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Akademie
Solidarische
Ökonomie
, Hrsg.

Bernd Winkelmann

Die Wirtschaft
zur Vernunft bringen

Unseren Kindern,
Enkelkindern und Urenkeln
gewidmet

Akademie Solidarische Ökonomie, Hrsg.
Bernd Winkelmann

Die Wirtschaft zur Vernunft bringen

Sozialethische Grundlagen
einer postkapitalistischen Ökonomie

Tectum Verlag

Akademie Solidarische Ökonomie, eine Arbeitsgemeinschaft innerhalb der Stiftung Ökumene. Sie wurde im Sommer 2008 von engagierten Menschen gegründet, die dem Dogma angeblicher Alternativlosigkeit zur kapitalistischen Wirtschaftsweise etwas entgegensetzen möchten: Modelle einer lebensdienlichen, solidarischen und zukunftsfähigen Ökonomie. Der vorliegende Band ist im Ergebnis der Akademiearbeit entstanden.

www.akademie-solidarische-oekonomie.de

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Akademie Solidarische Ökonomie, Hrsg. Bernd Winkelmann

Die Wirtschaft zur Vernunft bringen. Sozialethische Grundlagen einer postkapitalistischen Ökonomie

© Tectum Verlag Marburg, 2016

ISBN: 978-3-8288-6572-3 (Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter
der ISBN
978-3-8288-3825-3 im Tectum Verlag erschienen.)

Umschlagabbildung: Fotolia.com © Trueffelpix (bearbeitet)

Umschlaggestaltung: Norman Rinkenberger | Tectum Verlag

Satz: Ulrich Borstelmann design & publishing

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet
www.tectum-verlag.de

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Aufbrüche und Regressionen unserer Zeit

Auf der Suche nach einer alternativen Ökonomie

Zum Anliegen und Aufbau des Buches

Dank

I.Die ökonomische Fehlentwicklung unserer Zivilisation

1Die Widersinnigkeiten kapitalistischen Wirtschaftens

1.1Die Grundparadoxie unserer Zivilisation

1.2Die Umweltparadoxie

1.3Die Armuts- und Reichtumsparadoxie

1.4Die Wachstumsparadoxie

1.5Weitere Paradoxien kapitalistischer Wirtschaftsweise

1.6Erstes Fazit: Kapitalismus heute – eine tödliche Blasenwirtschaft?

2Die Ursachenfrage klären

2.1Gier als treibender Motor

2.2Der Kapitalismus und die Systemfrage

2.3Was ist Kapitalismus? – Logik und Prinzipien kapitalistischer Wirtschaftsweise

2.4Die strukturellen Systemfehler des Kapitalismus

2.5Die Ideologien der kapitalistischen Weltanschauung

2.6Der materialistische Grundirrtum und das sozialdarwinistische Menschenbild

2.7Das mechanistische Weltbild der Neuzeit

2.8Der pseudoreligiöse Charakter des Kapitalismus

2.9Die Zivilisationsfähigkeit einer menschlichen Gesellschaft

2.10Zweites Fazit: Die kapitalistisch-ideologische Fehlsteuerung unserer Zivilisation ist die Ursache ihres Niedergangs

II.Sozialethische und spirituelle Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie

3Wirtschaft zwischen „gut“ und „böse“ – ein Blick in die Geschichte

3.1Das Gilgamesch-Epos und der Kodex Hammurapi

3.2Im antiken Griechenland

3.3Das sozialethische Potenzial der Bibel

3.4Die Achsenzeit-These

3.5Im Mittealter

3.6Die reformatorischen Bewegungen

3.7Die Überwindung der Sklaverei und der Leibeigenschaft

3.8Die Französische Revolution und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

3.9Die Entfaltung des Kapitalismus, die sozialrevolutionären Bewegungen und die Entwicklung des Sozialstaates

3.10Drittes Fazit: Das sozialethische Potenzial einer postkapitalistischen Ökonomie ist längst vorhanden

4Schlüsselfrage Menschenbild

4.1Das Glücksbedürfnis des Menschen und die Ganzheitlichkeit des Lebens

4.2Der Mensch als Sozialwesen

4.3Die Dualität des Menschen und die Kraft zum Guten

4.4Die Sinnhaftigkeit von Verzicht und Askese

4.5Viertes Fazit: Im ganzheitlichen Menschenbild und Lebensverständnis liegt eine erste Voraussetzung für eine zivilisatorische Wende

5Die Gottesfrage und die Evolution des Lebens

5.1Was ist Religion?

5.2Der Zusammenbruch der alten Gottesvorstellungen

5.3Die Neuentdeckung der Transzendenz, der Spiritualität und der Ganzheitlichkeit

5.4Die Evolution des Seins – ein sinnloses Geschehen oder die Entfaltung eines „Göttlichen“?

5.5Die Beantwortung der Sinnfrage als Schlüssel aller Welt-Anschauung

5.6Die theologische Aufgabe der Kirchen und Religionen

5.7Was ich wirklich glaube – mein eigenes Glaubensbekenntnis

5.8Fünftes Fazit: Im säkularisierten Verständnis von Transzendenz und in einer spirituell verstandenen Evolution liegt eine zweite Voraussetzung für eine zivilisatorische Wende

5.9Anstehende Aufgabe: Es gilt, die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen für den Durchbruch eines Paradigmenwechsels zu erkennen und zu fördern

III.Möglichkeiten der ökonomischen und gesellschaftlichen Transformation

6Ziele und Leitvorstellungen einer lebensdienlichen Ökonomie

6.1Grundlegende Ziele

6.2Konkrete Leitvorstellungen einer lebensdienlichen Ökonomie

7Umbau der Wirtschaft konkret

7.1Die Notwendigkeit einer Realutopie und ihre drei Testfragen

7.2Bausteine einer postkapitalistischen Ökonomie

7.3Gesamtschau des Alternativmodells

8Wendezeiten und Handlungsmöglichkeiten

8.1Wendezeiten begreifen – Erkenntnisse der Systemtheorie und der Revolutionswissenschaften

8.2Wir sind schon mitten drin – Alternative Ansätze und Bewegungen heute

8.3Doppelstrategie und politische Handlungsfelder

8.4Mögliche Szenarien

Epilog

Literaturverzeichnis, Bildernachweis

Stichwortverzeichnis

Einführung

Aufbrüche und Regressionen unserer Zeit

Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges gab es in Deutschland und Europa Aufbrüche und Neuanfänge wie selten in der Geschichte. Man erkannte bis in die Kreise des Bürgertums hinein, dass die Ursachen dieser Katastrophe nicht allein in den Verbrechen des Nationalsozialismus lagen, sondern auch in einer vom Kapitalismus getriebenen Wirtschaftsweise. So bekannte das Ahlener Programm der CDU von 1947:

„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.“

In Ostdeutschland wurde wie in allen anderen osteuropäischen Staaten der „Staatssozialismus“ eingeführt. Dies geschah unter dem Vorzeichen des Stalinismus, dem Ausschalten jeder Demokratie, der Diktatur einer „Einheitspartei“ und einer zentralistischen Planwirtschaft, die keinerlei freie und kreative Entwicklung einer sozialistischen Alternative zuließen. Solange diese Perversion des Sozialismus nicht überwunden wurde, war dieser Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt.

In Westdeutschland wurde die „soziale Marktwirtschaft“ nach den Prinzipien des Ordoliberalismus der Freiburger Schule eingeführt. Sie wollte das Prinzip eines freien Marktes mit sozialer Gerechtigkeit und der Wohlfahrtsteilhabe aller verbinden. Das ist in den ersten zwei Jahrzehnten auch überwiegend gelungen: Infolge des nötigen Neuaufbaus nach den Kriegszerstörungen gab es ein hohes Wirtschaftswachstum von jährlich bis zu 8 bis 12%. Die Gewinne der Unternehmen wie die Einkünfte der Arbeitnehmer wuchsen in gleicher Weise und führten zu einem Wohlstandszuwachs für alle Bevölkerungsschichten („Wirtschaftswunder“). Nach Abebben dieser Aufbauphase entwickelten sich jedoch die Einkommen zu Ungunsten der Arbeitnehmer gegenläufig. Die Märkte wurden enger, die globale Konkurrenz größer, auch die Ölkrise der 1970er-Jahre dämpfte das Wachstum.

Dass in der vorherrschenden Wirtschaftsweise etwas grundsätzlich anders werden müsste, signalisierte das Buch des Club of Rom Die Grenzen des Wachstums von 1972. Die Erkenntnis, dass die bis dahin ökologisch nicht hinterfragte Wachstumswirtschaft die Menschheit in eine tödliche Sackgasse führt und wir diesen Pfad dringend verlassen müssen, hatte damals eine weltweite Erschütterung ausgelöst.

Das setzte verschiedene neue Bewegungen in Gang. Zunächst waren dies die Ökologiebewegung und die Lebensstilbewegung. Schon mit den Unruhen der Jahre um und nach 1968 entstand eine breite Gerechtigkeitsbewegung, die von der Erkenntnis angetrieben wurde, dass durch die Wirtschaftsweise der reichen Industrieländer Ungerechtigkeit, Hunger und Armut in der „Dritten Welt“ angefacht werden. Hinzu kam die Friedensbewegung, die der tödlichen Logik der atomaren Abschreckung und des Wettrüstens den Geist vertrauensbildender Maßnahmen, Vorleistungen in der Abrüstung und eine gewaltlose Friedenspolitik entgegensetzte. Ende der 1980er-Jahre wurden auch im weltweiten „Konziliaren Prozess der Kirchen für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ richtungsweisende Optionen für eine grundlegend neue Ausrichtung der menschlichen Lebenskultur erarbeitet, die jenseits der kommunistischen und kapitalistischen Prämissen liegen. Die erste UN-Umweltkonferenz in Rio de Janeiro formulierte dann 1992 in der „Erklärung für Umwelt und Entwicklung“ die Prinzipien einer ökologisch, sozial und ökonomisch nachhaltigen Entwicklung der Menschheit und umriss ihrerseits die Wende zu einer zukunftsfähigen Wirtschafts- und Lebensweise. In diesen und weiteren Ereignissen erhofften viele die Anfänge eines zivilisatorischen Aufbruchs der Menschheit zu einer „besseren Welt“. Diese Aufbruchsstimmung verstärkte sich durch die „Friedliche Revolution“ im Ostblock: In der Auflösung der alten Ost-West-Blöcke sahen viele die außerordentliche Chance, zu einer weltweiten Demilitarisierung und neuen, friedlicheren Weltordnung zu kommen.

Doch mit diesem Geschehen kam es zu einer gegenläufigen Bewegung: Der Zusammenbruch des Ostblocks wurde als „Sieg des Westens über den Kommunismus“ und als Bestätigung des kapitalistischen Gesellschaftsmodells missverstanden. Hiermit sei das „Ende der Geschichte“ erreicht, so Francis Fukuyama 1992, dem zufolge erwiesen war, dass es zum westlichen System mit seinem Dreiklang von „Liberalismus, Marktwirtschaft und Demokratie“ keine Alternative mehr geben könne. Es kam zu einem rasanten Aufschwung der neoliberalen Wirtschaftsweise. Innenpolitisch zeigte er sich im Siegeszug der Großunternehmen gegenüber den kleineren Unternehmen und im Sozialabbau z. B. mit der „Agenda 2010“ und den „Hartz-Gesetzen.“

Weltweit setzte sich in der Wirtschaft die neoliberale Globalisierung durch, vorangetrieben durch die Liberalisierung des Welthandels zugunsten der reichen Staaten, durch die Entwicklung der elektronischen Kommunikation und durch die Entfesselung einer weltweiten „Finanzindustrie“, in der „Finanzprodukte“ freigegeben wurden, die vorher nicht erlaubt bzw. sehr eingeschränkt waren (Derivatehandel, Hedgefonds, Zusammenschluss von Geschäftsbanken und Investmentbanken). Exemplarisch für den Geist dieser Zeit spricht ein Satz aus dem Parteiprogramm der CDU von 2005:

„Wir entschlacken die Vorschriften zum Kreditwesengesetz und führen die bestehende Überregulierung bei der Bankenaufsicht auf das notwendige Maß zurück […]. Wir schaffen international attraktive Bedingungen für Wagniskapital, um die Gründung von innovativen Unternehmen zu fördern. Wer wagt, der gewinnt. Und mit ihm gewinnt das Land – Innovationen, Arbeitsplätze, Wachstum.“

Wer in dieser Zeit die Kapitalismusfrage, die Wachstumsfrage oder gar die Systemfrage stellte, wurde ausgegrenzt oder lächerlich gemacht – dies bis in die Reihen der „Grünen“, der Gewerkschaften und der offiziellen Kirchen hinein.

In diese neoliberale Euphorie hinein kam der Schock, die Finanzkrise von 2007/2008, ausgelöst durch betrügerische Immobilien-Kredit-Spekulationsgeschäfte der großen Banken, vorhergesagt von kundigen Menschen wie George Soros, Helmut Schmidt, Max Otte1 u. a., aufgefangen durch einige Billionen teure Rettungsaktionen der Staaten. Der Glaube an die „selbstheilenden Kräfte des Marktes“, an die immanente Stabilität des kapitalistischen Systems brach für viele zusammen. Bei einer Emnid-Umfrage im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung von 2010 sagten 88 Prozent der deutschen Bevölkerung, dass sie dieser Wirtschaftsordnung eine Lösung der großen Probleme nicht mehr zutrauen und eine „andere Wirtschaftsordnung“ nötig sei. Das Tabu der Kapitalismusfrage war gebrochen, die Zeitungen waren plötzlich voller Kapitalismuskritik.

Doch zugleich zeigte sich eine große Unklarheit und Zerrissenheit in der Frage, in welche Richtung eine neue Wirtschaftsordnung gehen könnte. Es ist eine Art politischer Schizophrenie: einerseits der vielstimmige Chor des „So geht es nicht weiter!“, andererseits wählte in den folgenden Wahlen die Mehrheit das „Weiter so“. Diese Schizophrenie ist typisch für die Zusammenbruchsphase alter Epochen, in denen das Alte nicht mehr trägt, das Neue aber noch nicht klar erkannt wird.

Auf der Suche nach einer alternativen Ökonomie

Im Zusammenbruch des Alten formieren sich die Kräfte des Neuen. So trafen sich im Sommer 2007 sieben Personen aus dem „Ökumenischen Netz in Deutschland“ zu einer Ideenkonferenz auf Burg Bodenstein. Ihr Vorhaben: „Es müsste doch möglich sein, der Behauptung, es gäbe keine Alternative zur kapitalistischen Wirtschaftsweise, zu widersprechen und Modelle einer lebensdienlichen, solidarischen und zukunftsfähigen Ökonomie“ zusammenzutragen und dem entgegenzusetzen. 2008 wurde die Akademie Solidarische Ökonomie mit genau dieser Aufgabe gegründet. Sie hat seitdem in verschiedenen Veröffentlichungen einen Richtungsentwurf und viele Bausteine einer „postkapitalistischen Ökonomie“ zusammengestellt.2

Die Akademie Solidarische Ökonomie ist nur eine von vielen weltweiten Bewegungen und Initiativen in dieser Richtung. Nur einige europäische seien hier genannt: Schon 1990 wurde die Initiative „Kairos Europa“ gegründet, ein Netzwerk von Gruppen und Einzelpersonen in Europa, die sich für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einsetzen und für eine entsprechende Änderung unseres Wirtschaftssystems arbeiten. Seit 1998 besteht die globalisierungskritische „Attac-Bewegung“, die dem neoliberalen Dogma und vor allem der Perversionen auf den Finanzmärkten entgegentritt. Es gibt in Europa und weltweit die Praxisbewegung „Solidarische Ökonomie“, die vor allem ökonomische Alternativprojekte sowie genossenschaftliche Arbeit und Betriebsübernahmen durch die Arbeitnehmer begleitet und vorantreibt. Seit 2010 gibt es die große „Gemeinwohlökonomie-Bewegung“, die von Österreich ausgeht und sich in Europa ausbreitet. Es gibt die Initiative einer „Wirtschaftswendeökonomie“ und eine starke Initiative für eine „Postwachstumsökonomie“, die sich dezidiert gegen das Wachstumsprinzip der kapitalistischen Wirtschaftsweise ausspricht und Möglichkeiten einer Postwachstumsökonomie („Degrowth-Ökonomie“) erarbeitet. Auch an den Wirtschaftsfakultäten scheint sich etwas zu tun: Seit 2012 gibt es unter Ökonomiestudenten und jüngeren Dozenten die Bewegung für eine „Plurale Ökonomik“, die gegen die einseitig neoliberale Ausrichtung der Wirtschaftslehre an den Universitäten protestiert und ein Arbeiten an Alternativmodellen der Ökonomie fordert.

Das alles macht deutlich, dass nicht nur die Tabuisierung der Kapitalismusfrage, sondern auch die Tabuisierung der Wachstumsfrage gebrochen ist. Die Enttabuisierung der damit eigentlich zwingenden Systemfrage wird indes vielfach noch abgewehrt, doch auch sie ist deutlich im Kommen.

Zum Anliegen und Aufbau des Buches

In dieser Studie nehme ich viele Inhalte auf, die in der Akademie Solidarische Ökonomie erarbeitet wurden.3 Über die in der Akademie entwickelten oder aufgegriffenen Ansätze und Bausteine einer postkapitalistischen Ökonomie hinausgehend will ich vor allem die sozialethischen und spirituellen Grundlagen einer solchen Ökonomie und ihre geistesgeschichtlichen Hintergründe herausarbeiten. In der Darstellung der ökonomischen Zusammenhänge und des Entwurfes einer postkapitalistischen Ökonomie beschränke ich mich auf die wichtigsten Kernpunkte und benenne sie so knapp, einfach und allgemeinverständlich wie möglich. Wer hier mehr wissen will, sei auf die anderen Bücher und Veröffentlichungen der Akademie verwiesen.

In dem kurzen hinführenden Kapitel I Die ökonomische Fehlentwicklungen unserer Zivilisation decke ich die Grundparadoxie auf, die in unserer vorherrschenden Wirtschaftsweise liegt. Zu erkennen ist sie in der Tatsache, dass diese Wirtschaftsweise einerseits enorme Vermögen und Reichtümer hervorbringt, andererseits aber ökologische und soziale Zerstörungen produziert, die unsere gesamte Zivilisation gefährden. Die Schlüsselursache dieser Fehlentwicklung wird in der inneren Logik und den leitenden Prinzipien des Kapitalismus erkannt. Aus ihnen haben sich die entsprechenden Mechanismen, Ordnungsstrukturen und Ideologien entwickelt, die zu den schwerwiegenden sozialen und ökologischen Verwerfungen unserer Kulturepoche führen. Als tieferer geistesgeschichtlicher Hintergrund wird die Verbindung des materialistischen und sozialdarwinistischen Menschenbildes mit dem mechanistischen Weltbild der Neuzeit aufgezeigt und die These aufgenommen, dass sich hierin der Kapitalismus zu einer Pseudoreligion entwickelt hat.

In dem zentralen und umfangreichsten Kapitel II frage ich nach den Sozialethischen und spirituellen Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. In einem geistesgeschichtlichen Rückblick zeige ich, wie in der Geschichte der Ökonomie seit ihren frühesten Anfängen um sozialethische Implikationen gerungen wurde und wie hier schon fast alles gedacht wurde, was zur Bewältigung der Krisen heute gebraucht wird. Schlüsselrolle für eine sozialethisch gegründete Ökonomie ist das Menschenbild und die Frage, woher die Kraft zum Guten kommt. Ich wage die These, dass wir aus einem Wiedergewinnen einer ganzheitlichen Wirklichkeitserfahrung, aus dem Neuentdecken von Transzendenz und Spiritualität die Umkehrkräfte für eine „große Transformation“ unseres Wirtschaftens und unserer Gesellschaft finden könnten.

In Kapitel III skizziere ich die Möglichkeiten der ökonomischen und gesellschaftlichen Transformation. Schlussfolgernd aus den Erkenntnissen in Kapitel I und II formiere ich die Ziele und Leitvorstellungen einer lebensdienlichen Ökonomie. Eher in Stichworten als in ausführlichen Erläuterungen stelle ich die Bausteine einer solidarischen Realwirtschaft vor. Es sind die wichtigsten Bausteine einer Ökonomie, die als strukturelle Systemweichen einer Transformation unseres Wirtschaftssystems fungieren können. Und schließlich skizziere ich politische Wende- und Handlungsmöglichkeiten, die nach den Erkenntnissen der Systemtheorie und Revolutionswissenschaften einen Paradigmenwechsel heraufführen können.

Die zentrale Botschaft dieser Studie ist eine dreifache:

Es gibt ein großes, ein nahezu ausgereiftes sozialethisches Potenzial für die Wende von einer zerstörerischen zu einer lebensdienlichen Wirtschaftsweise und damit zu einer zukunftsfähigen und friedensfähigen menschlichen Zivilisation.

Doch dieses Potenzial wird sich nur entfalten können, wenn die innere Logik, die Prinzipien und die Strukturen der kapitalistischen Wirtschaftsweise durchschaut und durch solidarische, kooperative und gemeinwohlorientierte Prämissen und Strukturen ersetzt werden.

Für die Entfaltung des sozialethischen Potenzials kann die Neuentdeckung einer transreligiösen Spiritualität wesentliche Inspirationen und Kräfte freisetzen. Sich dem zu öffnen, wäre heute die vielleicht größte Herausforderung für Wissenschaft und Gesellschaft, für die Kirchen und Religionen.

Zum Verständnis des Buches möchte ich besonders auf drei Dinge hinweisen:

Mit der sozialethischen und spirituellen Grundlegung einer lebensdienlichen Wirtschaft schlage ich zugleich eine Brücke zwischen Naturwissenschaft und aufgeklärter Religiosität, zwischen der Evolutionstheorie und der Gottesfrage. Ausgangspunkt ist für mich eine Theologie, die von der historisch-kritischen und entmythologisierenden Interpretation biblischer Texte ausgeht, das theistische Gottesbild hinter sich lässt und die These wagt, dass die Evolution des Seins als die Entfaltung eines „Göttlichen“ verstanden werden kann.

Im Ringen um eine postkapitalistische Ökonomie ist der arbeitsmethodische Ansatz zu beachten. Dieser liegt in vier Prämissen:

Radikaler Ansatz: Wir setzen also in allen Fragen an den Wurzeln des Problem an („radix“ = Wurzel) und suchen von ihnen her die Überwindung der Fehlentwicklungen.

Systemischer Ansatz: Unsere Wirtschaftsweise ist im Sinne der Systemtheorie als ein hoch kompliziertes System zu begreifen und kann nur durch einen Umbau grundlegender Systemelemente verändert werden.

Elementarer Ansatz: Die Wirtschaftsfunktionen sind auf ihre einfachen elementaren Grundvollzüge z. B. im Geldsystem hin zu befragen und in ihren elementaren Funktionen neu zu gestalten.

Realutopischer Ansatz: Wir müssen über das bisher Gemachte und Gedachte hinaus ganz neue Möglichkeiten denken, diese freilich auf ihre grundsätzliche Realisierbarkeit hin überprüfen.

Und schließlich soll beachtet werden, dass wir das Ganze nicht als ein fertiges Konzept, sondern als einen Richtungsentwurf verstehen. Das heißt, wir meinen schon, eine klare Richtung ansagen zu können, aber das Neue können wir nur skizzieren – mit vielen offenen Fragen und Entwicklungsmöglichkeiten, die sich erst noch ergeben werden. Dabei handelt es sich hier nicht um eine detaillierte Darstellung der vielen angesprochenen Einzelaspekte, sondern um eine Gesamtschau der sozialethischen Grundlagen einer postkapitalistischen Ökonomie und ihrer übergreifenden Zusammenhänge.

Warum wähle ich die etwas anmaßend klingende Überschrift Die Wirtschaft zur Vernunft bringen? Vernunft ist nicht nur etwas Rationales, ein Kalkül. Vielmehr ist in Vernunft immer schon Verantwortung für etwas mit eingebunden, Verantwortung auf ein „Gutes“ hin – so schon von Konfuzius, Aristoteles und Immanuel Kant grundlegend für die menschliche Zivilisation erkannt. Da die kapitalistisch-neoliberale Wirtschaftsideologie jede ethische Verantwortung ablehnt, ist sie im wahrsten Sinne unvernünftig. Wenn Wirtschaft vernünftig sein will, muss sie auf ein „gutes Leben“ hin ausgerichtet sein. Das heißt, sie muss vernunftethisch verantwortlich sein für die Erhaltung und Förderung des Lebens auf dieser wunderbaren Erde. Nur wenn unsere Wirtschaftsweise in diesem Sinne zur Vernunft gebracht wird, ist sie lebensdienlich, und nur dann werden wir die zivilisatorischen Krisen unserer Zeit bewältigen.4

Als Beispiel und Herausforderung für eine Vernunft mit oder ohne ethische Verantwortung will ich an Albert Einstein und Johann von Neumann erinnern. Beide waren an der Entdeckung und Entwicklung der Kernspaltung in den USA beteiligt. Von Neumann arbeitete mit an der Konstruktion der Atombombe, berechnete ihre höchste Sprengkraft und riet aus rationalem Kalkül heraus zu ihrem Einsatz in Japan. Als Einstein die verheerende Zerstörungskraft der Kernspaltung erkannte, stieg er aus moralischen Gründen aus dem amerikanischen Atombombenprogramm aus und unterzeichnete 1955 den „Russel-Einstein-Aufruf“ gegen den Bau der Atombombe.

Dank

Danken möchte ich vielen Freunden und Fachleuten aus der Akademie und darüber hinaus, die mich mit fachlichem Wissen, Anregungen, kritischen Hinweisen und guter Zusammenarbeit ermutigt haben. Besonders nennen möchte ich Norbert Bernholt, Klaus Simon, Christoph Körner, Harald Bender, Franz Groll, Roland Geitmann (†), Hans-Jürgen Fischbeck, Ulrich Duchrow, Franz Segbers, Johannes Bickel, Rainer Hanemann, Peter Schönhöffer, Gerhard Breidenstein.

Dank an Ingrid Pretzsch, die die Texte sprachlich durchgesehen hat. Dank den Mitarbeiter des Tectum-Verlages, die mit großer Freundlichkeit das Erscheinen des Buches ermöglicht haben. Und Dank meiner Frau Annemarie, die mich in meiner Arbeit mit viel Geduld begleitet.

1Max Otte sagte 2006 mit seinem Buch Der Crash kommt ziemlich exakt die Finanzkrise voraus.

2Zu den Veröffentlichungen gehören folgende Bücher: Harald Bender, Nobert Bernholt und Bernd Winkelmann: Kapitalismus und dann? Systemwandel und Perspektiven gesellschaftlicher Transformation, 2012; Harald Bender, Norbert Bernholt und Klaus Simon: Das dienende Geld. Die Befreiung der Wirtschaft vom Wachstumszwang, 2014; Klaus Simon: Zwickmühle Kapitalismus. Auswüchse und Auswege, 2014. Verschiedene Einzelbausteine und Aufsätze unter www.akademie-solidarische-oekonomie.de und www.winkelmann-adelsborn.de.

3Dies geschieht dezidiert immer dann, wenn ich von „wir“ spreche.

4In diesem Sinn hat der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich eine vernunftethisch begründetet Wirtschaftsethik entwickelt; siehe sein Bücher Integrative Wirtschaftsethik: Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie und Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wirtschaftsethische Orientierung.

I.Die ökonomische Fehlentwicklung unserer Zivilisation

1Die Widersinnigkeiten kapitalistischen Wirtschaftens

Wieso soll das kapitalistische Wirtschaften widersinnig sein? Uns geht es doch sehr gut, uns in Deutschland und in den anderen führenden Industrienationen. In Deutschland besitzt mehr als jeder zweite Erwachsene ein Auto. Die Geschäfte und Märkte sind übervoll an erlesenen Nahrungsmitteln, modernsten Geräten sowie Konsum- und Luxusartikeln aller Art. In den Privathaushalten trifft man auf Fernsehgeräte, Kühlschränke, Computer, modernste Handys und Smartphones, die alle auf dem neusten technischen Stand sind. Hungern braucht keiner in unserem Land, im Gegenteil: 40 bis 50 Prozent der Menschen sind übergewichtig. Kleidung gibt es zu Spottpreisen.

Sicher gibt es die Hartz-IV-Empfänger und noch einige Arbeitslose. Aber das soziale Netz fängt in Deutschland doch noch jeden auf, der da hineinfällt, bietet also Sicherheit, wie sie sonst nirgendwo zu finden ist. Die übrige Welt? Nun ja, da gibt es mehr Armut als bei uns. Aber die Zahl der absolut Armen ist auf eine Milliarde Menschen gesunken. Was es da an Not, Hunger und Kriegen in der Welt noch gibt, wird genau mit den Mitteln besiegt werden können, die uns den Reichtum gebracht haben: mit den enormen Siegen der industriellen Revolution seit 200 Jahren, mit dem Siegeszug der digitalen Elektronik und Kommunikationstechnik heute und genau mit dem, was die kapitalistische Wirtschaftsweise betreibt: freie Märkte, Privatinitiative und Wettbewerb, Wachstum und fortlaufende Investitionen in neue Techniken und Unternehmen. Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist nicht gescheitert, sondern hat sich als Reichtums- und Fortschrittsmotor bestens bewährt.

Ja, so kann man es sehen, wenn man zu den Gewinnern dieser Wirtschaftsweise gehört. Doch diese Sicht ist blind für die eigentlichen Nöte und Gefährdungen in unserer Welt, blind für die tief greifende Widersinnigkeit unserer gegenwärtigen Zivilisation.

1.1Die Grundparadoxie unserer Zivilisation

Die Paradoxie und Widersinnigkeit unserer gegenwärtigen Zivilisation liegt in zwei gegenläufigen Entwicklungen:

Einerseits erleben wir eine enorme Steigerung des Produktionspotenzials, des Geldvermögens und der Reichtümer, der wissenschaftlichen, auch ökologischen Erkenntnisse und der technischen Fähigkeiten – das alles in einem Tempo und auf einem Niveau, wie es das in der bisherigen Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hat. Dafür nur drei exemplarische Zahlen: Das Weltsozialprodukt hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt, der Welthandel verdreifacht, und das Wissen der Menschheit verdoppelt sich alle ein bis zwei Jahre.

Andererseits erfahren wir keine Lösung, sondern eine massive Zuspitzung schwerwiegender gesellschaftlicher Probleme: die wachsende Schere von Arm und Reich, die Überproduktion an Nahrungsmitteln bei gleichzeitigen Hungerkatastrophen, die wachsende Fremd- und Selbstausbeutung im Arbeitsprozess, die Ausgrenzung aus Arbeit, aus ertragreichem Lohn und sozial-kultureller Anteilhabe, wachsende Umweltzerstörung, die Zunahme neuer kriegerischer Konflikte und des internationalen Terrorismus, der Zerfall von Staaten, Massenmigrationen …

Die Widersinnigkeit dieser Entwicklung liegt darin, dass die Menschheit im höchsten Maße das materielle, technische und intellektuelle Potenzial hat, um die Fehlentwicklungen zu überwinden – und dass genau dies gegen alle Vernunft nicht getan wird. Warum nicht? Hier gibt es wohl zwei Gründe: Es wird zwar über verschiedene Missstände in der Wirtschaft, über die Umweltzerstörung, über die sozialen Ungerechtigkeiten und das Versagen der Politik geklagt, aber die tiefere Unstimmigkeit in unserer gegenwärtigen Art zu leben wird kaum gesehen. Von daher wird die Ursachenfrage, wenn überhaupt, nur oberflächlich und in vordergründigen Details gestellt. Um beides zu tun, die tiefer gehende Unstimmigkeit unserer Zivilisation zu begreifen und ihre Ursachen zu erkennen, müssen die Einzelparadoxien genauer angesehen werden. Mindestens drei von ihnen haben exemplarischen Schlüsselcharakter: die Umweltparadoxie, die Parodie von Armut und Reichtum, die Wachstumsparadoxie.

1.2Die Umweltparadoxie

Die Widersinnigkeit der Umweltparadoxie liegt darin, dass wir Menschen mit unserem gegenwärtigen wirtschaftlichen Handeln das Ökosystem, von dem wir leben, schwer schädigen und damit unsere eigene Existenz gefährden. Dahinter steht das unbegreifliche Ignorieren einer unabänderlichen Tatsache, nämlich dass es in einer endlichen Welt kein unendliches Wachstum geben kann, wie es die Wirtschaft erwartet. Diese Fehlerwartung hat zum empfindlichen Überschreiten des ökologisch Tragbaren, zu einem zu großen ökologischen Fußabdruck geführt.

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Der ökologische Fußabdruck meint den Umweltverbrauch in Nutzung und Belastung des Ökosystems und der natürlichen Ressourcen. Er lag Jahrtausende über bei einem Bruchteil des maximal verträglichen Maßes. Mit der industriellen Revolution stieg er steil an. Anfang der 1960er-Jahre lag er bei 50 Prozent der weltweiten Belastungsgrenze. Ende der 80er-Jahre überschritt die Menschheit das maximal verträgliche Maß von 100 Prozent (Faktor 1). Zwanzig Jahre später um 2011 lag der Umweltverbrauch im weltweiten Durchschnitt bei etwa 50 Prozent über dem für unsere Erde verträglichen Maß. In Deutschland liegt er heute bei dem Drei- bis Vierfachen, in den USA bei dem Acht- bis Zehnfachen. Das heißt: Wenn alle Menschen der Welt so leben wollten wie wir in Deutschland, brauchten wir drei bis vier Erden. Nach Berechnungen des Weltzustandsberichtes des WWF von 2014 wird 2030 der ökologische Fußabdruck der Menschheit doppelt so groß sein wie das für die Erde verträgliche Maß.5 Jede vernünftige Logik sagt, dass ein „Weiter so“ in eine Katastrophe führt und dringend umgesteuert werden muss.

Das deutliche Überschreiten des ökologisch Verträglichen geschieht vor allem auf drei Ebenen: im Ausstoß klimaverändernder Gase (Klimawandel), im Verlust an Biodiversität, also der Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten, und im Raubbau an unwiederbringlichen Rohstoffen.

Der Ausstoß klimaverändernder Gase hat in den letzten 200 Jahren durch das Verbrennen fossiler Bodenschätze (Kohle, Erdöl und Erdgas) zum verstärkten Freisetzen von CO2 und weiterer klimaschädlicher Gase wie Methan und Lachgas geführt. So ist in den letzten reichlich hundert Jahren die Erddurchschnittstemperatur um ca. 1 Grad gestiegen. Wird der Ausstoß der klimaschädlichen Gase nicht drastisch gesenkt, wird bis Ende dieses Jahrhunderts die Erdtemperatur um 4 bis 6 Grad ansteigen – mit verheerenden Folgen: Abschmelzen des Polareises und der Gletscher, Anstieg der Meeresspiegel um bis zu vier oder mehr Meter, Versinken flachliegender Länder im ansteigenden Meeresspiegel, Ausbreitung der Wüstenregionen, Verlust an Ackerland, extreme Unwetterkatastrophen – und in deren Folge Hungerkatastrophen, Umweltmigration, Krieg um Ressourcen und Überlebensinseln in bisher nicht dagewesenem Ausmaß. Die UN-Klimakonferenz 2015 in Paris hat noch einmal unterstrichen: Wenn die schlimmsten Folgen verhindert werden sollen, müsste der Temperaturanstieg bis 2100 auf maximal 2 Grad, möglichst auf 1,5 Grad beschränkt werden. Dazu müsste in den nächsten 20 Jahren der industrielle CO2-Ausstoß pro Person im Jahr weltweit auf zwei bis drei Tonnen gesenkt und bis 2060 auf null zurückgefahren werden – er liegt in Deutschland gegenwärtig bei etwa elf Tonnen, in den USA bei 19 Tonnen. Die Beschlüsse der Pariser Klimakonferenz mit Zustimmung von 190 Vertragsstaaten waren sicher ein Durchbruch guten Willens. Doch eine gewisse Skepsis ist begründet. Denn entgegen der Beschlüsse der Weltklimakonferenz von 1997 in Kyoto ist der weltweite CO2-Austoß gegenüber 1990 nicht gesunken, sondern seitdem um 60 Prozent gestiegen. Fachleute weisen immer wieder darauf hin, dass das Zeitfenster, das uns bleibt, den Temperaturanstieg auf unter 2 Grad zu halten, nicht mehr als die nächsten 15 bis 20 Jahre umfasst.6 Das heißt, in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren müssten die wichtigsten Gegenmaßnahmen realisiert werden.

Mit und neben der drohenden Klimakatastrophe droht ein empfindlicher Verlust an Biodiversität. Dies geschieht vor allem durch die Versiegelung von Flächen, durch die Chemisierung der Landwirtschaft, durch das Abholzen von Wäldern, durch die „Vermüllung“ der Meere und sonstigen Gewässer und der gesamten Welt. Diese Entwicklungen vergiften und zerstören den Lebensraum unendlich vieler Arten. Nach dem Weltzustandsbericht des WWF von 2014 sind in den letzten 40 Jahren in den Tropenwäldern der Erde über 50 Prozent der Tier-und Pflanzenarten durch menschliche Einwirkungen ausgestorben. Das ist das „größte Artensterben seit dem Verschwinden der Dinosaurier.7 Dieser Verlust an Vielfalt von Tier- und Pflanzenarten ist darum so gefährlich, weil er zu einem empfindlichen Rückgang der Regenerationsfähigkeit der Natur und des Lebens führt.

Der dritte Faktor, der Raubbau nicht nachwachsender Ressourcen, hat ebenfalls verheerende Folgen. Es werden heute Bodenschätze abgebaut, die unwiederbringlich sind und kaum durch Ersatzstoffe kompensiert werden können. Neben den fossilen Bodenschätzen sind dies Metalle, seltene Erden, Phosphor und andere seltene Salze. Der Peak Oil, also der Punkt, von dem an weniger Öl neu erschlossen werden kann, als verbraucht wird, ist wahrscheinlich bereits heute überschritten. Darüber hinaus sprechen Niko Paech und andere Fachleute von einem Peak Everything: Nicht nur die Ölreserven sind in naher Zukunft erschöpft, sondern grundsätzlich alle nicht nachwachsenden Rohstoffe.8 Auch nachwachsende Rohstoffe wie Holz, Ackerland, Nahrungsmittel, Ressourcen der Meere u. a. betrifft der Peak Everything, wenn sie weiterhin so übernutzt werden wie bisher.9 Diese Lebensgrundlagen sind dann morgen nicht mehr da bzw. so erschöpft und so teuer geworden, dass sie kaum noch genutzt werden können. Bei einigen Bodenschätzen wird das schon in den nächsten Jahrzehnten der Fall sein, z. B. bei Phosphor, bei anderen wird es länger dauern, z. B. bei Kohle.10

Das Erschreckende an all diesen Entwicklungen sind zwei Phänomene. Das eine ist die zeitliche Kürze und das Tempo dieser Prozesse. Ganz sicher hat es in der langen Evolutionsgeschichte des Lebens auf der Erde schon verschiedene Katastrophen wie Klimaerwärmungen und Massenaussterben von Arten gegeben, aber die gegenwärtigen Prozesse geschehen in äußerst kurzer Zeit, genauer in den letzten 150 und den kommenden 100 Jahren.

Das zweite Phänomen ist die eigentlich unbegreifliche Tatsache, dass alle Verantwortlichen um diese Dinge wissen und wissenschaftliche wie auch technologische Mittel vorhanden sind, die aufgezeigten Entwicklungen zu verhindern, ein wirkliches Umsteuern bisher aber nicht gelungen ist. Wir „verfeuern“ heute wissentlich das, wovon unsere Kinder und Enkel in Zukunft leben wollen.11

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1.3Die Armuts- und Reichtumsparadoxie

Die Widersinnigkeit dieser Paradoxie liegt darin, dass die enormen Zuwächse an materieller Wertschöpfung und Reichtümern vor allem einer kleinen Minderheit zugutekommt, eine große Mehrheit aber kaum oder gar nicht an diesen Zuwächsen teilhat, sondern eher ärmer wird.

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So ist das Gesamtvermögen in Deutschland in den letzten Jahrzehnten jährlich um etwa 7 Prozent gewachsen und lag 2013 bei über 11 Billionen €.12 Die Grafik zur Vermögensverteilung zeigt zum einen die extreme Ungleichheit in der Teilhabe am Gesamtvermögen und zum anderen die auseinandergehende Schere zwischen den Superreichen und der unteren Hälfte der Bevölkerung: Das Vermögen der oberen 10 Prozent der Bevölkerung ist von 2002 bis 2014 um fast 10 Prozentpunkte von 57,9 Prozent auf über 67 Prozent des Gesamtvermögens in Deutschland gewachsen, während das Vermögen der unteren 50 Prozent im gleichen Zeitraum von 1,7 Prozent auf 1,2 Prozent des Gesamtvermögens gesunken ist. Noch deutlicher sind die Zahlen beim Vergleich der Nettoeinkünfte: Diese haben sich für die oberen 10 Prozent in zehn Jahren etwa um 10 bis 30 Prozent erhöht, während die Nettoeinkünfte der Lohnempfänger um 2 bis 3 Prozent gesunken sind. Exemplarisch für diese unglaubliche Ungleichheit sind die Löhne und Einkommen. So lagen die Einkommen der führenden deutschen Manager 2011 im Durchschnitt bei dem 200-Fachen des Durchschnittseinkommens eines Arbeitnehmers; das sind ca. 500.000 € im Monat oder 6 Mio. € im Jahr – mit Spitzengehältern bis zu 16Mio. € im Jahr (ehemaliger VW-Chef Winterkorn). Die Durchschnittseinkommen der Lohnempfänger liegen in Deutschland bei 2.000 bis 3.000 €, die Einkommen im Niedriglohnbereich für vier Millionen Vollzeitbeschäftigte unter 1.200 € brutto.13

Noch erschreckender ist die weltweite Entwicklung von Armut und Reichtum. Es ist zwar richtig, dass sich in den Schwellenländern eine Mittelschicht mit mittlerem Wohlstand entwickelt hat, doch insgesamt hat sich die Reichtums-Armuts-Schere weiter geöffnet. Nach der Oxfam-Studie 2016 besaßen 2010 die reichsten 388 Menschen so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung; 2016 besitzen die 62 reichsten Einzelpersonen der Welt so viel wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Oder anders gezählt: Das reichste eine Prozent besitzt mehr als die restlichen 99 Prozent der Weltbevölkerung. Erschreckend sind das Tempo und das scherenartige Auseinandergehen der Reichtums-Armuts-Entwicklung.14

Diesem Reichtum steht eine für uns kaum vorstellbare Armut gegenüber, z. B. die Tatsache, dass mehr als eine Milliarde Menschen mit weniger als 1,25 Dollar Tageseinkommen in absoluter Armut leben. Dahinter stehen Menschenschicksale von vielen Millionen Kindern, die verhungern oder auf Müllhalden leben, von Frauen, die unter sklavenartigen Bedingungen in Fabrikanlagen arbeiten, von Männern, die aus Sinn- und Perspektivlosigkeit sich dem Alkohol ergeben oder dem Extremismus verschreiben.

Das Skandalöse dieser Fakten liegt nicht erst in der Ungerechtigkeit gegenüber den Ärmeren, sondern in der skrupellosen Bereicherung der Superreichen. Es muss begriffen werden, dass der Reichtum der Reichen nur zum geringsten Teil auf eigenen Leistungen beruht, denn auch der tüchtigste Mensch kann nicht das Dutzend- oder Vielhundertfache einer Durchschnittsleistung erbringen. Diese Reichtümer sind vielmehr durch ausbeuterische Abschöpfungsstrategien auf Kosten der Ärmeren und der Natur erbeutet worden und darum als Raub anzusehen. Was ist das für eine Gesellschaft, die sich das gefallen lässt? Heiner Geißler stellte schon 2004 fest: „Die Gier nach Geld zerfrisst den Herrschenden ihre Gehirne.“ Und er fragt: „Wo bleibt der Aufschrei?“ – der Aufschrei der Parteien, der Kirchen, der Verantwortungsträger?15

Neben der räuberischen Bereicherung der Reichen sind das Schweigen und die Tatenlosigkeit der Politiker das zweite Skandalöse. Den Politikern beim Weltwirtschaftsforum 2016 in Davos wurden die jüngsten Fakten der Oxfam-Studie vorgelegt – so auch die Tatsache, dass neun von zehn Großkonzernen große Teile ihrer Gewinne in Steueroasen verschieben und dadurch allein den Entwicklungsländern jährlich mindesten 100 Milliarden US-Dollar an Steuereinahmen verloren gehen. Politische Konsequenzen werden nicht gezogen. Warum nicht? Wohl darum, weil die Konzentration von Reichtümern in der Hand weniger eine ungeheure politische Macht entwickelt hat. Es ist tagtäglich zu sehen, dass die wirtschaftlichen Machtträger die Weltpolitik mehr steuern als alle demokratisch legitimierten Regierungen. Die geballte Macht der Superreichen hat den Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft weitgehend ausgehebelt.

1.4Die Wachstumsparadoxie

Diese Paradoxie besteht darin, dass man die Folgen der kapitalistischen Wachstumswirtschaft wie Naturzerstörung, Armut, Arbeitslosigkeit und Ähnliches mithilfe weiteren Wachstums gleicher Art überwinden will. Dass dies in ständige Sackgassen führt, ist an folgenden Einzelwidersprüchen und Irrtümern zu sehen.16

Der erste Irrtum besteht darin, dass in der vorherrschenden Meinung Wohlfahrt und Wirtschaftswachstum verwechselt werden. Die Angaben zum Wirtschaftswachstum messen aber nicht die Wirtschaftsleistung und die Lebensqualität, sondern die jährliche prozentuale Zunahme der Produktion gegenüber dem Vorjahr (Wirtschaftsrate17).So ist z. B. die Wachstumsrate in Deutschland von 1951 bis 2011 von etwa 8 bis 10 Prozent auf etwa 1 bis 2 Prozent gesunken. Doch ist die Wirtschaftsleistung linear stetig gestiegen: Das Bruttoinlandprodukt (BIP) lag 1951 umgerechnet bei etwa 250 Mrd. €, um 2011 bei etwa 2.500 Mrd. €. Demnach ist die Wirtschaftsleistung bei fallender Wachstumsrate um etwa das Zehnfache gestiegen! Die Wirtschaftsleistung und das Wohlergehen der Gesellschaft können sich auch bei einem Nullwachstum der Wachstumsrate stabil weiterentwickeln.

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Weiterhin wird nicht gesehen, dass in den hochindustrialisierten Ländern wie in Europa, den USA, Japan und anderen die Wachstumsfelder zunehmend erschöpft oder gesättigt sind. Das heißt, die natürlichen Ressourcen werden immer knapper, ihre Ausbeutung muss aus Kosten- und Umweltschutzgründen heruntergefahren werden. Zudem sind die Märkte mit den wichtigsten Gütern eher übersättigt, als dass es einen Mangel gibt Bevölkerungswachstum und besondere neue Aufbauphasen gibt es in den entwickelten Ländern nicht.

Da aber wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden eine kapitalistische Wirtschaftsweise mental und systemisch bedingt ohne Wachstum nicht leben kann, versucht sie, mit allen erdenklichen Mitteln die begrenzten Wachstumsfelder nahezu gewaltsam neu aufzubrechen. Dies geschieht vor allem

durch künstliche Entsättigung der annähernd gesättigten Märkte durch das Suggerieren neuer und größerer Bedürfnisse mittels psychologisch raffiniert eingesetzter, zum Kaufen verführender Werbung und Konsummarketing, die zur Werteverirrung des Konsumismus führen;18

durch Produktivitätssteigerung, Rationalisierung, Arbeitsplatzabbau („Entlassungsproduktivität“), Drängen in Niedrigstlöhne und nicht reguläre Arbeitsplätze (Zeitarbeit u. Ä.), um durch billigere Produkte zum weiteren Kaufen zu animieren und zugleich Konkurrenten auszuschalten;

durch Externalisieren (Abschieben) von ökonomisch verursachten sozialen und ökologischen Kosten auf die Allgemeinheit, den Staat, den Steuerzahler nach dem Motto „Gewinne privatisieren, Kosten sozialisieren“;19

durch die Eroberung neuer Märkte in weniger entwickelten Ländern und durch die Verlagerung von Produktion und Arbeitsplätzen in „Billiglohnländer“, in denen die sozialen und ökologischen Standards wesentlich niedriger sind und teils unter sklavenartigen Arbeitsbedingungen sehr billig produziert wird;

durch das Aufnehmen von Schulden (Verschuldungsökonomie) für Investitionen zur Ankurbelung der Wirtschaft;

durch den Zusammenschluss transnationaler Konzerne, die kleinere Unternehmen vom Markt drängen und Politik und Wirtschaft in ihrem Sinne beherrschen können.

Damit versucht man genau mit den Mitteln die Wachstumskrise zu überwinden, die zu ihr geführt haben: mit dem weiteren Ausschluss und der Armut breiter Schichten, dem Engerwerden der Märkte, dem Ausschluss von Marktteilnehmern, dem Sinken der Kaufkraft, weiterem Raubbau an den natürlichen Ressourcen, der Verarmung der öffentlichen Hand usw.

Nun meint man, mit dem „Green New Deal“ aus diesen Widersprüchen herauszukommen. Der „Green New Deal“ strebt einen ökologischen Umbau der Industriegesellschaft an, der durch eine hohe Effizienzsteigerung der Technologien und durch eine Ökologisierung aller Prozess („Grüne Technologierevolution“) ein weiteres Wirtschaftswachstum ermöglicht, ohne die ökologischen Grenzen zu überschreiten. Ernst Ulrich von Weizsäcker spricht hier von einem „Faktor fünf“ und meint damit, dass auf diesem Wege ein doppelter Wohlstand mit einem halbierten Naturverbrauch möglich sei.20Rebound-Effekt21