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NESTROYANA

33. Jahrgang 2013 – Heft 3/4

Blätter der

INTERNATIONALEN
NESTROY-GESELLSCHAFT

Herausgeber:

Verein „Internationale Nestroy-Gesellschaft“

Postanschrift: Gentzgasse 10/3/2, A-1180 Wien

E-Mail: nestroy.gesellschaft@vienna.at

Mitglieder des Vorstandes:

Heinrich Kraus (Präsident); Jürgen Hein, Otmar Nestroy, W. Edgar Yates (Vizepräsidenten); Karl Zimmel (Geschäftsführer); Brigitte Wagner (Kassierin); Gottfried Riedl, Johann Lehner (Schriftführer); Julia Danielczyk, Herbert Föttinger, Wolfgang Greisenegger, Peter Gruber, Hannes Heide, Stefan Hulfeld, Johann Hüttner, Marc Lacheny, Marion Linhardt, Matthias Mansky, Robert Meyer, Walter Obermaier, Karl Schuster, Ulrike Tanzer, Thomas Trabitsch.

Wissenschaftlicher Beirat:

Prof. Dr. Katherine Arens (Austin/Texas), Prof. Dr. Jürgen Hein (Münster–Köln),

Prof. Dr. Johann Hüttner (Wien), Dr. Walter Obermaier (Wien),

Prof. Dr. Ulrike Tanzer (Salzburg), Prof. Dr. W. Edgar Yates (Exeter).

Schriftleitung:

Prof. Dr. Marion Linhardt, Opernstraße 5, D-95444 Bayreuth

E-Mail: marion.linhardt@uni-bayreuth.de

Erklärung über die grundlegende Richtung des periodischen Mediums:

Die Zeitschrift veröffentlicht wissenschaftliche Arbeiten über das Altwiener Volkstheater und im Besonderen über das Werk und die Person Johann Nestroys und berichtet über die Tätigkeit der Internationalen Nestroy-Gesellschaft.

Abonnements laufen ganzjährig und müssen eingeschrieben einen Monat vor Ablauf abbestellt werden, sonst erfolgen nach Usancen im Zeitungswesen Weiterlieferung und -verrechnung.

Siglen

CGJohann Nestroy’s Gesammelte Werke, hg. von Vincenz Chiavacci und Ludwig Ganghofer, 12 Bde., Stuttgart 1890–1891.
SWJohann Nestroy, Sämtliche Werke, hg. von Fritz Brukner und Otto Rommel, 15 Bde., Wien 1924–1930.
GWJohann Nestroy, Gesammelte Werke, hg. von Otto Rommel, 6 Bde., Wien 1948–1949.
Stücke 1, Sämtliche
Briefe, Dokumente,
Nachträge
Einzelbände der Historisch-kritischen Nestroy-Ausgabe, hg. von Jürgen Hein, Johann Hüttner, Walter Obermaier und W. Edgar Yates, Wien, München 1977–2010 (HKA).

33. Jahrgang 2013 – Heft 3/4

Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung des Magistrats der Stadt Wien, MA7 – Kultur, Wissenschaft und Forschung

Rechte der Beiträge bei den Autoren

ISSN 1027-3921

ISBN 978-3-99012-134-4 Hollitzer Wissenschaftsverlag, pdf

ISBN 978-3-99012-135-1 Hollitzer Wissenschaftsverlag, epub

Erschienen 2013 bei Verlagsbüro Mag. Johann Lehner Ges.m.b.H. – www.verlag-lehner.at

A-1160 Wien, Redtenbachergasse 76/7, E-Mail: verlagsbuero.lehner@gmx.at in Verlagskooperation mit HOLLITZER Wissenschaftsverlag, Wien – www.hollitzer.at
(e-book Ausgabe)
Alle Rechte vorbehalten

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Gewidmet Otmar Nestroy
zum 80. Geburtstag

Julius Lottes

Die Subversivität des Textes.
Zwei Possen Adolf Bäuerles vor dem Hintergrund der vormärzlichen Öffentlichkeit

Um die Kommunikation im Theater des 18. Jahrhunderts, vor allem aber des 19. Jahrhunderts zwischen Kommerz, Zensur und Zerstreuung1 besser verständlich zu machen, möchte ich die textkonstitutiven Kräfte des Wiener Theaters in ihrem Zusammenwirken näher erklären.

Die obrigkeitliche Zensur der restaurativen Staats- und Kulturpolizei des Vormärz ist in unserem Kontext nicht nur von Belang, weil sie zu ihrer Zeit die Grenze des Sag- und Darstellbaren markierte und der Theaterkultur den Stempel aufdrückte, sondern weil sie damit für uns die Deutungshorizonte der österreichischen Unterhaltungsliteratur des Vormärz und ihre Möglichkeiten neu vermisst. Österreichische Literatur des Vormärz kann nur mit der Methode des close reading vor dem Hintergrund der Produktions- und Rezeptionsvoraussetzungen der Zensur erschlossen werden. Etwas provokativ könnte man sagen, dass das vormärzliche (Vorstadt-)Theaterpublikum die Lesekompetenz des Gegen-den-Strich-Lesens, die in der neueren Literaturtheorie propagiert wurde, unter dem Druck des Zensursystems sozusagen avant la lettre längst entwickelt hatte und dass dieses Theater Texte hervorbrachte, die Hermeneutik und Dekonstruktion ineinandergreifen lassen.

Während sich die Zensurverordnung von 1795 als „Magna Charta des franziszeischen Regierungssystems“ (Silagi) gegen das Druckgewerbe richtete,2 ist für uns die Zensurverordnung von 1810 von zentraler Bedeutung, da sie den Umgang mit der Literatur neu regelte und bis 1848 im Inneren der Monarchie vorherrschend blieb.3 Diese Zensurverordnung von 1810 ist in einem sehr liberalen Grundton gehalten, der sich einerseits aus der Erfahrungskontinuität der napoleonischen Besatzungszeit erklären lässt4 und andererseits einen bewussten Rückgriff auf die Traditionen der josephinischen Bürokratie darstellt. Das eigentlich Entscheidende besteht aber darin, dass die Zensurverordnung bis 1847 überhaupt nicht publiziert worden ist.5 Die Rechte des Schriftstellers, die in den Paragrafen der Zensurverordnung von 1810 angesprochen werden, haben vielmehr nur illusorischen Charakter, der Rechtsanspruch bleibt ihnen versagt. Unser Dichter sieht sich also einem Zensor gegenüber, der „sein Amt nach Gewohnheit und Herkommen“6 ausübt, während sich der Schriftsteller selbst auf keines seiner Rechte berufen kann, weil nach Normen über ihn geurteilt wird, die er gar nicht kennt. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht mehr staatsutilitaristische volksaufklärerische Erziehungsintentionen, sondern die bloße Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Mittelpunkt gestanden haben dürfte,7 wobei die begründeten Verbote des langjährigen Zensors Hägelin rigorosen Streichungen und Schwärzungen gewichen sind.

Die einzige „Modernisierung“, welche die restaurativen Kultur- und Staatspolizisten um Metternich und Gentz im Hinblick auf den Umgang mit der Literatur und die im Entstehen begriffene Öffentlichkeit8 an den Tag legten, bestand also in einer Verschleierungs- und Arkanisierungspraxis ihrer Handlungsspielräume. Diese hatte sich im Übrigen bereits bei der Zensurverordnung von 1803 abgezeichnet und lässt sich dann bei den Karlsbader Beschlüssen beobachten, die ebenfalls nicht publiziert wurden.9

Für das Theater als sozialen Versammlungsraum hatte das die Bedeutung, dass sozial- und tagespolitische Fragen mittels einer „poetischen Indirektheit“10 nur versteckt auf der Bühne zur Sprache kommen konnten, welche die Zuschauer aus einer Wien-eigenen, aus der Tradition der Wiener Komödie11 herkommenden Kultur des Mit- und Gegenlachens zu dekodieren wussten.12 Aufgrund der immer engmaschiger werdenden Gängelung durch die Zensur, die das Theater als sozialen Raum im Hinblick auf Stimme, Gestik, Mimik zu fixieren suchte, musste die Komik auch immer subtiler werden. An die Stelle der körperlichen grotesken Komik und des sozialen Kontrastkostüms eines Hanswurst ist jetzt die ausschweifende Wortkultur des österreichspezifischeren Thaddädl, Kasperl und Staberl getreten. Der Wandel der Komik weg vom Erscheinungsbild und sozialen Kontrastspiel hin zur Wortkultur bedeutet eine Aufwertung der Dichter der Possen, weil er den Schauspielern die Aussagen mit Blick auf die Zensur in den Mund legt. Es sind nicht mehr Typen, sondern schon Charaktere, die der immer stärker werdenden Frankophobie wegen, die die Monarchie erfasste, sich in entkonkretisierten, ausgelagerten und verdeckten Politsatiren Gehör verschaffen.

Die Wiener Theaterkultur des 18. und 19. Jahrhunderts führt gleichsam das im Metternich’schen Österreich geradezu als Paradoxon daherkommende Verhältnis von Vormärz und Öffentlichkeit zu einer vormärzlichen Öffentlichkeit zusammen, wobei das Publikum das realpolitische Handeln mit dem literaturpolitischen zu kompensieren suchte. Zu diesem Schweigen bemerkt Johann Gottfried Seume in seinem Spaziergang nach Syrakus:

Ueber die öffentlichen Angelegenheiten wird in Wien fast nichts geäußert, und Du kannst vielleicht Monate lang auf öffentliche Häuser gehen, ehe Du ein einziges Wort hörst, das auf Politik Bezug hätte; so sehr hält man mit alter Strenge eben so wohl auf Orthodoxie im Staate wie in der Kirche. Es ist überall eine so andächtige Stille in den Kaffeehäusern, als ob das Hochamt gehalten würde, wo jeder kaum zu athmen wagt. Da ich gewohnt bin, zwar nicht laut zu enragieren, aber doch gemächlich unbefangen für mich hin zu sprechen, erhielt ich einige Mahl eine freundliche Weisung von Bekannten, die mich vor den Unsichtbaren warnten.13

Das Publikum ist nicht nur Publikum im klassischen Sinne, sondern es wird zum Mitspieler.14 Bühne und Publikum sprechen gemeinschaftlich auf der Bühne,15 teilen die sozio-ökonomischen Erfahrungswelten16 und schaffen sich so eine Öffentlichkeit, die der Staat mit Argusaugen und -ohren zu beobachten und auch zu beschneiden sucht. Die vormärzliche Öffentlichkeit versammelt sich daher über die Kommunikationsmöglichkeiten des Theaterinnenraumes und unterhält sich über die Rezeptionsform des Lachens.

Gegenüber dem Unterhaltungstheater bezog die Staatsmacht eine zwiespältige Position. Einerseits wurde den Vorstadtbühnen eine Unterhaltungs- und Zerstreuungsfunktion bei wohl dosiertem Gebrauch zugestanden, worüber diese sich ja auch zu finanzieren hatten, andererseits konnte sich dieses Ventil auch gegen die Staatsmacht selbst richten, wobei sich deren Kritik bzw. Zensur als inopportun erwies, da etwa geäußerte Kritik durch ihre Verfolgung letztlich bestätigt wurde.

I.

Nachdem Napoleon Österreich den Krieg erklärt hatte, erlebten die Wiener Vorstadtbühnen eine wahre Hochkonjunktur patriotisch gesinnter Gelegenheitsstücke.17 Die Bühne wurde immer mehr zum Ort der antifranzösischen Propaganda, um den Enthusiasmus der Wiener für Kaiser und Vaterland gegen Napoleon zu schüren. Das „Thema“ Vaterland stand Gewehr bei Fuß, dem Österreichischen Grenadier Meisls folgten der Kampf ums Vaterland Gleichs, Stegmayers Herrmann oder Germaniens Retter sowie Henslers Volksstück Alles in Uniform für unseren König.18 Bäuerle bewies strategisches Verkaufsgespür und timte Die Bürger in Wien19 für die Bretter des Leopoldstädter Theaters zeitgleich mit der Kunde vom Sieg in der Völkerschlacht zu Leipzig.20 Das Moment der Habsburg-loyalen Propaganda speist sich aber nicht aus einem offen ausgetragenen politischen Affront, sondern ist weit tiefer in der Personenkonstellation angelegt. Im gesamten Stück gibt es nur einen Soldaten, den Freiwilligen Ferdinand, dieser ist aber genauso schnell bei seinem Regiment, wie er die Bühne betreten hat. Möglicherweise musste er ja seinem biederen Namen Ehre machen.

Nahezu während des gesamten Stückes sehen wir uns biederen Wiener Bürgern gegenüber, bei denen der wohlhabende Bindermeister Joseph Redlich den Vorsitz hat. Die Wiener Bürger lassen keine Gelegenheit aus, Wiener Tugenden zu deklamieren, und impfen damit dem Publikum nach einer Art Katechismusmethode chorartig einen Wiener Tugendkatalog der servilen Redlichkeit ein. Ich bediene mich der Auflistung Reinhard Urbachs in Auswahl:

Was spielt der echte Wiener nicht? – Komödie; Was ist der echten Wienerin größter Schmuck? Tugend und Bescheidenheit; Was ist der echten Wienerin nicht feil? Ihre ehrliche Gesinnung. Was ist der echte Wiener nicht? – Kein guter Untertan, ein schlechter Patriot. Wohin zieht der echte Wiener leichten Herzens, wenn er von allen Bekannten Abschied genommen? – In den Krieg.21

Ein wahrlich geschlossenes Netzwerk von redlichem Bürgersinn, das gegen einen von außen kommenden Störenfried in Stellung gebracht wird.22 Dies ist in unserem Fall der Negoziant und Kapitalist (von) Müller. Er findet aus mehreren Gründen keinen Platz in diesem bürgerlichen Kollektiv – zum einen, weil er das Anti-Wienerische offen zur Schau trägt, zum anderen, weil er eine Kontrastfigur zu den zünftisch organisierten Handwerksmeistern ist. Noch ehe Müller die Bühne betreten hat, wird er ausgeschlossen, denn Müller sei kein braver Untertan und damit kein braver Ehemann, so Redlich zum Publikum. Redlich agitiert geradezu im Stile eines rechten Politikers gegen Müller. Müller sei kein ursprünglicher Wiener, er komme von außen, dürfe Wien seine zweite Vaterstadt nennen, er sei ein Neureicher. Wir erfahren nicht genau, woher er kommt. Müller soll aber als „armer Teufel“ nach Wien gekommen sein und sich in unserem „fetten Land“ aufgeholfen haben (I, 7). Mal Gläubiger, mal Kapitalist und Spekulant, dann wiederum Erbschleicher – das sind die Informationen, die wir über die Ursachen seines Reichtums erhalten. Müller ist eine sozialgeschichtliche Abgrenzungsfigur, dessen immer zwielichtiger werdender kapitalistischer Eigensinn am Bollwerk des redlichen Bürgersinns abprallt. Fakt ist nämlich, Müller häuft von Szene zu Szene mehr Geld an. Sein Reichtum speist sich aber nicht aus ehrlicher Arbeit; es wird nicht Arbeit zu Eigentum wie bei den Wiener Bürgern, sondern Eigentum wird Eigentum. Es ist symptomatisch, dass Müller – als eine Mischung aus Finanzjongleur, Immobilienspekulant und Repräsentant des durch den Spekulationsboom von 1809 begünstigten Finanzbürgertums – sich bei der Kollekte im unredlichen Ton weigert, für die Bedürftigen zu spenden, und kurzerhand vom Tiroler Hans, dem Türsteher Österreichs, hinausgeworfen wird. Schließlich müssen ja die poetischen Repräsentanten der alten Ordnung über das Ungewisse der Zukunft, das in der Figur des undurchsichtigen Müller angelegt scheint, siegen.

Die Schüsselszenen der Posse sind aber meines Erachtens in zwei Monologen Staberls zu sehen, wobei sein ausschweifender Monolog und damit seine Redezeit zum Publikum angesichts des engmaschigen Netzes der Zensur auffällig sind. Charles Sealsfield weiß die Zustände des vormärzlichen Österreich mit aller Schärfe zu charakterisieren:

Franz ist ihr oberster Chef, und die Geheimpolizei liefert einen großen Theil der schweren Arbeitslast des Kaisers. Seine Vorliebe für geheime Nachrichten ist so bekannt, daß der letzte seiner Untertanen, der sich nicht getrauen würde, die Schwelle eines ehrlichen Bürgers zu überschreiten, ohne Scheu vor den Kaiser hintritt, vorausgesetzt, daß er ihm das gewünschte Gift bringen kann. Dieser Nachrichtendienst umspannt das ganze Kaiserreich. Er reicht in die Hütte des Bauers, in die Wohnung des Bürgers, in die Gaststube des Wirtes und in das Schloß des Adeligen. Kein Ort ist vor den Horchern des Kaisers sicher, der eine regelrechte Liste aller Beamten, Offiziere, Geistlichen, und sonstigen Würdenträger, vom Statthalter bis zum Schreiber führt, und darin von einem ausgezeichneten Gedächtnis unterstützt wird. Auf Grund dieser Geheimpolizei erfolgen die Beamtenernennungen.23

In einem kaschierten Bericht über die Begegnung mit der Kässtecherin, in dem er wieder zu schwadronieren scheint, lässt Bäuerle Staberl plötzlich auf den Überwachungsstaat und seine Auswirkungen auf das menschliche Miteinander eingehen. Die Szene zeigt die Funktionsweise des Spitzelwesens und suggeriert nur auf den ersten Blick eine friedliche Gemeinschaft. Die nachfolgende Szene mag nicht unbedingt eine sprachästhetische Bereicherung für die Wiener Komödie sein, entfaltet aber ihre Qualität im mimischen Spiel auf der Bühne und damit mit dem Publikum. Die Demaskierung des Überwachungsstaats erfolgt in der Anlage der Szene, denn Staberl spielt eine dialogisch gedachte Sequenz monologisch. So erhält er die Möglichkeit, politischen Geständnissen geflissentlich auszuweichen.

Staberl. […] Er schaut mich an, ich schau ihn an – die Kässtecherinn schaut uns alle zwey an; wir schauen die Kässtecherinn an; der galante Herr schmunzelt; ich schmunzl’ auch; d’rauf lacht er laut; ich lach’ sehr laut – er macht ein politisches Gesicht, ich ein diplomatisches; endlich schaut er auf die Uhr und sagt, Sie Philosoph – Sie Sterngucker, Sie Hexenmeister oder wie ich Sie nennen soll! Wo haben Sie das her? Wer sind Sie? Wie heißen Sie? In welchem Cabinet arbeiten Sie? Ich sag’ gelassen alles heraus, nenn’ meinen Tauf- und Zunahmen, wer mein Vater war und meine Mutter […]. (I, 5)

Bäuerle hat diese Szene nun dramaturgisch geschickt vor der Schlüsselszene, Staberls Besuch im Weinkeller von Klosterneuburg, eingeflochten. Dort avanciert der tölpelhaft scheinende Staberl zum Kommentator der österreichischen Geschichte in komischer Brechung.

Zunächst aber einige Erläuterungen. Die Franzosen nahmen nicht nur Wien ein, sondern auch die österreichischen Weinkeller in Beschlag. Es ist wiederum Sealsfield, der den Hinweis gibt, dass die Franzosen die österreichischen Jahrgänge von 1783 bis 1794 geraubt haben.24 Den Bezug zur Öffentlichkeit erhalten wir über Johann Pezzl, vielleicht den besten „Society-Experten“ der josephinischen Szene, schließlich seien die Bier- und Kaffeehäuser die Tempel politischer Kannegießereien, in denen die politische Öffentlichkeit und Meinung herangärt. „[Der Bürger] kommt dann, wenn ihn der Wein von seinem Spekulationsgeist wegführt, auf die Verordnungen des Landesfürsten, von denselben geht er ins Parlament nach London oder in die Stube der Notabeln von Frankreich, vergleicht wohl gar die Regierungsformen.“25 Die Tiefe des Weines bzw. die Tiefe der Weinkeller sind ausschlaggebend für die Entstehung eines geschichtspolitischen Bewusstseins, wie es die restaurativen Schwärzer garantiert nicht zugelassen hätten.

Zu der Szene und zu den Jahrgängen der Weine im Einzelnen: Der hundertjährige Wein – zur Erinnerung: wir sind im Jahr 1813 – nimmt Bezug auf den Frieden von Utrecht, der den spanischen Erbfolgekrieg nach dem Aussterben der Linie der spanischen Habsburger beendet und das hegemoniale System Ludwigs XIV. mit dem neuen Instrument der politischen Geografie durch eine Gleichgewichtsordnung ersetzt. Napoleons Streifzug durch Europa bringt diesen Frieden, vor allem aber das Mächtesystem des alten Europa, durcheinander. Staberl ehrt diesen Frieden wie das Alter, schließlich nahm Österreich wieder die Schlüsselrolle in Europa ein. Dieser Jahrgang ist noch aus einem anderen Grund der Schlüsseljahrgang, da die Wiener Bürgerwehr nach der Verhaftung Müllers mit diesem Wein anstößt. In der Tat wird der Wiener Kongress an die Prinzipien von Utrecht anknüpfen.

Der zweite Jahrgang nimmt Bezug auf den Frieden von Paris, der den Siebenjährigen Krieg beendet und Österreich den schmerzhaften Verlust Schlesiens abzwingt, aber an der europäischen Mächtekonstellation nichts Grundsätzliches ändert. Österreich bleibt in jedem Fall Großmacht und – anders, als die borussische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts es gerne sehen möchte – auch Vormacht im Reich.

Dann der Wein mit dem Jahrgang 1797, der auf den Diktatfrieden von Campo Formio hinweist, der wiederum das Ende des Reiches antizipierte, da eine Neuordnung Deutschlands unter französischer Hegemonie angedacht wurde.

Schließlich der österreichische Staatsbankrott von 1811, der nun nicht nur verheerende militär- und machtpolitische Folgen mit sich brachte, sondern im Inneren vor allem den Beamten, den Geistlichen, den Lehrern, den Pensionisten und den kleinen Kapitalisten sozusagen auf den Magen geschlagen ist. Staberl, unserem Parapluie- und Parasolverkäufer, der eine typische sozioökonomische Leerstelle (!) der Wiener Komödie innehat, muss dieser Wein entzogen werden, schließlich werden das Vermögen und damit die Sicherheit des Kleinbürgertums bedroht. Die Mobilisierung gegen das revolutionäre Frankreich und gegen Napoleon, die ja jetzt schon gut zwei Jahrzehnte andauerte, führte zur Anhäufung von Schulden, die durch einen immer stärker werdenden Konsumrausch verstärkt wurden.

Entscheidend ist, dass Bäuerle Staberl infolge dieses exzessiven Weingenusses aus über 100 Jahren österreichischer Geschichte den Begriff der Revolution in den Mund legt, der des dichten zeitlichen Rahmens wegen eine klare Bezugnahme auf die Französische Revolution darstellt.

II.

Die komische Lokaloper Der Fiaker als Marquis26 wurde am 16. Februar 1816 im Leopoldstädter Theater uraufgeführt und dort 63-mal gegeben. Die Aufführungszahlen wie die literarischen Rezeptionslinien weisen der Posse einen bleibenderen Wert zu. So gibt es im Rahmen der Operndichtungen Hugo von Hofmannsthals einen Fragment gebliebenen Lustspielplan, wonach Hofmannsthal ein „Volksstück nach Art des Alt Wiener Volkstheaters“ geplant habe und die Reflexionen über die Ständeproblematik auf soziale Situationen der Nachkriegszeit auslagern wollte.27 Ich möchte im Folgenden zeigen, dass Bäuerles Der Fiaker als Marquis nicht bloß in der Tradition der Fiaker-Szenen der Wiener Vorstadttheater zu sehen ist, sondern aufgrund der Standesproblematik weit darüber hinausgeht.

Während bei Emanuel Schikaneder noch der sozial aufgestiegene Fiaker-Unternehmer Roßschweif im Mittelpunkt der Posse steht, ist es bei Bäuerle der einfache Fiaker Knackerl, dem das nötige Kleingeld fehlt, seine Mariandl zu ehelichen. Knackerl wird im Übrigen in Die Bürger in Wien bereits als Staberls Schwager vorgestellt; auch aufgrund seines Appetits, seiner Unzuverlässigkeit und seiner nachlässigen Pflichtausübung ist er mit den lustigen Diener-Figuren der Wiener Komödie verwandt. Mariandl ist nämlich bereits dem besser gestellten Pferdehändler Lorenz versprochen. Bäuerles Verdienst besteht nun in der Konfrontation der sozialen Welten und im Versuch, diese Blockadesituation zu lösen. Nicht der Fund von 1 000 Gulden, sondern eine poetisch raffiniertere und sozialpolitisch natürlich provokantere Lösung der Problematik muss herhalten. Es stellt sich nämlich heraus, dass Knackerl der Milchbruder des Marquis Ludwig Devain und als Kleinkind vertauscht worden ist. Im Sinne der poetischen Gerechtigkeit versucht nun Knackerl seine ihm zustehende gesellschaftliche Rolle, die zudem amtlich beglaubigt scheint, anzutreten und in der höfisch-galanten Welt der Marquise Fuß zu fassen. Knackerls Selbstfindung als Marquis stehen nun einerseits diese auf ihn befremdlich wirkenden höfischen Verhaltensweisen gegenüber und andererseits die Fiaker-Szenen, die dramaturgisch geschickt eingeschoben worden sind. Die Posse bleibt affirmativ zur gesellschaftlichen Ordnung, denn die Vertauschung der Kinder entpuppt sich schließlich als Betrug seitens der Mutter Knackerls. Letztlich bekommt Knackerl seine Mariandl nur, weil die Marquise ihre Aussteuer übernimmt. Im Spiel mit den Möglichkeiten jedoch entfaltet sich die Subversivität des Textes.

Im Wesentlichen stehen sich in der Posse zwei Stände und damit zwei Welten gegenüber. Der einfachen Welt der Bediensteten, in unserem Fall den Fiakern, steht das höfisch-dekadente Haus der Marquise Devain gegenüber. Bäuerle demaskiert die Sympathie der Adeligen im Prinzip bereits durch die Namensgebung, das Devain erinnert an das Ci-Devant der ehemaligen Adeligen im Frankreich der Revolution, das diese ihrem nun bürgerlichen Namen voranzustellen hatten. Es handelt sich also um eine Welt, deren gesellschaftlicher Privilegienstruktur es an den Kragen geht. Dem ehemaligen Marquis Ludwig Devain droht durch die Vertauschung der Abstieg in die gesellschaftliche Namenlosigkeit, also der Verlust des Erbes, des Namens und des Standes. Das Haus der Marquise bezieht nun genau seine Stellung und Identität nicht aus dem meritokratischen Adelsverständnis, sondern aus dem feudalabsolutistischen Geburtsadel. Herkunft, Stand und Erbe geben hier den Ton an. Dem Publikum zeigt sich eine ziemlich lockere Sexualmoral, eine Welt, deren gutes Herz durch das blaue Blut gefroren scheint und die ihre Standesdünkel spazieren trägt, eine Welt, die eigentlich sozial abgeschottet und zugangsbeschränkt ist. Es ist bezeichnend, dass diese Welt im Prinzip nur dadurch zum Vorschein kommt, dass die Noblesse in die Fiaker-Welt steigt, um nach Baden zur Kur transportiert zu werden. So lässt Bäuerle auch den Marquis Knackerl seiner neuen Rolle zuführen, denn Knackerl wusste schon zu einem früheren Zeitpunkt von seinem Milchbruder im Adelsstand, er kannte nur dessen Namen und Logis nicht genau. Letztlich ist es die Borniertheit des Marquis Ludwig Devain und seine Sehnsucht nach Satisfaktion für das als Provokation empfundene Verhalten Knackerls – schließlich hatte Knackerl seine Fuhr nach Baden versäumt –, die Knackerl den Marquis als seinen Milchbruder hat erkennen lassen. Knackerl: „Hilft alles nichts; in unsern Adern rollt halt doch einmahl ein Blut, denn ich und Sie haben an einer Brust g’trunken, meine Mutter, die alte Eva, war Ihre Ammel, wie’s noch jung war. In uns logirt ein Blut!“ (I, 9)

Die Forderung nach gesellschaftlicher Gleichheit wird hier durch das Wortspiel des Blutes, das an die Stelle der Milch getreten ist und gemeinhin die Sonderstellung des Adels begründete, verstärkt. Die Satisfaktion hat das Nachsehen, Knackerl wird nun seiner neuen gesellschaftlichen Stellung zugewiesen, was für ihn nichts Alltägliches ist und einer gewissen Eingewöhnung bedarf. Knackerl: „Man kann sich eher gewöhnen mit kollerischen Pferden zu fahren, und eher lernen Berg auf im Gallopp zu kutschiren, als vom Fiaker zum Marquis.“ (II, 8) Der adelige Habitus geht vorzugsweise aus einer adeligen Sozialisation hervor, dazu kann und wird es aber nie kommen, denn Knackerls Gemeinheit wird ihn ein Schicksal kosten, an dem er durchaus schon Gefallen gefunden hat.

Knackerl (allein). Das ist doch curios für einen gemeinen Menschen, wenn er vornehme Ältern hat. Ich benimm mich doch gewiß so noble als möglich, und nichts ist erkennt. Was ich schon alles aufg’opfert hab, seitdem ich Marquis bin. Schon zwey Mahl hätt ich gern ein Glasel Pohlnischen und eine Halbe Bier getrunken, und trau mir nichts zu sagen, und doch fallt Ihro Gnaden meine Frau Mutter Mama in Ohnmacht. Doch das thut nichts – ich will mich schon noch mehr zusammen nehmen. Ich wett’, in 14 Tagen glaubt die ganze Welt, daß ich als Marquis erzogen bin. (II, 6)

Er ist zwar mitten im Satz ganz Fiaker, wie es ihm Rommel unterstellt,28 wie sollte er es aber auch anders sein? Woher soll er um die höfische Etikette wissen? Freilich sind diese Dialoge, die nicht von großer Qualität sind, durch die Fiaker-Einsprengsel überzeichnet, das Grundproblem aber bleibt, nämlich die Aneignung des adeligen Habitus. Vereinzelt gibt es allerdings Szenen, in denen sich Knackerl zuvor noch konfus und sehr linkisch benimmt, dann aber beim Audienzgeben durchaus schon um den Ton der Noblesse weiß. Knackerl: „(Sehr affectirt zum Bedienten) Ist sie etwas gemeines, so werfe man sie hinaus, nur vornehme Menschenpersonen können mit mir reden.“ (II, 14)

Während Knackerl versucht, zum Marquis aufzusteigen, muss sich der Marquis aber wegen dramaturgisch raffiniert eingeschobener Fiaker-Szenen und wegen einer geschickten Gesprächsführung seitens der Marquise nicht auf den Bock setzen. Die ernste Nachfrage der Marquise unterhöhlt Knackerls Wunsch, der Marquis möge an seine Stelle treten, natürlich:

Marquise. Um Gottes willen, nur dieses Wort [Fiaker, J. L.] nicht mehr!

Knackerl. Wenn’s Ew. Gnaden die Frau Mutter nicht leiden können, so werd’ ich mir schon alle Mühe geben, daß ich’s vergiß.

Marquise (mit einem tiefen Seufzer). Was ich sagen will, hassest du deinen Milchbruder – hassest du den Mann, der bisher deine Erziehung genoß, unsere Reichthümer theilte – deinen Nahmen trug? –

Knackerl. Den gnädigen Herrn, der mich heut früh hat einsperren wollen lassen, mein Brüderl? Freylich hätt’ ich Ursach, er war sehr hopadasig, war schiech wie ein kollerisches Pferd, aber hassen thu’ ich ihn nicht. Ich hoffe zu Gott, er wird jetzt statt meiner Fiaker

(Marquise schaudert zusammen.)

Knackerl (bemerkt es). Ich will sagen Lehnkutscher, Lehnkutscher werden, und dann wird er’s schon empfinden, was es heißt, einen armen Teufel mir nichts, dir nichts, ins Unglück stürzen zu wollen.

Marquise. Im Ernst, du könntest das wünschen?

Knackerl. Wenn ich recht aufrichtig reden soll, wünsch ich’s nicht. Ich bin jetzt ein Marquis, ich weiß nicht, wie. Er soll auch kein Unglück haben. Ihro Gnaden die Frau Mutter darf mir’s glauben, es ist ein hartes Brot um einen Fiaker. (II, 4)

Es ist natürlich in einem größeren Kontext auch sehr fragwürdig, ob die Zensur einem solchen Sozialabstieg zugestimmt hätte. Die Schüsselszene der Posse bildet das Fiaker-Quartett, das sich gegen das zur nächtlichen Stunde im Hause der Marquise stattfindende Souper in Stellung bringt. Wider das Motto „alles eins, ob man Geld hat, oder keins“ wird hier offen sozialkritisch gegen die ständische Gesellschaft und ihre Ungerechtigkeiten angesungen.

Fiaker-Quartett von Außen.

2.

Wer Geld hat, hat Alles, ist lustig und froh,

Hat Wein und hat Bratl, und Haber und Stroh;

Wir aber seyn arm, und voll Hunger und Noth,

Und singen ein Liedl ums tägliche Brot. (II, 20)

Die Szene, die sich hier dem Publikum aufgetan haben muss, gehört zu den besten der Wiener Komödien. Der gerührte Knackerl weiß es zu verhindern, dass die Tür verrammelt wird, indem er seine Kollegen hereinholt. Bei den dazugehörigen standesübergreifenden Tänzen führen die einfachen Fiaker die vornehmen Damen übers Parkett. Die Bedeutung der Regieanweisung, wonach der Tanz immer wiederholt wird, ist die Bestätigung des gesellschaftlichen Durcheinanders als Status quo (II, 21). Während dieser Wiedersehensszene versuchen die Damen sich klammheimlich davonzustehlen. Die Fiaker führen die sich sträubenden Damen mit Gewalt zum Tanz – ein Motiv, das nach der Französischen Revolution den Assoziationen freien Lauf ließ. Solcherart Totentänze soll es während der September-Massaker in den Pariser Gefängnissen, die ein europäisches Medienereignis darstellten,29 tatsächlich gegeben haben. Auch hier spricht es wieder für den immanenten Wunsch Knackerls, Marquis zu werden, denn Bäuerle lässt ihn beim Fiaker-Finale an seiner Rolle als Marquis festhalten: „Jetzt will ich noch einmahl tanzen. Cameraden! heut’ noch Fiaker, und dann mein lebtag Marquis.“ (II, 21)