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Bernd StegemannDas Gespenst des Populismus

Bernd Stegemann

Das Gespenst des Populismus

Ein Essay zur politischen Dramaturgie

© 2017 by Theater der Zeit

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Verlag Theater der Zeit

Verlagsleiter Harald Müller

Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany

www.theaterderzeit.de

Lektorat: Nicole Gronemeyer

Gestaltung: Sibyll Wahrig unter Verwendung einer Umschlagabbildung:

© Knut Hebstreit/fotolia.com

ISBN 978-3-95749-097-1

eISBN 978-3-95749-109-1

Bernd Stegemann

Das Gespenst
des Populismus

Ein Essay zur politischen Dramaturgie

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EINLEITUNG

EINE SYSTEMTHEORIE DES POPULISMUS

Das populistische Paradox

Die öffentliche Meinung

Die Kommunikation der Klassen und Schichten

Die Kommunikation des Populismus

Populismusvorwürfe

Zwei historische Phasen des Populismus

DER RECHTSPOPULISMUS

Die Kritik der Moderne und ihre Sackgassen

Die rechte Unterscheidung von Wir und Sie

Das demokratische Paradox als Gegensatz von rechtem und liberalem Populismus

Protest gegen die Eliten und rechte Selbstverzauberung

Von Ameisen und Grillen

Der Rechtspopulismus und die Flüchtlingskrise

DER LIBERALE POPULISMUS

Eine systematische Definition des Populismus

Die Anfänge des liberalen Populismus: Schockstrategien und autoritärer Populismus

Das Paradox der offenen Gesellschaft

Wie leben Egoisten mit Egoisten?

Der blinde Fleck des Liberalismus

Wie der Liberalismus die Freiheit verkauft

Merkel muss weg! Aber aus anderen Gründen, als Sie glauben.

LINKER POPULISMUS

Die Tragödie des Populismus

Der Egoismus der Intellektuellen und die Angst der Linken

Die Krise des organischen Intellektuellen

Eine kurze Geschichte des Linkspopulismus

Linker Populismus, einfach kompliziert

Die kalte Linke und die Flüchtenden

Das Paradox der liberalen Grenze und ihre dialektische Aufhebung durch die Flüchtenden

Linker, rechter und liberaler Populismus. Ein Resümee

DAS POLITISCHE SPRECHEN

Ressentiment

Political Correctness

Schöne Seelen, gute Menschen und die Anteilslosen

It’s the economy, stupid!

NACHWORT

Anmerkungen

Vita

EINLEITUNG

Die Wohlstandsgesellschaften sind offenkundig tief gespalten. Während die eine Hälfte ihre Umgangsformen verfeinert und den Alltag liberalisiert, ist die andere Hälfte wütend darüber, wie stark ihr Leben durch die Zwänge von Arbeit und Armut eingeschränkt ist. Die einen sind am 9. November 2016 vom Wahlergebnis in den USA schockiert, während die anderen feiern, weil sie ihrer Wut eine Stimme geben konnten. Die Medien haben über Monate den Sieg der liberalen Kandidatin beschworen und sind mit einem neuen Präsidenten Donald Trump aufgewacht. Die Vernünftigen in aller Welt können noch immer nicht begreifen, was der „bemitleidenswerte Abschaum“, wie Hillary Clinton die Trump-Wähler nannte, getan hat.

Die Situation erinnert an die Fassungslosigkeit toleranter Eltern, die hilflos dabei zusehen müssen, wie ihre Sprösslinge sich immer weiter radikalisieren. Und während der Abgrund zwischen den Vernünftigen und den Revoltierenden wächst, liefern die zahlreichen Talkrunden und Zeitungsartikel in einer Wiederholungsschlaufe die immer gleichen Erklärungen: Populisten geben einfache Antworten auf komplexe Probleme, sie spalten die Gesellschaft in Eliten und Volk und sie wollen Grenzen errichten, wo bisher Freiheit war.

Die These dieses Essays ist, dass der Populismus gewinnt, weil das Projekt des Liberalismus in einer tiefen Krise steckt. Brexit, AfD, Marine Le Pen, Viktor Orbán, Beppe Grillo und als irrer Höhepunkt des Jahres 2016 der Wahlsieg von Donald Trump haben das doppelte Problem des Liberalismus brutal aufgedeckt: Er ist zum einen in einer Kollaboration mit dem Neoliberalismus gefangen und er ist zum anderen in sich selbst gefangen.

Das liberale Projekt war seit der französischen Revolution eine einzigartige Erfolgsgeschichte, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Alle Welt wollte so leben wie die Menschen im freien Westen. Ihre Mode und ihre Musik waren cooler, ihre Konsumgüter besser und ihr alltägliches Leben viel aufregender als das in den geschlossenen Gesellschaften. Freie Menschen konnten offensichtlich bessere Dinge erfinden und auch im Umgang miteinander sorgsamer und liebevoller sein.

Doch irgendetwas scheint bei dem globalen Siegeszug des Liberalismus schiefgelaufen zu sein, denn es lässt sich nicht länger übersehen, wie gerade in den liberalsten Gesellschaften die größten Krisensymptome entstehen. Die Freiheit des Individuums scheint immer weniger als Errungenschaft empfunden zu werden, sondern vielmehr als Last. Die Offenheit der Gesellschaft wird immer weniger als Möglichkeit zur Selbstentfaltung empfunden, sondern vielmehr als Gefahr. Und die Gleichberechtigung aller Menschen ist kein wahr gewordener Menschheitstraum, sondern Stress für den Einzelnen, der sich einer globalen Konkurrenzsituation ausgesetzt sieht. Das allgemeine Lebensgefühl ist das der Überforderung in einer grenzenlosen Welt.

Das Zeitalter des Populismus ist spätestens mit dem Jahr 2016 angebrochen. Sein Kennzeichen ist der tragische Konflikt zwischen den Verteidigern der offenen Gesellschaft und ihren Angreifern. Der Konflikt unterscheidet sich von den bisherigen Kämpfen zwischen liberalen und totalitären Ideologien dadurch, dass die Widersprüche in der Postmoderne andere sind als zuvor. Der Liberalismus hat es geschafft, konkrete Widersprüche in komplexe Paradoxien zu verwandeln, und konnte sich mit diesem Trick für viele Jahre der Kritik entziehen. Jetzt, wo die Widersprüche wieder konkret und die Gegensätze schroffer werden, treten die realen Interessen hinter der glitzernden Fassade seiner paradoxen Kommunikation hervor.

Die offene Gesellschaft hat sich selbst in die Schusslinie gebracht, weil sie allzu lange ihre Kollaboration mit dem Kapital ignoriert hat. Heute, wo die Globalisierung die Unterstützung durch die fortschrittlichen Kräfte immer weniger benötigt, da die Grenzen für das Kapital längst abgeschafft sind, erscheint der Liberalismus plötzlich wie der dumme Gehilfe, der seine Schuldigkeit getan hat und nun abtreten kann. So zeichnet sich der tatsächliche Frontverlauf langsam ab. Er liegt nicht mehr zwischen der offenen Gesellschaft und ihren Feinden, sondern er verläuft zwischen der globalen Macht des Kapitals und den Menschen.

Die bittere Einsicht für alle ist: Der Kapitalismus braucht keine Demokratie und die Globalisierung braucht die offene Gesellschaft nur als Türöffner, um die sozialen Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates zerstören zu können. Die Eliten, die aktiv von dieser Lage profitieren und sie durch ihren liberalen Populismus befördert haben, geraten von zwei Seiten unter Druck: Die Menschen wollen, dass Freiheit nicht im Widerspruch zu ihrem Leben steht, und das Kapital will schutzlose Arbeiter, deregulierte Märkte und willige Konsumenten, die sich der Dynamik der Ausbeutung unterwerfen.

Will man die falschen Antworten des Rechtspopulismus auf die richtige Frage nach den Fehlern der Globalisierung parieren, so muss die offene Gesellschaft damit anfangen, ihr Verhältnis zum Neoliberalismus zu verändern. Denn solange die liberalen Kräfte mit dem Kapital kollaborieren, so lange führen die Angriffe des Rechtspopulismus zu der tragischen Situation unserer Zeit. Die Macht des rechten Populismus besteht in der richtigen Behauptung, dass liberale Werte und soziale Ungleichheit zwei Seiten derselben Medaille sind, und zugleich liegt er mit seinen Lösungen absolut falsch. So kann sich die Tragödie immer weiter zuspitzen und die rettende dritte Kraft lässt auf sich warten. Denn das linke Denken, das in den Widersprüchen des Kapitalismus die Chance zur Veränderung erkennen könnte, hat in der Postmoderne seine entscheidende Kraft verloren: die Dialektik. Die undialektischen Linken unserer Zeit können weder die Angriffe des Rechtspopulismus parieren noch können sie zu einer eigenen Strategie kommen, um die Paradoxien des Liberalismus offenzulegen.

Insofern machen sich die Verteidiger der offenen Gesellschaft noch immer falsche Hoffnungen, wenn sie nach Patentrezepten gegen den Rechtspopulismus suchen. Ausgrenzen oder umarmen, integrieren oder diffamieren, alle Methoden verfehlen das Problem, und es hilft auch nichts, den Menschen die Politik besser erklären zu wollen oder sie weiterhin moralisch einzuschüchtern. Die einzige Lösung liegt in der Selbstkritik des Liberalismus. Dass der Rechtspopulismus den Druck erhöht und die Linken ausfallen, macht die Situation nicht einfacher.

Dieser Essay versucht, die Tragödie des Populismus als dialektische Bewegung zweier Welten zu begreifen. Die humane Haltung zu einer Tragödie kann niemals darin bestehen, sich auf eine der beiden Seiten zu stellen. Der antike Demos hatte erkannt, dass der Ausweg allein darin besteht, von beiden Seiten zu lernen, ohne ihnen auf den Leim zu gehen. Wir alle sind gerade Zeugen, wie die offene Gesellschaft sich mit ihren paradoxen Sprachspielen, hyperkritischen Diskursen und gut verschleierten Privilegien selbst zerstört und wie die Rechtspopulisten hierbei gewaltig mithelfen.

Die Tragödie ist eine Botin der Katastrophe. Sie anzuschauen, kann dem Publikum Angst machen und ihm zugleich die Kraft verleihen, um für das Menschliche und gegen die Gewalt zu kämpfen. Wir alle sind Zuschauer der Tragödie des Populismus. Die Wahl liegt bei uns, ob wir die Augen verschließen und uns auf eine der beiden Seiten schlagen oder ob wir wie die antiken Erfinder der Demokratie aufstehen und die Sache selber in die Hand nehmen. Denn eines ist in der Tragödie absolut sicher: Beide Seiten haben gleichermaßen Recht und darum müssen beide Seiten untergehen. Rettung liegt allein bei denjenigen, die das erkennen.

EINE SYSTEMTHEORIE DES POPULISMUS

Das populistische Paradox

Wenige politische Begriffe sind so dehnbar wie der des Populismus. Mit Ralf Dahrendorf könnte man meinen: „Des einen Populismus ist des anderen Demokratie, und umgekehrt.“ Die kürzeste Definition unserer Tage lautet dann auch, dass der Populist einfache Antworten auf komplizierte Fragen gibt. Dass nicht wenige meinen, das Phänomen damit ausreichend erklärt zu haben, könnte man hingegen als Populismus kritisieren. Denn was ist mit der Behauptung gemeint, dass die Antworten zu einfach sind für die Komplexität der Lage? Da nicht jede einfache Antwort falsch sein und nicht jede Behauptung von Komplexität stimmen muss, liegt der Wahrheitsanspruch wohl auf der politischen Ebene. Eine einfache Antwort ist dann falsch, wenn sie der eigenen Meinung widerspricht, und sie ist populistisch, wenn mit ihr Stimmen gewonnen werden sollen.

An dieser Stelle kommt bereits die zweite Eigenart des Populismus ins Spiel, die ihm erst seine paradoxe Form verleiht. Die populistische Aussage fügt der inhaltlichen Differenz eine besondere formale Eigenart hinzu. Eine Aussage ist dann populistisch, wenn sie der herrschenden Meinung widerspricht und dafür Mittel verwendet, die ebenfalls den herrschenden Umgangsformen widersprechen. Populismus kann also weder über seine Inhalte noch über seine Form erfasst werden, sondern nur durch das Verhältnis, in das er die beiden Seiten bringt. Damit gehört der Populismus zu den rhetorischen und performativen Kulturtechniken, die am Beginn der demokratischen Kultur erfunden wurden, um Meinungsbildung und Abstimmung möglich zu machen. Populismus steht am Anfang der demokratischen Kultur, und es ist wohl kein Zufall, dass zeitgleich mit der Demokratie im antiken Athen auch das Theater erfunden wurde. Das öffentliche Sprechen des Politikers wie des antiken Heroen in der Tragödie will die Mehrheit auf seine Seite ziehen. Im Wettkampf um die Zustimmung zählen die besseren Argumente, aber auch das Charisma, die persuasiven Techniken der Rhetorik und die Weltanschauung des Sprechenden.

Jeder Ansatz, der den Populismus nur von der inhaltlichen oder nur von der formalen Seite begreifen will, verfehlt sein Wesen und ist in seinem Missverstehen nicht selten politisch motiviert. So hat sich in der jüngsten Welle von Populismusvorwürfen die inhaltliche Bestimmung in den Vordergrund geschoben, nach der alles populistisch sein soll, was z. B. gegen die europäische Bürokratie oder den Euro ist, Migrationsbewegungen skeptisch bis ablehnend gegenübersteht, soziale Ungerechtigkeit anklagt oder Globalisierung kritisiert. Man sieht schnell, dass mit einem solchen Begriff nichts gewonnen ist, da er im Dahrendorfschen Sinne ebenso gut auf die andere politische Seite – also die Befürworter des Euro, die Verteidiger der Immigration oder die Nutznießer der sozialen Ungleichheit – angewendet werden könnte. Beide Seiten geben auf komplizierte Probleme einfache Antworten. „Grenzen dicht“ oder „wir schaffen das“ unterscheiden sich im moralischen Gehalt, aber nicht in ihrer Schlichtheit. Eine konkretere Begriffsbestimmung muss also die besondere Art der populistischen Anrufung untersuchen.

Die populistische Anrufung stellt einen gemeinsamen Raum zwischen Redenden und Zuhörenden her, in dem die Anwesenden zu einer besonderen Gemeinschaft zusammengeführt werden, weil sie von einer anderen Gruppe unterschieden werden. Die Anrufung eines Wir, das nur zum Wir werden kann, weil es sich von anderen abgrenzt, gehört zu den wesentlichen Situationen des Politischen. Die Art und Weise, wie die Grenze zwischen Wir und Sie gezogen wird, wer dadurch voneinander getrennt wird und wie die beiden Seiten bewertet werden, gehört zu den wesentlichen Parametern von politischem Handeln. Der öffentliche Streit um die Grenzziehung ist das Feld des Populismus, der in seiner historischen Entwicklung zu je anderen Erscheinungsformen findet.

Die dem Populismus entgegengesetzte Art des politischen Sprechens reagiert auf die Grenzziehung der Wir/Sie-Unterscheidung, indem sie genau diesen Mechanismus negieren will. Hier wird kein Wir in Abgrenzung zum Sie geformt, sondern die Zuhörenden werden zu Mitgliedern einer gemeinsamen sozialen Welt gemacht, die bestimmte Regeln hat, nach denen die Zugehörigkeit und der Rang des Einzelnen bestimmt werden. Der Sprechende und die Hörenden sind dabei nicht automatisch in derselben Welt, sondern es ist sogar häufig der Fall, dass sie in verschiedenen Realitäten beheimatet sind. Eine solche Situation erzeugt kein einheitliches Wir, sondern eine Differenz zwischen dem Einzelnen und den Vielen, und sie produziert einen Abstand zwischen der Position des Sprechenden und den vom ihm Unterrichteten. Dieser Abstand kann dann vom populistischen Sprechen wiederum als Grenze beschrieben werden, die z. B. die Eliten vom Volk trennt.

Die Wir/Sie-Unterscheidung erzeugt eine Gemeinschaft in Abgrenzung zu einem Außen, während die Anrufung einer gemeinsamen Welt eine Gruppe von Einzelnen hervorbringt. Eine solche Ansprache könnte man die liberale politische Situation nennen, die zu den Hauptmerkmalen der offenen Gesellschaft gehört. Im Gegensatz dazu steht die populistische Anrufung der Wir/Sie-Unterscheidung, die man die demokratische Situation nennen könnte, da sie einen Antagonismus provoziert, in dem die Mehrheit die Macht ausübt. In den zwei politischen Kommunikationsformen des Liberalismus und des Populismus ist das Paradox der neuzeitlichen Demokratien aufgehoben, die permanent den Widerspruch von Mehrheitsmacht und individuellen Rechten ausbalancieren müssen.

Die Mittel der liberalen Situation folgen aus dem liberalen Menschenbild. Der Mensch wird als Bürger gedacht, der über ein Eigentum verfügt, das aus persönlichen Eigenschaften, sozialen Beziehungen und ökonomischen Werten bestehen kann. Der Wert des Einzelnen resultiert aus der Summe all dieser Eigentumsverhältnisse und seine Subjektivität resultiert aus einer Bildungsbiografie, in der die notwendigen Kompetenzen zum Erwerb und Schutz des Eigentums erworben werden. Die soziale Welt ist für den Eigentümer eine Bedingung seines Vermögens und seiner Individualität. Sie ist in letzter Konsequenz kein eigener Wert, so dass eine der radikalsten Vertreterinnen des Liberalismus, Margaret Thatcher, einst sehr erfolgreich verkünden konnte: „There is no such thing as society.“

Die Mittel der demokratischen Situation hingegen basieren auf den allgemeineren Bestimmungen der Gleichheit der Menschen. Jeder Mensch soll hier unabhängig von seinem Eigentum an Bildung, an sozialem oder ökonomischem Kapital denselben Wert haben und das gleiche Recht, seine Stimme öffentlich machen zu können. Die Gleichheit der Gemeinsamen gründet sich in der Ungleichheit zu den anderen, während die Ungleichheit der Mitglieder in der liberalen Situation aus der Gleichheit der Regeln folgt. Der Widerspruch zwischen dem demokratischen Gleichheitsanspruch und den liberalen Freiheiten, die sich in den unterschiedlichen Biografien ausdrücken, wird in beiden politischen Situationen auf verschiedene Weise präsent.

Die illiberale Gleichheit der Demokratie steht im Widerspruch zur liberalen Freiheit der Ungleichen. Beide Anrufungsformen existieren gleichzeitig in der modernen Demokratie. Der Kampf um die Definitionsmacht, wer als Demos zusammenkommen und welche Fragen entscheiden darf, bestimmt die Machtbalance jenseits des tagespolitischen Geschehens. Den gesellschaftlichen Raum, der aufgrund dieser politischen Kommunikationsformen entsteht, könnte man die öffentliche Meinung nennen.

Die öffentliche Meinung

Die öffentliche Meinung ist, so kann man mit Niklas Luhmann sagen, „der Heilige Geist des Systems“.1 Die öffentliche Meinung wird durch das öffentliche Sprechen hergestellt und sie ist zugleich dasjenige, das bei all diesen kommunikativen Handlungen sowohl der Adressat ist wie auch die Instanz, die es hervorzubringen und zu beeinflussen gilt. Öffentliches Sprechen findet im Medium der öffentlichen Meinung statt und formt hierin bestimmte Aussagen zu Meinungen, die dann Zustimmung oder Ablehnung erfahren. Die Bildung von erkennbaren Formen im Medium der öffentlichen Meinung führt dann zur Kritik genau solcher Formbildungen als Manipulation, und zugleich stellt das Medium wiederum die Möglichkeit zur Verfügung, auch eine solche Kritik wiederum als Manipulation kritisieren zu können.

Um diese Funktion als ein Medium für die politische Kommunikation zu erfüllen, verfügt die öffentliche Meinung über eine anspruchsvolle Technik. Mit ihr wird die besondere Form einer Beobachtung zweiter Ordnung von politischem Handeln organisiert. Mit der Beobachtung zweiter Ordnung ist eine Beobachtung gemeint, die nicht nur die Tatsachen wahrnimmt, sondern ebenso die kommunikativen Akte beobachtet, die solche Tatsachen in Form von Meinungen und Behauptungen hervorbringen. Bei einer solchen Beobachtung werden also immer zwei Ebenen von Realität zugleich wahrgenommen: Es gilt zu verstehen, was gesagt wird, und es gilt zu begreifen, in welcher Form etwas gesagt wird und was der politische Gehalt dieser Form ist. Jede Aussage ist der Ausdruck einer Meinung, und zugleich ist die Meinung nicht nur ein Hinweis auf die Relativität des Gesagten, sondern sie ist im Medium der öffentlichen Meinung eine eigene Tatsache, auf die man achten und reagieren muss.

Im Medium der öffentlichen Meinung können aufgrund der paradoxen Verfassung der Demokratie unterschiedliche Schemata realisiert werden. Paradox ist die Demokratie, da die liberale und die demokratische Anrufung in ihr gleichzeitig passieren. Dieses Paradox wird mit Hilfe von Schemata für einzelne Themen oder Zeitpunkte entparadoxiert. Mit einem Schema ist eine festere Kopplung der Elemente des Mediums gemeint, die dazu führt, dass bestimmte Begriffe, Meinungen und Argumente als feststehende Wahrheiten auf Zeit entstehen können.

Man kann für die öffentliche Meinung der letzten Jahrzehnte einige Schemata ausmachen, die der Orientierung von Debatten dienten und die im Laufe der Zeit selbst wieder verändert wurden. Die zum Teil unmerklichen Verschiebungen, die die Schemata und die mit ihnen verknüpften Wertungen erfahren, führen dazu, dass die politischen Orientierungsbegriffe nicht zu allen Zeiten das Gleiche meinen oder gar der gleichen politischen Ideologie zugehören. Wem welche Verschiebung gelingt, ist dann entscheidend für die Besetzung von Themen und die Durchsetzung der jeweiligen politischen Meinungen. Eine der häufigsten Strategien besteht darin, die positive Aufladung bestimmter Schemata von einem politischen Lager in ein anderes zu verschieben, während sich die Absicht dabei komplett verdreht.

Beim Begriff der Freiheit ist diese Strategie besonders kompliziert und erfolgreich angewendet worden. Wer heute Freiheit zum Thema macht, kann damit Arbeitsverhältnisse flexibilisieren und damit vor allem die Freiheiten des Unternehmers meinen, oder er kann individuelle Freiheiten einfordern, die eine Einschränkung staatlicher Einflussnahme oder disziplinierender Kontrolle zur Folge haben. Gerade am Schema der Freiheit kann bei seiner Verschiebung vom Liberalismus zum Neuen Liberalismus beobachtet werden, wie der Austausch des Inhalts nicht dazu führt, dass auch die positive Wertung sich verändert.

Ein anderes verbreitetes Schema der letzten Jahrzehnte ist das der Krise, auf die reagiert werden muss, deren Gestalt aber eben auch von konkreten politischen Positionen hervorgerufen wird, um dann für bestimmte Absichten genutzt werden zu können. Wer z. B. eine Krise des Rentensystems ausruft, verfolgt meistens das Ziel, an der bestehenden Ordnung etwas zu ändern. Dass eine Änderung dann fast immer zum Nachteil der davon Betroffenen gerät, ist durch die Ausrufung der Krise vorbereitet und rückwirkend legitimiert. Aktuell ist in der deutschen Politik durch die Ausrufung einer Rentenkrise zu beobachten, dass ein Konflikt zwischen Jungen und Alten und zwischen Rentnern und Pensionisten etabliert wird. Indem der Konflikt so hervorgerufen wird, gelingt es, die gesellschaftliche Funktion des Eigentums aus der Debatte herauszuhalten. Es wird also ein Verteilungskampf zwischen den Beitragszahlern und den Rentenempfängern erzeugt, um den tatsächlichen Konflikt zwischen den Beiträgen aus Arbeit und den fehlenden Beiträgen aus Kapitaleinkünften zu verschleiern.

Ein weiteres Schema der letzten Jahre ist das der Reform. Wer von Reformen spricht, kann Engagement zeigen und von anderen einfordern. Auch wenn man noch nicht weiß, was zu welchem Zweck reformiert werden soll, hat man erst mal signalisiert, dass man selbst dazu bereit ist. Wer als Erster Reformbereitschaft für sich reklamieren kann, ist damit allen anderen gegenüber im Vorteil, egal, welche konkreten Reformen er damit verbindet.

Die Macht von Schemata im Medium der öffentlichen Meinung gehört zu den am besten getarnten strategischen Mitteln in der Demokratie. Wer die Narrationen beeinflusst, die zur Legitimation von Interessen erzählt werden, bestimmt die öffentliche Meinung. Und wer die Wertungen innerhalb der Narrationen verschieben kann, ohne dass die Interessen dabei erkennbar werden, bestimmt über die Grenzen des Sagbaren. Je plausibler und natürlicher die Narrationen wirken, desto größer ist ihre Wirkung. Die Arbeit der Spindoktoren wird darum zugleich unter- und überschätzt. Sie wird unterschätzt, weil die Macht der Erzählungen die Gewalt des besseren Arguments immer weiter verdrängt. Und sie wird überschätzt, weil die Schemata, die für die Narrationen zur Verfügung stehen, von den Spindoktoren selbst nicht beeinflusst werden können. Die Verbindung der Schemata zu den gesellschaftlichen Kräften ist ungleich komplizierter, als dass sie in einer einzelnen Erzählung verändert werden könnte. Die vier dominantesten Schemata postmoderner Politik – Ressentiment, Political Correctness, Moral und Ökonomie – werden darum im letzten Teil des Essays ausführlich untersucht. Ihre Funktion in den populistischen und populismuskritischen Erzählungen ist nur verständlich, wenn die Interessen in ihrer Struktur erkannt werden.

Das Medium der öffentlichen Meinung erlaubt die Verwendung von Schemata, ihre Verschiebung zu eigenen Interessen und zugleich deren Beobachtung. Aufgrund der besonderen Eigenschaften der Beobachtung zweiter Ordnung werden eben nicht eindeutige Tatsachen verhandelt und die Kommunikation dient gerade nicht der Urteilsfindung für objektive Sachverhalte, sondern die besondere Konsequenz ist, dass jede Behauptung in eine Rivalität mit allen anderen tritt. Das Medium dient also nicht dem Finden einer objektiv besten Lösung, sondern es dient dem „Offenhalten der Zukunft für Entscheidungslagen mit neuen Gelegenheiten und neuen Beschränkungen“.2 Das Ziel der Kommunikation innerhalb der öffentlichen Meinung ist nicht ein endgültiges Resultat, sondern die robuste Öffnung aller Prozesse für immer neue Probleme und Lösungsvorschläge. Die öffentliche Meinung ist der entscheidende Fortschritt im Kommunikationsverhalten, der die modernen bürgerlichen Demokratien überhaupt möglich gemacht hat.3 Seine strategischen Mittel sind die Verwendung von Schemata in Legitimationserzählungen und eine besondere Form hierbei ist die populistische Anrufung.

Die Kommunikation der Klassen und Schichten

Die öffentliche Meinung hat, wenn man sie als ein solches Medium versteht, eine deutliche Wesensverwandtschaft mit dem liberalen Sprechen. Sie ist der Ausdruck für eine Kommunikationsform, die die Entscheidung so lange wie möglich aufhält, und reproduziert das Vertrauen in die Wahrheit des „herrschaftsfreien Diskurses“ oder die „Gewalt des besseren Arguments“. Damit eröffnet sie einen gesellschaftlichen Raum, in dem der Austausch möglichst vieler Meinungen erlaubt wird und möglichst viele Informationen in die Entscheidung einfließen können. Aus der robusten Öffnung der liberalen öffentlichen Meinung folgt ihre besondere Eigenart des Entscheidungsaufschubs. Je länger der Meinungsaustausch dauert, desto unbestimmter wird die Entscheidung. In den deliberativen Demokratien scheint es bisweilen zu einer Deckungsgleichheit von Politik und liberaler Kommunikationsform gekommen zu sein, die dann zu dem Eindruck führt, dass nichts entschieden wird und die Politiker orientierungslos sind. Dieser Eindruck ist der Nährboden für den aggressiven Reflex des Populismus.

Um diese Reaktion konkreter begreifen zu können, muss zur demokratischen Paradoxie von Mehrheitsmacht und Minderheitenrechten eine zweite Unterscheidung hinzugedacht werden. Die demokratische Paradoxie spiegelt sich in der Struktur der öffentlichen Meinung, in der die liberalen Kommunikationsformen mit den populistischen Anrufungen konkurrieren. Quer zu diesem Konflikt steht die soziale Unterscheidung ihrer Mitglieder in Klassen. Betrachtet man die Struktur postmoderner Gesellschaften nicht nur identitätspolitisch als Patchwork von ausdifferenzierten Subjekten und Milieus, sondern auch als Ausdruck ökonomischer Verhältnisse, dann lassen sich auch die diversifiziertesten Gesellschaften noch in die zwei entgegengesetzten Klassen der Kapitaleigentümer, die von den Profiten des Kapitals leben, und die Klasse derjenigen, die von ihrer Arbeitskraft leben, unterscheiden. Auch wenn man diese zwei Klassen nicht marxistisch begreifen will, so räumt selbst Niklas Luhmann, der keinerlei Nähe zum Sozialismus hat, ein, dass es auch heute noch Klassen gibt. Der Begriff der sozialen Klasse „trifft sachlich durchaus zu, denn es gibt das Phänomen, das er bezeichnet: die gebündelte Ungleichverteilung. Insofern kann die Klassentheorie widerlegungssicher auftreten. [Denn] natürlich ist der Gegenstand dieses Begriffs, die Bündelung von Ungleichverteilungen, […] nicht verschwunden. Der Begriff ist nicht obsolet.“4