stöhnte Laurin. »Hat der Bus wenigstens eine Klimaanlage?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Rosie. »Hast du dich denn gar nicht vorbereitet, wenn du schon deine Ferien hier verbringst?«

Laurin schüttelte nur den Kopf. »Waren Sie … warst du schon einmal da?«

»Im Bergwerk?« Rosie schauderte. »Gott bewahre! Aber jedes Jahr gehen mindestens zehn unserer Gruppen dort hinunter und natürlich erzählen sie immer ganz aufgeregt davon.« Sie blinzelte ihr verschwörerisch zu. »Ich hoffe doch, du hast gute Nerven. Angeblich soll es dort unten spuken.«

Laurin lächelte nur zur Antwort. Rosie schien es jedoch zu reichen, denn sie erinnerte sie nur noch einmal daran, dass der Bus pünktlich abfuhr, und ging.

Fünf Minuten bevor die Frist abgelaufen war, setzte Laurin ihre Sonnenbrille auf und trat wieder auf den Hof und in die unerträgliche Hochsommerhitze hinaus.

Sie schien noch schlimmer geworden zu sein. Laurin hatte das Gefühl, schon nach dem ersten Schritt am ganzen Leib in Schweiß gebadet zu sein. Das Licht war so grell, dass sie trotz der Sonnenbrille kaum etwas sehen konnte.

»Was für eine Affenhitze«, sagte eines der anderen Mädchen.

»Und es wird noch schlimmer«, fügte eine Stimme hinzu. »Das ist erst der Anfang, glaubt mir.«

Laurin drehte sich herum und sah direkt in ein verdrießlich dreinblickendes Gesicht, das Hartwig gehörte, einem der Betreuer, die die Feriengruppe auf Schritt und Tritt begleiteten, als wären sie Vorschulkinder. Davon abgesehen fand sie ihn eigentlich ganz nett.

»Was?«, fragte sie.

»Jetzt sag mir nicht, dass du noch niemals etwas vom Klimawandel gehört hast«, maulte Hartwig. »Globale Erwärmung, abschmelzende Polkappen und so weiter? Das ist nicht nur ein Verbrechen an der Umwelt, sondern auch ziemlich dumm. Es ist nämlich die einzige, die wir haben!«

Laurin hütete sich, irgendetwas zu antworten und ihm so einen Vorwand zu liefern, wieder zu einem seiner gefürchteten Vorträge über die Dummheit des Menschen und die Zerbrechlichkeit der Welt anzusetzen. Vorsichtshalber wechselte sie das Thema und rückte demonstrativ ihre Sonnenbrille zurecht. »Bin ich die Letzte?«

»Die Letzte?« Hartwig blinzelte. »Ach so, die Bergwerkstour. Nein, zwei fehlen noch. Ich wollte gerade losgehen und sie holen. Warum wartest du nicht im Bus? Da ist es auf jeden Fall kühler.«

»Gibt es eine Klimaanlage?«, fragte Laurin hoffnungsvoll.

»Nein«, antwortete Hartwig. »Aber immer noch besser als in der prallen Sonne zu stehen, oder? Und sobald der Motor erst einmal läuft und das Gebläse anspringt, wird es rasch kühl.«

»Gebläse?«, ächzte Laurin. »Ist denn so was noch erlaubt?«

Hartwig hatte sich bereits umgedreht und schlurfte davon, und Laurin wandte sich ergeben um und erlebte prompt die nächste unangenehme Überraschung. Der Bus stand – natürlich mit offenen Türen, damit die Hitze auch schön hereinkam – nur ein paar Schritte entfernt da. Wenn man es genau nahm, war es nicht wirklich ein Bus, sondern allenfalls ein zu groß geratener Lieferwagen mit acht oder zehn Sitzen. Laurin verstand herzlich wenig von Autos, aber in ihren Augen sah er so aus, als stamme er eindeutig aus der Zeit vor der Erfindung des Automobils.

Vier der acht Plätze waren besetzt. Drei von einem zarten Mädchen namens Iris und den Schwedenzwillingen, die quasi unzertrennlich waren, auf dem vierten saß Schwester Rosie, komplett in ihrem Pinguinkostüm und mit einem breiten Überraschung!-Lächeln im Gesicht.

Laurin nahm ihr gegenüber Platz und versuchte mit wenig Erfolg, sie anzuschmollen. »Sie haben … du hast mich reingelegt«, sagte sie. »Du wusstest die ganze Zeit, dass du dabei bist.«

»Nein«, antwortete Rosie. »Das war gar nicht geplant. Aber für die Brauereibesichtigung haben sich so viele angemeldet, dass sie eine dritte Begleitperson brauchten, also fehlt hier jetzt jemand.«

»Und da hast du dich großzügig angeboten einzuspringen«, stichelte Laurin gutmütig. »Das hat nicht zufällig etwas damit zu tun, dass Hartwig ein richtig niedlicher Bursche ist?«

»Ich bin Ordensschwester!«, antwortete Rosie leicht empört, doch Laurin meinte zu sehen, dass sie errötete. »Während unserer Unterhaltung ist mir klar geworden, wie wenig ich eigentlich über meine Heimat weiß. Und da schien es mir eine gute Gelegenheit zu sein, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.«

Laurin dachte sich nur ihren Teil und nickte den drei anderen zu, die mit wenig Erfolg so zu tun versuchten, als hätten sie die kurze Unterhaltung nicht mit gespitzten Ohren belauscht. Zu ihrer Erleichterung kam Hartwig in diesem Moment auch schon zurück, und Laurin staunte nicht schlecht, als sie sah, wen er mitbrachte.

»Na, wenn das nicht eine Überraschung ist«, sagte sie. »Mit euch hätte ich wirklich nicht gerechnet.«

»Aber ich bitte Euch, Prinzessin«, antwortete Didi scheinbar vollkommen ernst. »Eure Untertanen würden Euch doch niemals allein auf eine so gefährliche Mission gehen lassen.«

»Habt ihr denn gar keine Angst, dass euch der Himmel auf den Kopf fällt?«, fragte Laurin.

Didi setzte sich ihr gegenüber. »Ich bin eher überrascht, dich hier zu sehen«, sagte er. »Hätte ich nicht erwartet. Vielleicht hab ich dich falsch eingeschätzt.«

Laurin verstand nicht so genau, was er meinte, und war beinahe erleichtert, dass Hartwig in diesem Moment einstieg und hinter dem Lenkrad Platz nahm. Er startete den Motor, und ganz wie er es versprochen hatte, zischte aus den Lüftungsschlitzen sofort ein spürbarer Luftstrom.

Er war warm und stank nach heißem Öl und verschmortem Plastik.

»Schnallt euch an«, sagte Hartwig. Alle gehorchten – abgesehen von Didi und Michael – und er legte krachend den Gang ein und fuhr los.

»Also ehrlich, ich hätte nicht gedacht, dass ihr euch unserer Gruppe anschließt«, wandte sich nun auch Rosie an die beiden Jungen. »Anscheinend habe ich euch ebenfalls falsch eingeschätzt.«

»Ach ja?«, fragte Didi lauernd.

Rosie nickte. »Ihr habt die richtige Wahl getroffen, glaubt mir. Gerade bei dieser Hitze.«

»Wieso?«, erkundigte sich Michael.

»Du weißt anscheinend nicht, wie heiß es in einer Brauerei werden kann«, sagte Hartwig vom Fahrersitz aus. »Dort drinnen wärt ihr einfach weggeschmolzen. Die anderen werden euch beneiden, wenn wir zurück sind.«

»Hä?«, machte Michael.

»Was soll das heißen?«, fragte Didi. »Wenn wir von wo zurück sind?«

»Aus dem Bergwerk«, sagte Laurin.

»Bergwerk?« Michaels Augen wurden groß.

»Aber wir fahren in die Brauerei!«, behauptete Didi.

»Nein«, sagte Hartwig, »tust du nicht. Wir fahren zum alten Bergwerk unter der Rosengartenspitze.«

»Aber wir wollen in die Brauerei!«, protestierte Didi. »Was soll ich denn in einem verdammten Loch im Boden?«

»Warum hast du dich dann für die Bergwerkstour eingetragen?«, fragte Hartwig. Er klang ein bisschen schadenfroh, fand Laurin.

»Das habe ich nicht!«, widersprach Didi. »Halt sofort an! Wir steigen aus und warten auf den anderen Bus!«

»Selbst wenn ich es dürfte«, antwortete Hartwig und schüttelte den Kopf, »würde es dir nichts nutzen. Der andere Bus ist längst weg.« Er betrachtete Didi einen Moment lang nachdenklich durch den Innenspiegel. »Ehrlich gesagt habe ich mich auch schon gewundert, als ich die Liste gesehen habe. Aber du hast ganz eindeutig die Bergwerkstour angekreuzt. Und dein Freund ebenso.«

»Ich habe gar nichts an…«, begann Didi, brach dann mitten im Satz ab und drehte mit einem Ruck den Kopf, um Michael mit funkelnden Augen anzustarren. »Das warst du, du Blödmann!«

»War ich nicht«, beteuerte Michael. »Ich bin doch nicht doof!«

»Ach nein, bist du nicht?«, fauchte Didi. »Und wieso sitzen wir dann im falschen Bus?«

Michael zog es vor, nicht darauf zu antworten.

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Laurin hätte es niemals laut zugegeben, schon gar nicht in Didis Hörweite, aber der Kulturnachmittag kam bei ihr genauso gut an wie bei allen anderen, Schwester Rosie und Hartwig vielleicht einmal ausgenommen.

Es begann damit, dass das Bergwerk eigentlich kein Bergwerk war. Jedenfalls nicht so, wie sie sich ein Bergwerk vorgestellt hätte. Wie die meisten hatte sie ohnehin nur eine eher vage Vorstellung davon, wie ein Bergwerk aussah. Ein sehr tiefes Loch im Boden eben, in das saubere Bergleute hineinfuhren und erschöpft und schmutzig wieder herauskamen. Vielleicht noch ein großer Förderturm mit mächtigen Streben, der schon von Weitem zu sehen war.

Das Einzige, was man hier sah, war … eigentlich nichts. Das Loch in der Bergflanke, zu dem Hartwig sie brachte, nachdem sie den Wagen abgestellt und sich einen steilen Trampelpfad hinaufgequält hatten, war zwar groß, aber trotzdem eher unspektakulär. Hätte Hartwig ihnen nicht bedeutet, im Schatten des natürlichen Torbogens auf ihn zu warten, wären sie vermutlich achtlos daran vorbeigegangen.

Hartwig verschwand hinter einer kaum anderthalb Meter hohen Holztür, die im Halbdunkel der Höhle nur zu erahnen war, und schärfte ihnen noch einmal ein, auf ihn zu warten und nichts anzufassen. Laurin fand das überflüssig. Keiner von ihnen wäre auf die Idee gekommen, freiwillig wieder in die brütende Hochsommerhitze hinauszugehen, und anzufassen gab es hier rein gar nichts; es sei denn, man stand auf Steine.

Sie bezweifelte längst, dass es eine gute Idee gewesen war, überhaupt herzukommen. Wie ein Bergwerk sah das hier nun wirklich nicht aus, vielmehr wie ein natürlicher Höhleneingang, der zu einem Gutteil mit Gestrüpp und Unkraut und halb versteinerten Wurzeln zugewuchert war, die ihr wie ein Knäuel kämpfender Schlangen vorkamen. Der dazugehörige Baumstamm mochte den Höhleneingang einst fast komplett verdeckt haben, war nun aber nur noch ein kaum kniehoher Stumpf. Zu Lebzeiten musste er gewaltig gewesen sein, wie sein Umfang verriet.

»Na, findest du unseren famosen Bildungsausflug auch so spannend?«

Schon weil die Auswahl nicht besonders groß war, erkannte sie die Stimme sofort, selbst wenn sie sich nicht erinnern konnte, Didi schon einmal so versöhnlich gehört zu haben. Sie drehte sich nicht zu ihm herum, sondern ließ sich mit einem erschöpften Seufzen auf den Baumstamm sinken und hoffte, dass Didi ihr nicht freiwillig in die Hitze heraus folgen würde.

Natürlich vergebens. Didi kam ihr nicht nur nach, sondern setzte sich ganz unverfroren dicht neben sie. Was wollte der Bursche nur von ihr?

»Das muss einmal ein … äh … beeindruckender Baum gewesen sein«, begann Didi schließlich unbeholfen. Seine flache Hand landete klatschend auf dem Baumstumpf. »Bestimmt zwanzig Meter hoch, wenn nicht mehr.«

»Ja«, antwortete sie einsilbig. »Wahrscheinlich eine Eiche. Die werden so groß.«

Didi schüttelte heftig den Kopf. »Das war eine Esche.«

Was sollte denn das sein? Laurin hatte das Wort noch nie gehört, und sie bezweifelte auch, dass man den Unterschied an einem Baumstumpf erkennen konnte. Wahrscheinlich wollte er sich nur wichtigmachen.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, nickte Didi so heftig, dass ihm die Sonnenbrille auf die Nasenspitze rutschte und er sie mit dem Daumen zurückschob. »Ich kenne mich da aus. Das war eine Esche. Eine Schande, einen so prachtvollen Baum umzubringen.«

Einen Baum umzubringen? Solche Sprüche hätte sie eher von Hartwig erwartet, aber nicht von einem Klotzkopf wie Didi. »Vielleicht war er krank«, antwortete sie. »Oder der Sturm hat ihn abgeknickt.«

»Stürme entwurzeln Bäume«, behauptete er. »Das hier ist ein sauberer Schnitt. Und man sieht auch, dass der Baum kerngesund war. Ein Verbrechen.«

»Warum tust du dich nicht mit Hartwig zusammen?«, fragte Laurin.

»Weil er es übertreibt«, antwortete Didi ernst, »wie die meisten. Sie begreifen einfach nicht, dass man nichts erreicht, wenn man den Fanatiker gibt und sich lächerlich macht.«

Laurin war nun wirklich verwirrt. Konnte es sein, dass Didi die ganze Zeit über nur den Dummkopf gespielt hatte? Aber warum?

Wieder war es, als hätte er ihre Gedanken gelesen, denn für einen Moment sah er sie auf eine Weise an, die erneut um Haaresbreite an dämlich vorbeischrammte.

»Also wegen vorhin«, begann er unbeholfen.

Laurin klimperte mit den Augenlidern. »Ja?«

»Im Speisesaal, also … äh … beim Frühstück …«

»Ja«, antwortete Laurin, »ich erinnere mich. Es war ganz lecker. Also für ein Kloster.«

»Das meine ich nicht.«

»Sondern?«, erwiderte sie mit Unschuldsmiene. Ein Teil von ihr fragte sich, warum sie eigentlich so gemein zu ihm war, aber ein weitaus größerer genoss es in vollen Zügen.

»Das, was ich … gesagt habe«, fuhr Didi fort.

»Über Zwerge?«, erkundigte sie sich harmlos.

»Über deine Eltern«, brachte er schließlich heraus.

»Was soll damit sein?«, erkundigte sich Laurin.

»Also, ich wusste ja nicht, dass du so empfindlich auf das Thema reagierst.« Didi begann sich zu winden. »Es tut mir echt leid, wenn ich einen wunden Punkt getroffen habe. Das wollte ich nicht. Echt.«

»Wenn wir schon einmal dabei sind«, begann sie unbehaglich, »also … äh …«

»Ja?« Didi legte den Kopf auf die Seite. Seine Miene war vollkommen ausdruckslos, aber tief in seinen Augen meinte sie ein spöttisches Funkeln zu erkennen.

»Es ist mir ein bisschen peinlich, aber da gibt es … äh … etwas, was ich dich schon die ganze Zeit fragen wollte … also ähm … seit ich dich das erste Mal … gesehen habe.« Sie spürte selbst, wie sie rote Ohren bekam, und wenn sie noch einen Augenblick so weiterstammelte, bekam sie wahrscheinlich kein gerades Wort mehr heraus. Sie begann sich zu ärgern. Vor allem über sich selbst.

»Das macht mir nichts aus«, sagte Didi. »Ich bin es gewohnt, weißt du?«

»Nein«, sagte sie. »Was?«

»Dass du mich angestarrt hast«, sagte Didi. »Das tun alle.«

Angestarrt? Wie kam er denn auf das schmale Brett? Sie hatte ihn nicht angestarrt! Laurin war empört. »Aber das habe ich nicht«, sagte sie lahm.

Didis Gesichtsausdruck wurde gönnerhaft, was sie noch mehr ärgerte. »Es muss dir nicht peinlich sein. Ich weiß, was ich bin.«

Ein Trottel? »Und was?«

»Ein Neger«, antwortete er.

Laurin schrak zusammen. »So etwas sagt man nicht!«, sagte sie erschrocken.

»Warum nicht?«, fragte Didi amüsiert.

»Weil dieses Wort – «

»Erst mal nicht mehr als ein Wort ist«, unterbrach sie Didi, immer noch lächelnd, aber trotzdem zugleich auf eine seltsam eindringliche Art, die das amüsierte Funkeln in seinen Augen zu etwas anderem machte, das sie nicht richtig deuten konnte. »Ich weiß, es ist politisch nicht korrekt, aber das ist Blödsinn, weißt du?« Er verdrehte die Augen. »Du glaubst ja gar nicht, wie mir das auf die Nerven geht! Das ist nichts anderes als Gedankenpolizei und es ändert überhaupt nichts! Ganz im Gegenteil!«

»Wieso?«, fragte Laurin verwirrt.

»Weil es die größte Lüge von allen ist«, behauptete Didi. Er tippte sich gegen die Schläfe. »Wer immer sich diesen Quatsch mit der Political Correctness ausgedacht hat, hat entweder nicht mehr alle Latten am Zaun oder sich einen Spaß daraus gemacht, die ganze Welt zu verarschen. Mittlerweile schreiben sie Bücher um, nur damit bestimmte Wörter nicht mehr darin vorkommen!«

Laurin verstand nicht genau, worauf er hinauswollte – und davon abgesehen hatte sie auch was ganz anderes fragen wollen –, aber sie spürte, dass ihm dieses Thema auf der Seele brannte. Also sah sie ihn nur fragend an und sagte vorsichtig: »Worte, die nicht in Ordnung sind.«

»Ach ja?«, polterte Didi. »Und du meinst, nur weil man bestimmte Worte nicht mehr benutzen darf, ohne gleich schräg angesehen zu werden, ändert sich was?« Er beantwortete seine eigene Frage mit einem abfälligen Schnauben und einem so heftigen Kopfschütteln, dass seine Haare flogen.

»Wichtig ist doch, was die Menschen denken, nicht was sie sagen! Wer glaubt denn ernsthaft, dass sich irgendetwas ändert, nur weil man ein bestimmtes Wort nicht mehr benutzt? Die Leute, für die ›Neger‹ etwas Abfälliges ist, meinen auch ›dunkelhäutiger Mitbürger‹ oder irgendeinen anderen Quatsch so, und die, für die es bloß ein Wort ist, finden es einfach nur albern.«

»So … habe ich das noch gar nicht gesehen«, antwortete Laurin zögernd.

»Solltest du aber«, antwortete er, immer noch aufgebracht, aber jetzt eher mürrisch als verärgert. »Sonst findest du dich bald auf derselben Bank wie die Hartwigs dieser Welt wieder, weißt du? Man erklärt ein paar Wörter zum Tabu und schaut jeden schräg an, der es noch wagt, sie zu benutzen. Auf diese Weise kann man sich als was Besseres fühlen, nicht wahr? Als ob irgendetwas besser wird, wenn man den Leuten vorschreibt, wie sie zu reden haben! Aber man kann sich ganz wunderbar sicher sein, dass sich niemand zu widersprechen traut.«

»Vielleicht doch«, antwortete Laurin zögernd – und im Grunde nur, weil sie irgendwie das Gefühl hatte, es zu müssen. Warum eigentlich?

»Klar«, antwortete Didi spöttisch. »Es ist ja auch alles besser geworden, seit die Gedankenpolizei auf die korrekte Sprache achtet, nicht wahr? Niemand wird mehr schief angesehen, weil er die falsche Hautfarbe hat oder den falschen Namen oder die falsche Religion … wolltest du das damit sagen?«

»Natürlich nicht, aber – «

»Na, da bin ich aber froh, dass du wenigstens das gemerkt hast«, unterbrach sie Didi, offenbar fest entschlossen, sie keinen einzigen Satz zu Ende sprechen zu lassen. »Es ändert sich nämlich gar nichts, wenn man die Leute einfach nur zwingt, auf eine bestimmte Art zu reden. Ich meine: Was kommt als Nächstes? Darf man demnächst nicht mehr sagen: Das macht man eben so, weil man sonst angezeigt wird, weil man damit alle Frauen diskriminiert?«

»Hm, ja«, murmelte Laurin. »Also vielleicht. Ich weiß nicht …« Sie räusperte sich, straffte die Schultern und sah ihn dann so fest an, wie sie konnte. »Aber das habe ich eigentlich gar nicht gemeint.«

»Sondern?«

»Ehrlich gesagt wollte ich dich nur fragen, wie du zu diesem Namen kommst«, sagte Laurin. »Didi ist schon ein bisschen ungewöhnlich für … also … ich meine …«

»Ja?«, fragte Didi und grinste nur noch breiter.

Bevor Didi sie noch weiter foltern konnte, winkte ihnen Schwester Rosie zwischen dem versteinerten Gebüsch hindurch zu, wieder hereinzukommen, und nicht nur Didi hatte es plötzlich sehr eilig, aufzustehen und das immer unangenehmer werdende Gespräch zu beenden.

Hartwig war zurück und er unterließ es natürlich nicht, ihnen einen strafenden Blick zuzuwerfen. Er machte eine Geste auf den Mann neben sich. Bei all den Schatten hier drinnen konnte Laurin ihn nur als verschwommenen Umriss erkennen, aber sie sah immerhin, dass er ein gutes Stück kleiner war als Hartwig.

»Schön, jetzt, wo alle da sind …« Diese kleine Spitze konnte Hartwig sich nicht verkneifen. »… kann es ja losgehen. Das hier ist Etsch.« Der Schatten nickte, und nun fiel Laurin auf, dass er ungemein breitschultrig war, wie um seine fehlende Größe auszugleichen. »Etsch ist der verantwortliche Ausgrabungsleiter hier. Zugleich ist er mein Doktorvater, und ihm liegt eine Menge daran, junge Leute für Wissenschaft und Forschung zu begeistern.«

Was für ein seltsamer Name, dachte Laurin, und Michael murmelte: »Doktorvater? Was soll das denn sein?«

Hartwig schenkte ihm einen bösen Blick, fuhr aber fort: »Aus diesem Grund hat er sich bereit erklärt, euch etwas zu zeigen, das vor euch nur sehr wenige Menschen zu Gesicht bekommen haben.«

»Eine Hobbithöhle?«, fragte Michael.

»Ich muss euch bitten, ganz genau das zu tun, was ich euch sage«, fuhr Hartwig ungerührt fort. »Fasst nichts an, es sei denn, wir erlauben es euch ausdrücklich, und entfernt euch vor allem nicht von der Gruppe. Sind wir uns da einig?«

Täuschte sich Laurin, oder sah er Didi und vor allem sie dabei deutlich länger an als die anderen?

»Gut«, sagte Hartwig, obwohl er gar keine Antwort bekommen hatte. »Dann kommt.« Etsch und er drehten sich um und verschwanden wieder hinter der Holztür.

Als sie ihnen folgten, gelangten sie in einen niedrigen, aber unerwartet großen Raum, dessen Wände nur zum Teil aus natürlichem Fels bestanden. An manchen Stellen erkannte Laurin Spuren nachträglicher Bearbeitung, wo das Gestein mit Meißeln oder Spitzhacken geglättet worden war, und an mindestens einer Stelle auch uraltes verwittertes Mauerwerk, wobei die einzelnen Steine mindestens einen Meter maßen und Tonnen wiegen mussten. Die Luft roch nach Staub und Alter, und überall standen Kisten und halb aufgeweichte Pappkartons mit Werkzeugen und anderen Dingen, deren Sinn sich Laurin nicht erschloss. Nur eines wurde ihr immer klarer: Mit einem Bergwerk hatte das hier nur sehr wenig Ähnlichkeit.

»Ihr habt ja gehört, was Hartwig gesagt hat«, begann Etsch. Er hatte eine tiefe, knarrende Stimme, die zu seinem Äußeren passte. Er war sogar noch ein Stück kleiner als Michael, aber so breitschultrig wie zwei normale Männer, hatte Hände wie Schaufeln, ein Gesicht, das nur aus Runzeln, tief eingeschnittenen Falten und einer gewaltig geschwungenen Nase zu bestehen schien, und eine Haut wie dunkles Sandpapier. Laurin behielt ihn aufmerksam im Auge, und so entging ihr – abgesehen von Didi selbst vermutlich als Einziger – auch nicht sein fast unmerkliches Stocken, als sein Blick über Didis nachtschwarzes Gesicht tastete. Aber er fuhr ungerührt fort: »Jetzt setzt ihr erst mal die hier auf.«

Wie durch Zauberei hielt er plötzlich ein halbes Dutzend leuchtend gelber Schutzhelme in den Händen, die er verteilte, und die auch alle aufsetzten.

Außer Michael. »Das ist doch albern«, sagte er. »Das zieh ich nicht an!«

»Dann bleibst du eben hier«, sagte Hartwig gelassen. »Die Höhle draußen ist groß genug. Du kannst gern warten.«

»Der Helm ist Vorschrift«, fügte Etsch hinzu. »Hier ist es absolut ungefährlich, sonst wärt ihr gar nicht hier. Aber wir steigen gleich tief in die Erde hinab. Du möchtest doch nicht, dass dir ein Stein auf den Kopf fällt, oder?«

»Würde aber kein wichtiges Körperteil beschädigen«, sagte Didi, was ein allgemeines Kichern und Glucksen zur Folge hatte. »Setz das Ding auf. Ich will hier keine Wurzeln schlagen.«

Michael gehorchte.

»In Ordnung. Und jetzt hört mir einen Moment zu.« Etsch sprach nicht besonders laut, aber seine durchdringende Bassstimme verlieh ihm trotzdem augenblicklich Gehör. »Ich nehme an, ihr wundert euch alle ein bisschen, weil das hier so gar nicht wie ein Bergwerk aussieht. Kein Aufzug, keine Schienen für die Loren, keine Streben und Grubenlampen …« Er sah sich Beifall heischend um und erntete nur verständnisloses Glotzen, genau wie Laurin erwartet hatte. Ihr selbst erging es nicht viel besser.

Etsch schien das jedoch nicht zu stören. »Das liegt daran, dass das hier kein normales Bergwerk ist«, fuhr er unbeirrt fort.

»Warum?«, fragte Laurin.

Etsch strahlte. »Weil es sehr alt ist. Mindestens tausend Jahre, wenn nicht älter. Damals gab es natürlich all die moderne Technik noch nicht und auch keine Arbeitsschutzregeln. Ob ihr es glaubt oder nicht, die Leute haben all diese Gänge und Stollen mit nichts anderem als Hammer und Meißel und ihrer Muskelkraft aus den Felsen gehauen.«

»Wie spannend«, murmelte Didi und tat so, als müsste er ein Gähnen unterdrücken.

Etsch redete unverdrossen weiter, und Laurin bemühte sich auch wirklich, ihm zuzuhören. Aber wenn sie ehrlich war, fand sie es genauso langweilig wie Didi. Vielleicht wäre die Brauerei doch die bessere Wahl gewesen.

Etwas bewegte sich in ihrem rechten Augenwinkel, und zugleich meinte sie ein Huschen zu hören, vielleicht auch ein Trappeln, wie von winzigen eisenharten Krallen auf Fels.

Erschrocken drehte sie den Kopf und strengte die Augen an, sah aber nicht mehr als Schatten. Ihr Herz klopfte, und sie erinnerte sich an Rosies Warnung. Angeblich soll es dort unten spuken.

»So, jetzt wisst ihr schon einmal das Wichtigste«, sagte Etsch. »Dann kommt mit. Und seid vorsichtig. Wir müssen eine ziemlich lange und ziemlich steile Treppe hinunter. Bitte kein Herumgetobe. Und es ist weder eine Schande noch ein Zeichen von Feigheit, das Geländer zu benutzen.«

Sie gingen durch eine weitere Tür, hinter der sie die Treppe erwartete. Laurin begann an ihrem eigenen Mut zu zweifeln, als sie die schmalen Holzstufen sah, die in halsbrecherischem Winkel in die Tiefe führten. Der Treppenschacht war von zahlreichen starken Lampen taghell erleuchtet, aber das Ende war trotzdem nicht zu erkennen.

»Bei der Heiligen Jungfrau Maria, wie tief geht es da nach unten?«, entfuhr es Schwester Rosie.

»Beinahe hundertfünfzig Meter«, sagte Etsch.

»Und das haben Menschen vor mehr als tausend Jahren mit bloßen Händen gegraben?«

»Das und noch viel mehr«, bestätigte Etsch. »Das Bergwerk geht dort unten erst richtig los. Aber wir steigen nur ungefähr dreißig Meter hinab.«

Er nickte Hartwig zu, der nicht nur auch jetzt wieder die Führung übernahm, sondern die Stufen regelrecht hinabhüpfte, als ginge er über ebenen Boden. Alle anderen – Laurin und Didi eingeschlossen – folgten ihm weitaus vorsichtiger. Laurin nahm an, dass sie nicht die Einzige war, die es insgeheim längst bedauerte, sich auf diesen Jules-Verne-Ausflug zum Mittelpunkt der Erde eingelassen zu haben.

Nach vielleicht dreißig Metern tauchte ein schweres Eisengitter aus daumendicken Stäben vor ihnen auf, das den Treppenschacht auf ganzer Breite blockierte. Natürlich ließ es sich Michael nicht nehmen, mit beiden Händen an den Gitterstäben zu rütteln, aber genauso gut hätte er versuchen können, den Berg mit bloßen Händen niederzureißen.

Laurin wäre trotzdem wohler gewesen, er hätte das nicht getan. Michaels Schütteln ließ lang anhaltende, scheppernde Echos aus der Tiefe zu ihnen heraufwehen, und waren da Schatten, die im Zwielicht am unteren Ende der Treppe huschten?

»Lass das!«, sagte Etsch streng, während er die Gruppe unter heftigem Gestikulieren in einen Seitengang scheuchte. Die Luft wurde immer stickiger und merklich kühler. Als sie eine große, halbrunde Höhle erreichten und anhielten, hatte nicht nur Laurin eine Gänsehaut auf den Armen.

»So, und hier fängt das eigentliche Bergwerk an«, begann Etsch, nachdem sich alle in einem lockeren Halbkreis um ihn formiert hatten und wenigstens so taten, als würden sie ihm aufmerksam zuhören. »Seht euch in Ruhe um, und wenn ihr Fragen habt, dann stellt sie ruhig. Aber fasst nichts an.«

»Ich habe eine Frage«, meldete sich Michael. »Wie lange dauert das hier noch?«

Rosie schenkte ihm einen empörten Blick, aber Etsch lächelte, als hätte er nur darauf gewartet. »Genau das haben sich die meisten Leute früher sicher auch gefragt«, sagte er. »Das Leben damals muss unglaublich hart gewesen sein. Stellt euch vor, wie es war, zehn oder zwölf Stunden hier unten zu arbeiten, und das jeden Tag! Es gab kein elektrisches Licht, sondern lediglich Grubenlampen und Fackeln, und sie hatten keine modernen Werkzeuge wie Presslufthämmer oder auch nur anständige Schaufeln. Es war abwechselnd bitterkalt und unerträglich heiß. Schaut mal dorthin. Was glaubt ihr, was das war?«

Er deutete auf eine Anzahl kniehoher Löcher, die in den Wänden gähnten.

Als Laurin sich bückte, um hineinzusehen, erkannte sie, dass sie tief in den Fels führten.

»Fluchttunnel?«, vermutete Didi.

Etsch schüttelte lachend den Kopf. »Nein, das da waren die eigentlichen Stollen, ob ihr es glaubt oder nicht.«

»So niedrig?«, wunderte sich Schwester Rosie.

»Ich sagte doch, es war kein angenehmes Leben«, bestätigte Etsch. »Sie haben zum Teil auf dem Bauch gelegen, um das Gestein abzubauen, und das Tag für Tag. Manchmal sind die Stollen eingestürzt und die, die Glück hatten, sind erschlagen worden.«

Die Glück hatten?

»Und die weniger Glücklichen?«, fragte Laurin.

»Wurden verschüttet und sind qualvoll erstickt«, antwortete Etsch. »Oder noch qualvoller verhungert und verdurstet.«

»Also das … ist keine schöne Geschichte«, sagte Rosie schaudernd.

»Ich wollte auch keine schöne Geschichte erzählen, sondern die Wahrheit«, erwiderte Etsch. »So gut waren die guten alten Zeiten nie, wie manche glauben.«

Irgendwie, dachte Laurin, klang es so, als wüsste er genau, wovon er sprach. Was natürlich Unsinn war.

»Warum haben sie keine Zwerge buddeln lassen?«, fragte Didi.

»Genau das haben sie«, behauptete Etsch. »Was glaubt ihr denn, woher der berühmte Gartenzwerg kommt?«

»Von hier?« Michael bedachte Laurin mit einem Blick, für den sie ihn am liebsten kräftig auf die Nase geboxt hätte.

»Gewissermaßen«, erwiderte Etsch. »Seht euch um. Große Menschen haben hier Probleme. Jeder Zentimeter weniger Körpergröße ist ein Zentimeter weniger Fels, den man aus dem Berg meißeln muss. Also haben sie lieber kleinwüchsige Männer in den Berg geschickt, dafür aber besonders kräftige.«

Wenn das stimmte, dachte Laurin, dann hätte Etsch vor tausend Jahren wohl den perfekten Bergmann abgegeben.

Didi grinste breit. »Klar, daher die Gartenzwerge samt Zipfelmütze.«

»Die sie tatsächlich getragen haben«, warf Etsch ein. Ungläubiges Murmeln und Raunen wurde laut, doch der Wissenschaftler nickte nur wissend, drehte sich um und kam nach einem Moment mit einem zusammengeknüllten Stoffstreifen in der Hand zurück. Mit den Knöcheln der anderen Hand klopfte er gegen seinen Schutzhelm.

»So was gab es vor tausend Jahren noch nicht«, sagte er, »sehr wohl aber Steine, die von der Decke fallen. Also haben sie …« Er nahm den Helm ab und stülpte sich mit der anderen Hand das Stück Stoff über, das sich als breitkrempiger spitzer Gartenzwerghut entpuppte. »… das hier benutzt.«

Der Anblick war verblüffend und zugleich komisch. Die meisten lachten, aber Rosie – und auch Laurin – starrten ihn nur verdattert an.

»Ich weiß, es sieht seltsam aus«, sagte Etsch, nachdem sich die erste Belustigung gelegt hatte. »Aber glaubt mir, es funktioniert.«

»Eine Zipfelmütze?«, fragte Michael.

»Sie ist aus dickem Filz gemacht und schützt nicht nur vor Kälte und Wasser, sondern auch vor Steinschlag«, erklärte Etsch.

»Glaub ich nicht«, sagte eines der Mädchen.

Laurin sah Etsch an, dass er nur auf dieses Stichwort gewartet hatte. Lächelnd bückte er sich nach einem faustgroßen Stein, warf ihn wuchtig gegen die Decke und fing ihn mit dem Kopf wieder ab, als er zurückkam. Es gab ein sonderbar weiches »Plopp«, und der Stein prallte ab und verschwand in den Schatten.

Aber nicht sofort.

Es war das Seltsamste, was Laurin jemals erlebt hatte: Der Stein verschwand zwar, aber es war, als tauche er in nachtfarbenes Wasser, das lautlos Wellen schlug. Etwas Unsichtbares und Waberndes huschte in einer Bewegung davon, die Laurin irgendwie … empört vorkam, so absurd ihr der Gedanke auch selbst erscheinen mochte.

Laurin sah genauer hin, doch es blieb dabei: Der Stein war verschwunden. Hinter Etsch befand sich rein gar nichts. Und dennoch bewegte sich da etwas. Etwas, das nicht da war. Zum zweiten Mal musste sie an das denken, was Schwester Rosie über das alte Bergwerk gesagt hatte. Angeblich sollte es hier spuken.

»Sie ist fast so stabil wie ein moderner Helm«, beendete Etsch seine kleine Demonstration. »Dieses Modell wurde nach einer Originalmütze gefertigt, die fast tausend Jahre alt ist.«

»Ich bezweifle, dass unser moderner Plastik-Plunder nach tausend Jahren noch was taugt«, fügte Hartwig hinzu. Natürlich tat er das.

Laurin hatte Mühe, der Unterhaltung zu folgen. Ihr Blick suchte immer noch die Höhle hinter Etsch ab. Irgendetwas war dort. Sie konnte es nur nicht sehen.

»Was hast du?«, wisperte Didi neben ihr.

»Nichts«, behauptete sie wenig überzeugend.

Didi sah lange genug in dieselbe Richtung wie sie, um klarzumachen, was er von dieser Antwort hielt, und Laurin tat ihre Gedanken endgültig als Unsinn ab und zwang sich, Etschs achso-spannendem Vortrag zu folgen.

»… eine ganz erstaunliche Industrie«, sagte er gerade. Anscheinend war sie länger in Gedanken versunken gewesen, als ihr bewusst war. »Schon im frühen Mittelalter. Das glaubt man kaum, wie? Aber das Allerspannendste habe ich euch noch gar nicht gezeigt. Kommt!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er los, und Laurin war heilfroh, die große Höhle mit ihren unheimlichen Schatten verlassen zu können. Sie betraten eine weitere runde Höhle, von der wieder etliche niedrige Stollen sternförmig abzweigten, aber auch eine massive Holztür sichtbar jüngeren Ursprungs, hinter der Etsch wortlos verschwand.

»Er ist gleich wieder da«, sagte Hartwig, als schon unwilliges Murren aufkommen wollte. »Das Interessanteste kommt erst noch.« Sein Blick suchte Laurin. »Vielleicht kann uns ja in der Zwischenzeit jemand etwas über diesen Berg erzählen? Der ist nämlich auch etwas ganz Besonderes.«

Laurin tat so, als hätte sie nicht verstanden, worauf er hinauswollte, und wünschte ihm insgeheim die Pest an den Hals. Schwester Rosie kam ihr zu Hilfe.

»Die Rosengartenspitze hat ihren Namen nicht von ungefähr«, begann sie. »Nach der alten Legende soll hier der Eingang in das verborgene Reich des berühmten Zwergenkönigs Laurin liegen.«

Alle starrten Laurin an. Auch Didi.

»Nein, das ist eine andere Geschichte«, sagte Rosie. »Der mythische Laurin soll über ein verzaubertes Reich voll der herrlichsten Rosen und faszinierendsten Geschöpfe geherrscht haben. Die Grenze bildete ein unsichtbarer Zauberfaden, den niemand zu zerreißen wagte. Und wer es doch tat, dem soll Laurin zur Strafe einen Arm und ein Bein ausgerissen haben.«

»Ein Zwerg?« Michael machte ein abfälliges Geräusch. »Pah!«

»Oh, täusch dich nicht«, antwortete Rosie. »Der Herr des Rosengartens konnte sich nicht nur mithilfe eines Zaubermantels unsichtbar machen, sondern hatte auch einen Gürtel, der ihm die Kraft von zwölf Männern verlieh.«

»Also pass lieber auf, was du sagst«, warnte Michael grinsend, während er abwechselnd Didi und Laurin und dann wieder Didi ansah. Laurin streckte ihm die Zunge heraus.

»Ich sehe hier keine Rosen«, sagte eines der anderen Mädchen.

»Das ist jetzt der weniger märchenhafte Teil«, räumte Rosie ein. »Wahrscheinlich ist es schlichtweg ein Übersetzungsfehler. Ist euch die riesige Schutthalde an der Nordflanke des Berges aufgefallen?« Da niemand antwortete, tat sie es selbst mit einem Nicken. »Die Einheimischen nennen sie Gartl, in Anspielung auf den Rosengarten. Aber in einem alten slawischen Dialekt heißt ruza eigentlich nur Schutt oder Geröll.«

»Das klingt ein bisschen wie Rose«, sagte Hartwig.

Rosie nickte. »Die meisten alten Legenden gehen irgendwie auf reale Ereignisse zurück. Und je öfter die Menschen sie erzählen, desto fantastischer werden sie natürlich.«

»Aber Sie glauben nicht an Märchen oder Zwerge oder Zauberwesen?«, fragte Didi.

»Das fragst du eine Nonne?«, erkundigte sich Rosie gespielt empört. Dann lächelte sie jedoch nur umso wärmer. »Märchen sind etwas ebenso Wichtiges wie Wertvolles, doch es sind trotzdem nur Märchen.«

»Ich verstehe. So wie die Geschichte von dem Typen, den sie ans Kreuz getackert und umgebracht haben, und der danach wiederauferstanden ist«, murmelte Didi.

Schwester Rosie tat so, als hätte sie nichts gehört, und Etschs Rückkehr hinderte Didi daran, seinen Unfug auf die Spitze zu treiben. Er hatte den albernen Filzhut wieder gegen einen modernen Helm getauscht, aber er sah trotzdem mehr denn je wie ein Zwerg aus einer uralten Geschichte aus. Wenn auch ein ziemlich großer Zwerg.

»Jetzt kommt der große Moment«, sagte er. »Ich werde euch nun etwas zeigen, das vor euch erst sehr wenige Menschen zu Gesicht bekommen haben. Bedankt euch bei Hartwig. Er hat mich überredet.«

Mit einer dramatischen Geste gab er den Weg frei, und die Gruppe trat einer nach dem anderen neben ihm durch die Tür. Didi und Laurin bildeten auch jetzt wieder den Abschluss. Laurin wollte das eigentlich gar nicht, aber Didi hatte sich offenbar entschieden, ihr zu folgen wie ein treuer Dackel seinem Herrn.

Nach einer Weile blieb die Gruppe wieder stehen, und Etsch deutete auf eine Stelle, an der die Wand wie unter einem gewaltigen Hammerschlag aufgebrochen war. Dahinter war jedoch kein weiterer Fels zu sehen, sondern ein schwarzes und staubgraues Gewusel, das Laurin wie mitten im Kampf erstarrte Schlangen vorkam. Der Anblick erinnerte sie an etwas, aber sie kam nicht darauf, woran.

»Ist das da die große Überraschung?«, fragte eines der Mädchen.

Etsch schüttelte den Kopf. »Die kleine«, sagte er. »Die große folgt gleich. Aber ich finde das da auch sehenswert. Wisst ihr, was das ist?« Niemand antwortete. »Habt ihr die große Esche oben vor dem Eingang gesehen?«

»Eine Esche«, triumphierte Didi. »Sag ich doch!«

»Das sind ihre Wurzeln«, sagte Etsch.

»Wir sind hier dreißig Meter unter der Erde!«, wunderte sich Schwester Rosie. »Und so, wie diese Wurzeln aussehen, reichen sie sogar noch ein gutes Stück weiter nach unten. Dieser Baum muss mindestens tausend Jahre alt gewesen sein, als er gefällt worden ist.«

»Ein Verbrechen«, sagte Hartwig.

Niemand beachtete ihn.

»Ja, das Leben ist schon hartnäckig, nicht wahr?«, fragte Etsch. »Aber deshalb sind wir nicht hier. Kommt.«

»Und dann wird es noch spannender?«, nörgelte Michael. »Das halt ich nicht aus.«

Diesmal waren es wirklich nur ein paar Schritte, bis sie ihr endgültiges Ziel erreichten: eine weitere, unregelmäßig geformte Höhle mit den obligaten Stollen, an deren anderem Ende sich eine große Gittertür befand. Etsch ging hin und legte einen altmodischen Lichtschalter um, woraufhin hinter dem Gitter eine Anzahl genauso altmodischer gelber Glühbirnen aufleuchtete.

»Aha«, machte Didi, und: »Is’ ja’n Ding!«, pflichtete ihm Michael bei.

»Ich weiß, es sieht unspektakulär aus, aber das hier ist wirklich eine Sensation.«

»Ein Loch im Berg«, sagte Didi.

»Oder der Eingang zu Laurins Zauberreich«, schlug Michael vor. Laurin sparte es sich, ihn böse anzufunkeln.

Hinter dem Gitter kam nichts anderes zum Vorschein als ein weiterer Gang, allerhöchstens dass er etwas niedriger und schmaler war. Neugierig trat sie näher und spähte durch die Stäbe, und nun sah sie doch etwas Außergewöhnliches: An den Wänden befanden sich krakelige Zeichnungen, die mit einiger Fantasie Tiere und jagende Menschen darstellten. »Sind das Höhlenmalereien?«

Etsch nickte, sichtlich stolz, dass wenigstens sie seinen sensationellen Fund zu würdigen wusste. »Ja. Die ältesten in ganz Tirol. Wenn nicht in den gesamten Alpen.«

»Und deshalb sind wir hier?«, nörgelte Michael. »Um uns ein paar hundert Jahre alte Kritzeleien anzugucken?«

»Eher zehntausend«, sagte Etsch lächelnd. »Mindestens. Und die Sensation sind nicht einmal die Bilder, sondern die Gänge.«

»Wieso?«, fragte Schwester Rosie.