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Karo Stein

Flammenerbe

Band 1





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Die Flucht

„Morgen ist es endlich so weit, mein Sohn.“

Ein schwerer Arm landete auf Mathis‘ Schulter. Er musste sich mit aller Kraft dagegen stemmen, um nicht unter der Last einzuknicken. Sein Vater sollte nicht denken, dass er ein Schwächling war, auch wenn er mit dem großen und mächtigen König keineswegs mithalten konnte.

„Dein ganzes Leben haben wir dich auf diesen Moment vorbereitet. Die letzte Nacht vor dem großen Tag. Ich bin sehr aufgeregt, aber du sollst auch wissen, dass ich unheimlich stolz auf dich bin, Mathis.“ Der König blickte aus dem Fenster hinunter in den Hof. Mathis sah ebenfalls hinaus, aber noch immer begriff er nicht, was all das Holz, das seit Tagen von den Dienern herangeschleppt und sorgsam aufeinander gestapelt wurde, zu bedeuten hatte. Es gab so wenig, das er wusste und doch traute er sich nicht zu fragen. Er hatte keine Ahnung davon, was passieren würde, wenn die Sonne am nächsten Tag aufging. Auch wenn sich alles um dieses Ereignis drehte und er die Anspannung deutlich spüren konnte. Was war die besondere Aufgabe, die Mathis morgen erfüllen musste? Wie sollte er sich auf etwas vorbereiten, von dem er überhaupt nichts wusste?

Die drei Holzstapel sahen keineswegs verheißungsvoll aus. Darüber hinaus plagten Mathis schon eine ganze Weile Albträume, in denen Flammen lichterloh um ihn herum brannten. Jedes Mal wachte er schweißgebadet auf, begriff nicht, woher all das Feuer kam und was es zu bedeuten hatte. Für einen Augenblick blitzte das Bild des Wandteppichs im königlichen Arbeitszimmer vor seinen Augen auf. Er fürchtete sich regelrecht davor, denn dort verbrannten die Menschen ebenso in einem Feuer, wie in dem, von dem Mathis träumte. Alles erschien ihm so unreal und doch würde etwas mit ihm morgen passieren, das anscheinend schon sein ganzes Leben für ihn vorherbestimmt war.

Mathis versuchte, ein Seufzen zu unterdrücken. Er spürte den Schmerz in der Schulter stärker, den das Gewicht des Armes auslöste. Würde er jemals so stark wie sein Vater sein? Würden auch bei ihm irgendwann Muskeln deutlich hervortreten?

„Aber Vater“, murmelte er und starrte zum Horizont, wo sich der Himmel allmählich verdunkelte und die ersten Sterne zum Vorschein kamen. „Was genau muss ich denn machen und wofür ist das ganze Holz?“

„Mach dir keine Sorgen, Junge. Alles wird genau so geschehen, wie es vorherbestimmt ist.“

Die Antwort stellte Mathis nicht zufrieden, aber er wusste, dass er keine bessere bekommen würde. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass er nach Einzelheiten gefragt hatte. Mehr als dass es seine Aufgabe war und dass alles vorherbestimmt wäre und einem höheren Ziel diente, bekam er niemals gesagt.

„Geh schlafen. Du musst morgen bei Kräften sein“, sagte der König und nahm den Arm hinunter. Erleichtert streckt Mathis sich und ließ die Schultern kreisen. „Ein großer Tag. Wir haben alle so lange darauf gewartet.“

Der König küsste seinen Sohn auf die Stirn und schob ihn bestimmt aus dem Zimmer. Mathis rannte die Treppen nach unten, sprang die letzten Stufen hinab und hielt atemlos vor der schweren Eichentür, die zu seinem Zimmer führte. Er ging hinein und warf sich auf das große Bett. In seinem Kopf schwirrten tausend Fragen herum und Angst ließ sein Herz schneller schlagen. Am meisten quälte ihn die Vorstellung, dass er doch nicht der Richtige sein könnte. Was, wenn er die Aufgabe nicht erfüllen konnte, weil er zu dumm oder zu schwach war? Wie würde sein Vater darauf reagieren? Der König war ein strenger Mann. Er hielt Mathis die meiste Zeit auf Abstand. Jeder Versuch, sich vor dem König zu beweisen, war bisher kläglich gescheitert. Er konnte ihm einfach nichts recht machen. War das vielleicht seine Chance? Und wenn ja, was konnte er tun, damit alles zur vollen Zufriedenheit des Königs lief?

Die Nacht hatte den Tag inzwischen vollständig abgelöst. Am Himmel funkelten die Sterne und der Mond erschien als volle silberglänzende Scheibe. Fasziniert sah Mathis aus dem Fenster. Der Anblick beruhigte sein aufgewühltes Gemüt, schien ihm Sicherheit und Geborgenheit zu geben. Was immer die Aufgabe war, er würde sie annehmen.

Es klopfte und noch ehe Mathis sich versah, stand Etzold, sein Diener und engster Vertrauter, vor ihm.

„Schnell, Mathis, Ihr müsst von hier verschwinden“, sagte er und rang bei jedem Wort um Atem.

„Was ist denn los?“ Mathis setzte sich auf und sah Etzold verwirrt an. Dieser schien ängstlich und sorgenvoll, sah sich hektisch um und strich sich schließlich über die Haare.

„Ich habe in Erfahrung gebracht, was es mit dem Holz auf sich hat. Bitte, Herr, Ihr müsst fliehen. Ich kann nicht zulassen ... ihr könnt nicht, nicht jetzt...“

„Bitte, Etzold, was hast du erfahren?“, rief Mathis aufgeregt. „Erzähl mir davon. Du weißt, dass ich nicht fliehen kann. Es ist meine Aufgabe.“

„Nein, nein, nein.“ Etzold stampfte mit dem Fuß auf. Dann kniete er sich hin, ergriff Mathis‘ Hände und sah ihm ins Gesicht.

„Ich kann das nicht zulassen. Mathis, du weißt, wie viel ich für dich empfinde. Niemals könnte ich...“ Etzold verstummte und Mathis‘ Herz begann wie wild in seiner Brust zu schlagen. Es war nicht allein die vertrauliche Geste, die ungeheuerlichen Worte, sondern auch die Bilder seiner Träume, die plötzlich über ihn hereinbrachen.

„Ich werde dort brennen“, stellte Mathis fest und sein Hals wurde eng. Etzold sagte nichts, aber das brauchte er auch nicht. Plötzlich erschien es Mathis, als wenn alles einen Sinn ergab. Er fragte sich, warum ausgerechnet er dort unten morgen in Flammen aufgehen sollte und wofür gleich drei Holzhaufen errichtet wurden. War er vielleicht nicht der einzige?

„Was soll ich denn jetzt machen?“, erkundigte sich Mathis panisch.

„Fliehen. Das ist die einzige Möglichkeit.“

„Aber wohin denn? Es gibt keinen Ort, an dem mein Vater mich nicht finden würde. Ich kann nicht fliehen, ohne wie ein Feigling wieder eingefangen zu werden.“

„Doch, es gibt einen Ort, wo der König dich niemals aufspüren wird. Noch ist es nicht zu spät.“

„Kommst du mit mir?“, fragte Mathis hoffnungsvoll, aber Etzold schüttelte den Kopf und sah ihn betrübt an.

„Das ist unmöglich. Du musst allein gehen, aber vielleicht...“

„Etzold, du kannst mich nicht allein lassen. Du bist der einzige Mensch, dem ich immer vertraut habe. Du warst immer für mich da, hast mich wie ein Vater großgezogen, mir gleichzeitig die Mutter ersetzt und jetzt, in dieser schweren Stunde, soll ich ohne dich sein?“ Erneut schwappte eine Welle eiskalter Panik über Mathis hinweg. Instinktiv legte er seinen Kopf auf Etzolds Schulter, atmete den bekannten Geruch seines Dieners tief ein und wünschte sich nichts so sehr, wie niemals von dessen Seite weichen zu müssen.

„Mathis“, sagte Etzold, rückte ein Stück weg und nahm dessen Kopf in die Hände. Warme Finger strichen über Mathis‘ Wangen und sorgten für ein heißes Gefühl im Bauch. „Du wirst diesen Weg allein gehen, aber vielleicht könnten wir uns gegenseitig ein Geschenk machen?“

„Ein Geschenk?“, fragte Mathis und konnte seinen Blick nicht von den Lippen abwenden. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich nah waren, aber diesmal fühlte es sich anders an. Mathis wusste es nicht in Worte zu fassen, aber er fühlte Zuneigung und ein seltsames Kribbeln. Seufzend beugte er sich nach vorn und presste seine Lippen auf Etzolds Mund. Dieser schien nur darauf gewartet zu haben, denn er übernahm augenblicklich die Führung und forderte mit der Zunge Einlass. Zögerlich gab Mathis nach, spürte ein Beben am ganzen Körper und ein Prickeln auf der Haut, das ihm schier den Atem raubte.

„Was für ein Geschenk?“, flüsterte er gegen Etzolds Lippen und löste den Kuss.

„Schenk mir diese Nacht. Bevor du für immer von diesem Ort verschwindest, wünsche ich mir eine einzige Zusammenkunft. Ich verzehre mich schon so viele Jahre nach dir, nach deinem Körper.“

„Aber du hast doch nie etwas gesagt und bist du nicht...?“ Mathis verstummte und sah Etzold unsicher an.

„Das wäre wohl unerhört gewesen. Jetzt scheint mir jedoch alles gleichgültig. Es ist egal, was mit mir passiert, wenn du nicht mehr da bist. Ich will dich. Noch nie habe ich einen Menschen so begehrt wie dich, Mathis. Ich möchte nur ein einziges Mal spüren, wie du dich anfühlst, wie du unter mir stöhnst, dich mir hingibst. Ich weiß, dass ich so einen Wunsch nicht stellen darf, aber bitte, Mathis.“

„Etzold“, flüsterte Mathis mit erstickter Stimme. Die Worte lösten einen wahren Feuersturm in seinem Inneren aus. Es erschien ihm ungeheuerlich und doch fühlte es sich so gut an. Zum ersten Mal wurde er begehrt und wirklich als Mann wahrgenommen. Was hatte Mathis zu verlieren? Es war doch längst alles verloren. Die Worte seines Vaters klangen ihm in den Ohren und er konnte beinahe den Geruch des brennenden Holzes wahrnehmen.

„Du hast recht“, murmelte Mathis und es kam ihm vor, als würden ihm die Sinne schwinden. „Komm zu mir ins Bett, Etzold. Zeig mir, wie sehr du mich begehrst. Nimm dir mein Geschenk und gib mir deines.“

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, lag er unter dem schweren Körper, wurde sein Mund von warmen Lippen verschlossen und eine feuchte Zunge raubte ihm den Verstand. Mathis wusste nicht, was er tun sollte. Seine Hände suchten Halt, während er immer tiefer fiel. Etzold schien überall zu sein, leckte und küsste seine Haut. Er wollte mehr und gleichzeitig wurde es ihm zu viel. Mathis vergrub die Hände in Etzolds dichtem schwarzem Haar, stöhnte haltlos und bog den Rücken durch. Sein Penis machte sich schmerzhaft bemerkbar, wollte so dringend berührt werden, wie noch nie zuvor. Mathis versuchte, sich an Etzold zu reiben, bis dieser leise lachte, ihm in den Hals biss und sich aufrichtete.

„So eilig?“, fragte er mit lüsterner Stimme und strich mit einer Hand über Mathis‘ Unterleib. Dieser konnte nicht antworten, war überfordert von den Eindrücken. Seine Sinne spielten ihm einen Streich und sein Körper verlangte nach Erlösung.

Ehe sich Mathis versah, war er nackt und auch Etzold entledigte sich seiner Kleider. Groß ragte er über Mathis auf, dessen Blick wie magisch von dem steil aufragenden Penis angezogen wurde. Die pralle Spitze glänzte dunkel und Mathis war sich sicher, noch nie etwas ähnlich Schönes gesehen zu haben. Langsam legte sich Etzold auf ihn und Mathis spreizte instinktiv die Beine. Alles war so fremd und gleichzeitig willkommen. Mathis wollte es so sehr. Die Reibung war nicht genug, die Küsse reichten nicht ... alles in ihm schrie nach einer Vereinigung und vermutlich schrie Mathis in diesem Moment tatsächlich, denn Etzold redete beruhigend auf ihn ein, liebkoste seinen Hals, leckte über die empfindliche Haut und verschloss ihm abermals die Lippen, während er sich langsam in Mathis‘ engen Körper schob. Ein unsäglicher Schmerz flutete ihn. Tränen stiegen ihm in die Augen und alles um ihn herum schien unaufhaltsam zu versinken. Mathis fühlte sich schwerelos und gleichzeitig unangenehm ausgefüllt. Etzold ächzte über ihm, schien darauf zu warten, dass Mathis sich entspannte. Aber er wusste nicht wie, denn es tat so weh und sein Körper schien förmlich zu zerreißen. Seine Finger krallten sich in Etzolds Haut, als dieser immer tiefer in ihn drang.

„Gleich“, wurde ihm ins Ohr geraunt. „Gleich sind wir verbunden. Halt noch ein wenig aus, es wird sich lohnen.“

Mathis wollte ihm glauben, aber das Gefühl wurde nicht besser. Am liebsten hätte er Etzold von sich geschoben und doch hielt er still und versuchte, sich an den Druck zu gewöhnen.

„Oh ja“, flüsterte Etzold und begann, sich in Mathis zu bewegen. „Du hast einen wunderbaren Körper. Er ist wie geschaffen dafür...“ Ungestümer schob sich Etzold in die heiße Enge. Er stöhnte laut und riss Mathis mit. Allmählich spürte Mathis, wie die Erregung wieder von ihm Besitz ergriff. In seinem Bauch wurde es heiß. Es war, als würde sich ein Feuerball durch seinen Körper schieben und alles darin verbrennen.

„Gleich“, murmelte Etzold und griff nach Mathis‘ Penis. Er begann, ihn mit harten Bewegungen zu reiben. Das war zu viel für Mathis. Der Schmerz, das ungewohnte Gefühl in seinem Inneren, dazu noch sein Glied, das noch nie von einer fremden Hand berührt wurde. Er warf den Kopf in den Nacken und explodierte. Alles um ihn herum verschwamm, sein Körper zuckte, eine unendliche Hitze machte sich in ihm breit. Etzold presste sich tief in ihn. Er spürte, wie dessen Sperma in ihn strömte. Erneut loderte ein Feuer in Mathis auf, aber diesmal schien es sich nur auf einen Punkt in seinem Bauch zu konzentrieren. Es tat beinahe weh, so heiß wurde es. Mathis riss die Augen auf und alles, was er sah, war Etzold, der ihn anlächelte. Sie küssten sich, lachten leise und hielten sich in den Armen. Mathis war nicht fähig, in Worte zu fassen was er fühlte, aber das war auch nicht nötig. Etzold schien zufrieden mit dem Geschenk zu sein. Vielleicht war es das einzige Mal, dass er...

„Du musst los“, riss Etzold ihn aus den Gedanken.

„Aber wohin soll ich denn gehen? Wäre es nicht besser, ich nehme die Herausforderung an? Ist es nicht meine Pflicht...“

„Nein, das werde ich nicht zulassen“, brummte Etzold und rollte sich von Mathis herunter.

„Das ist nicht deine Entscheidung“, erwiderte Mathis ebenso grummelnd.

„Du hast recht, aber du kannst dein Leben nicht einfach so wegwerfen. Ich bin mir sicher, dass es einen anderen Weg für dich gibt.“

„Welchen denn? Wo soll ich hin. Jeder im Land kennt mich. Ich kann mich nicht für immer verstecken.“

„Das Portal“, flüsterte Etzold. Mathis entfuhr ein Schreckenslaut und er sah den Mann, der ihm eben noch dieses unglaubliche Erlebnis verschafft hatte, mit ungläubigem Blick an.

„Du musst das Portal benutzen. Geh in eine andere Welt. Das ist deine einzige Chance.“

„Das meinst du nicht ernst! Das Portal ist doch nur ein Märchen. Niemand hat es je gesehen oder ist zurückgekehrt.“

„Es ist da und ich habe es für dich geöffnet.“

„Vermutlich lauert auf der anderen Seite der Tod. Wofür sollte ich dieses Risiko auf mich nehmen?“

„Ich bin mir sicher, dass du dort nicht sterben wirst. Beeile dich, Mathis, die Nacht ist bald vorbei. Du musst das Portal benutzen. Es bleibt nur wenige Stunden offen.“

„Ich weiß nicht, ob ich das kann“, murmelte Mathis ängstlich.

„Natürlich“, sagte Etzold und klang ungeduldig. „Zieh dich an.“

Zögernd erhob sich Mathis und schlüpfte in seine Sachen. Er spürte ein leichtes Brennen bei jeder Bewegung und zähflüssig rann Samen aus seinem Hinterteil. Etzold reichte ihm jedes Bekleidungsstück und trieb ihn zur Eile an.

„Was soll ich denn mitnehmen?“, fragte Mathis hoffnungslos und sah sich im dunklen Zimmer um. Eigentlich gab es nichts, an dem er hing oder das mit besonderen Erinnerungen verbunden war. Erstaunt stellte Mathis fest, dass es in seinem bisherigen Leben kaum Ereignisse gab, die er als herausragend bezeichnen würde. Alles schien auf diesen einen Tag hinauszulaufen. War damit tatsächlich das Ende seines Lebens geplant? Vielleicht war der König niemals besonders väterlich gewesen, aber wollte er seinen Tod? War das alles, was ihn ausmachte? Mathis schüttelte resigniert den Kopf. Wofür sollte eine Flucht gut sein, noch dazu, wo sie so ungewiss und gefährlich war? Nach 19 Jahren würde er einfach von der Erde verschwinden und alles, was er mitnahm, war dieses Erlebnis mit Etzold. Tränen rannen ihm über die Wangen. Unwirsch wischte er sie mit dem Ärmel weg. Weinen war nichts für Männer. Stolz war das Wichtigste im Leben.

„Das Portal, Mathis.“ Etzold gab ihm ein kleines Bündel und schob ihn unaufhaltsam zur Tür.

„Ich weiß doch gar nicht, wie ich es finde. Es ist viel zu gefährlich, Etzold.“

„Es ist nicht gefährlicher, als hier zu bleiben. Geh in den Wald. Deine Sinne werden dich führen und dann lauf, so schnell du kannst. Bleib nicht stehen, sieh dich nicht um. Das Portal findet dich und wird dich retten.“

„Oder umbringen“, erwiderte er murrend. „Und du willst wirklich nicht mitkommen? Zu zweit könnten wir es schaffen. Du bist schließlich mein Diener und ich könnte es dir befehlen.“

Eine Weile sah Etzold Mathis stumm an, dann schüttelte er den Kopf und richtete sich steif auf. „Nein, Herr, ich kann Ihnen nicht folgen. Diesen Weg müssen Sie allein beschreiten, aber in meinen Gedanken bin ich immer bei Euch.“

„Etzold“, flüsterte Mathis und das Herz wurde ihm schwer. Der vertrauliche Tonfall war verschwunden und Mathis traute sich nicht, ihn zum Abschied zu umarmen. An einen letzten Kuss wollte er gar nicht erst denken. Er straffte die Schultern und nickte. Ohne ein weiteres Wort verließ Mathis den Raum, lief den langen Flur hinunter und öffnete die Tür, die aus der Burg führte. Ein kalter Wind schlug ihm entgegen. Das aufgeschichtete Holz, an dem er vorbei ging, sorgte für eine Gänsehaut. Er blieb einen Moment stehen, schloss die Augen und sog den Duft tief ein. Noch einmal überkamen ihn Zweifel, aber dann loderten die Flammen erneut in seinen Gedanken auf und ein Punkt unterhalb seines Bauchnabels schien ebenfalls zu glühen. Mathis‘ Beine setzten sich ganz von allein in Bewegung. Er ging an den schlafenden Wachen vorbei und verließ sein Zuhause. Tiefe Trauer erfasste ihn. Ein letztes Mal blieb er stehen und sah sich um. Mächtige Mauern umschlossen die Burg, die wie ein dunkler Schatten vor ihm aufragte. Am liebsten wäre er zurückgegangen, aber Etzolds Worte klangen in seinen Ohren und trieben ihn an.

Mathis lief los. Zuerst langsam, dann immer schneller. Sein Atem hallte laut in den Ohren wider. Er spürte, wie seine Lungen zu brennen begannen, aber seine Beine bewegten sich unaufhaltsam. Mathis rannte, als würde sein Leben davon abhängen. Das tat es schließlich auch. Er stolperte über Wurzeln, rappelte sich auf und lief weiter. Das fahle Mondlicht zeigte ihm den Weg und er folgte den Schatten, die beinahe wie Pfeile wirkten. Er keuchte laut, spürte wie die Kräfte ihn verließen. Wie lange war er schon unterwegs? Das Portal konnte er nicht entdecken. Vielleicht war es doch nur ein Märchen, um Kindern Angst einzujagen. War er auf einen Streich von Etzold hereingefallen? Lag dieser lachend im Bett und freute sich, dass er Mathis in die Irre geführt hatte? Nein, das würde sein Diener nicht tun. Er musste nur durchhalten und dann... Noch ehe Mathis weiter darüber nachdenken konnte, hörte er ein seltsames Flirren in der Luft und spürte eine Kraft. Es war, als würden Hände nach ihm greifen. Er wurde gepackt, gezogen, hochgehoben. Die Welt stellte sich auf den Kopf. Mathis schrie, stürzte, drehte sich im Kreis. Ihm wurde schwindelig. Das Blut rauschte in seinen Ohren und dann landete er hart auf dem kalten Boden.

Sein Herz klopfte wild in der Brust. Es roch nach Erde und Holz. Mathis wusste nicht, was er machen sollte. Liegenbleiben oder aufstehen? Hatte er das Portal bereits überwunden oder war er einfach nur vor Erschöpfung zusammengebrochen? Langsam hob er den Kopf. Der Wald sah keineswegs ungewöhnlich aus. Er rappelte sich auf und staunte, dass er offensichtlich unverletzt geblieben war. Dabei hatte es sich angefühlt, als wäre er von weit oben hinabgestürzt. Er bewegte sich vorsichtig, aber alles schien vollkommen in Ordnung zu sein. Sogar das Bündel, das Etzold gepackt hatte, fand Mathis wieder. Er nahm es auf und ging den Weg weiter entlang. Es war unglaublich kalt. Sein Atem bildete kleine Wolken vor seinem Gesicht. Zum Glück hatte Etzold darauf bestanden, dass Mathis den dicken Mantel überzog.

Seine Beine verweigerten ihm den Dienst. Am liebsten hätte er sich eine Stelle unter den Bäumen gesucht, um zu schlafen. Aber er wusste nicht, ob er in Sicherheit war, und die Kälte machte ihm auch ein wenig Sorgen.

Nach einer Weile lichtete sich der Wald und Mathis bot sich ein Anblick, der ihn zurückweichen ließ. Die Landschaft erschien ihm vollkommen unwirklich. Es roch seltsam und unbekannte Geräusche fluteten seine Ohren. Mit offenem Mund ging er weiter, drehte sich in alle Richtungen und wusste nicht, was er mit den Bildern anfangen sollte. Instinktiv rannte er zurück in den Wald. Den ganzen Weg zurück, obwohl seine Beine ihn kaum noch tragen wollten.

„Lauf“, feuerte er sich selbst an und hoffte darauf, dass das Portal ihn wieder zurückbrachte. „Mach schon“, brüllte er in die Dunkelheit. Er wusste nicht, ob er an der richtigen Stelle war, also mobilisierte er die letzten Kräfte und lief so schnell er konnte.

„Öffne dich, bring mich zurück“, flehte er und fiel mutlos auf die Knie. Er war schon viel zu weit gelaufen und noch immer nichts passiert.

„Bisher ist niemand zurückgekehrt.“ Mathis erinnerte sich an seine eigenen Worte und verbarg das Gesicht in den Händen. Er seufzte schwer, ließ sich zur Seite fallen und wollte nie wieder aufstehen. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er einen unwiderruflichen Fehler begangen hatte, doch nun gab es kein Zurück mehr.

Als die ersten Sonnenstrahlen den beginnenden Tag ankündigten, krabbelte er vom Weg und legte sich hinter eine dicke Eiche. Das Bündel diente ihm als Kopfkissen, als er die Augen schloss. Er wollte den Tag nicht sehen, wollte sich nicht bewusst werden, dass er alles falsch gemacht hatte. Er hatte seinen Vater verraten. Das Feuer, er hätte die Aufgabe annehmen sollen. Es war ihm vorherbestimmt und niemand durfte sich seiner Bestimmung entziehen. Etzold hatte ihn zu etwas gedrängt, das verkehrt war. Auch wenn er sich für einen Moment wirklich besonders gefühlt hatte. Und nun existierte Mathis nicht mehr. Er war gefangen in einer Welt voller rätselhafter und fremder Dinge. Er wollte gar nicht wissen, wie es hier im hellen Tageslicht aussah. Seine Augen fielen von allein zu. Die Müdigkeit forderte ihren Tribut und Mathis hoffte, dass er im Schlaf erfrieren würde.

Frischfleisch

Als Justus die Arztpraxis verließ, war es bereits Abend. Freitags hatte er nur bis zum Mittag Sprechstunde, aber es gab noch ein paar Abrechnungen für Privatpatienten, die schon längst überfällig waren. Noch immer konnte er sich nicht dazu entschließen, diese elende Aufgabe an ein Drittunternehmen zu übergeben. Die meisten Kollegen, die er kannte, hatten schon lange die Abrechnung ausgelagert und machten allesamt positive Erfahrungen damit. Im Grunde wusste Justus nicht, was ihn davon abhielt. Vermutlich fiel es ihm einfach nur schwer, die Kontrolle abzugeben. Dafür hatte er allerdings diese unsägliche Arbeit am Hals, die ihm eine Menge Nerven und Zeit kostete.

Er schwor sich, sobald wie möglich einen Termin mit einem der Dienstleister zu vereinbaren, und grinste über sich selbst, denn er hatte diesen Entschluss schon so oft gefasst.

Die Abendluft war kalt und klar und sorgte dafür, dass er den Kopf frei bekam. Die Praxis befand sich nur wenige Straßen von seinem kleinen Haus entfernt. Er fuhr deshalb selten mit dem Auto, sondern nutzte den Weg, um sich ein bisschen zu bewegen. Der Rücken schmerzte und hinter den Schläfen kündigten sich pochend Kopfschmerzen an. Dabei wollte er heute endlich mal wieder in den Club. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, dass er das letzte Mal ausgegangen war. Er wollte tanzen, trinken und Sex haben. Oh Mann, wie sehr es ihm nach Sex gelüstete. Ein fester Männerarsch, ein harter Schwanz, der Geruch nach Schweiß... Die Vorstellung ließ seinen eigenen Schwanz anschwellen und vertrieb die Müdigkeit aus seinem Körper. Justus hatte das Gefühl zu platzen, wenn er nicht endlich wieder unter Gleichgesinnte kam. Die eigene Faust reichte auf Dauer nicht. Ein Dildo war kein echter Schwanz und Pornos kein Ersatz für menschliche Wärme. Dabei forderte Justus gar nicht viel. Er suchte nicht nach einem Partner, wollte kein Beziehungschaos. Nur Sex und Spaß und beides würde er sich an diesem Abend gönnen. Schlafen konnte er in einer anderen Nacht.

Voller Zuversicht betrat er den Vorgarten, sammelte die Post aus dem Briefkasten und schloss die Haustür auf. Er genoss die Stille, ging in die Küche und holte eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Bis er sich auf den Weg in den Club machen konnte, war es noch etwas Zeit.

Er brauchte eine Kleinigkeit zu essen, eine Dusche und eine gründliche Rasur. Wie immer war der Inhalt seines Kühlschrankes nicht berauschend. Auch im Tiefkühlfach war nichts zu finden, was auf die Schnelle seinen Magen füllen würde. Er betrachtete den Zettel vom Pizzadienst, entschied sich dann doch für den letzten Kanten Brot, den er mit der allerletzten Scheibe Käse belegte. Am Samstag würde er um einen Einkauf nicht herumkommen.

Er setzte sich an den Küchentisch. Irgendwo in seinem Hinterkopf wünschte sich eine Stimme, nicht allein essen zu müssen. Justus schüttelte den Kopf und verdrängte sie schnell wieder. Er war froh, dass dieses Haus ihm allein gehörte, hatte nur selten das Bedürfnis nach Gesellschaft. Während seiner Studienzeit hatte er in einer WG gelebt. Der Trubel und die unterschiedlichen Gewohnheiten seiner Mitbewohner waren ihm permanent auf die Nerven gegangen. Auch wenn sich viele lustige Begebenheiten zugetragen und er sich durchaus auch wohlgefühlt hatte, war er froh, diese Art zu leben hinter sich gelassen zu haben. Das kleine Haus war ebenso perfekt, wie die Arztpraxis, die er relativ günstig übernehmen konnte. Kleinstädte waren, ebenso wie Dörfer, nicht besonders beliebt unter den jungen Ärzten. Auch Justus hatte lange überlegt, ob er dafür bereit war. Bisher hatte er es nicht bereut. Der persönliche Kontakt zu den Patienten und das Vertrauen, das sie ihm jeden Tag entgegen brachten, motivierten ihn. Trotzdem sehnte er sich manchmal nach ein bisschen Aufregung, nach Abenteuern, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie diese aussehen sollten. Er war sechsunddreißig und hatte es sich bereits verdammt bequem in seinem Leben gemacht. Nicht immer gefiel ihm die Vorstellung, dass es bis ans Ende seiner Zeit so weitergehen würde.

Deshalb erhob er sich, ignorierte das Bedürfnis, sich auf dem Sofa auszustrecken, um über irgendeinem sinnlosen Film einzuschlafen, und ging stattdessen nach oben ins Bad. Das warme Wasser erweckte die müden Lebensgeister. Die kühle Klinge des Rasierers auf der Haut, speziell im Intimbereich, machte ihn kribbelig und ließ Vorfreude aufflackern.

Im Grunde war Justus nicht wählerisch, solange der Kerl einigermaßen nett aussah. Er hatte keinen besonderen Typ, keine Augenfarbe, die ihn schwach machte. Bei jungen Männern war er allerdings vorsichtig, denn sie verliebten sich nur allzu schnell und begriffen nicht, dass im Darkroom nicht die große Liebe wartete. Am liebsten wollte er jemanden, mit dem er sich auf Augenhöhe befand. Idealerweise jemand, der auf der gleichen Wellenlänge schwamm. Stress galt es zu vermeiden. Zufrieden spülte Justus seinen Körper ab, spielte eine Weile an seinem Schwanz herum und entschied sich gegen einen schnellen Handjob. Heute Abend würde sich jemand anderes um seine Bedürfnisse kümmern.

Er trocknete sich gründlich ab, benutzte eine Körpercreme und verteilte sein Lieblingsparfüm angemessen auf einigen Stellen. Seine blonden Haare waren kurz, sodass es nicht viel zu frisieren gab. Blaue Augen musterten ihn kritisch, aber im Grunde gab es kaum etwas auszusetzen. Justus war schlank, recht muskulös, sein Hintern hatte eine schöne runde Form, die Beine waren nur leicht behaart. Er war mit sich zufrieden, auch wenn er wusste, dass die vierzig nicht mehr weit entfernt war und er allmählich zu alt für die Clubs wurde.

Vor dem Kleiderschrank verharrte er einen Moment, entschied sich dann für den Klassiker: Eine eng sitzende schwarze Jeans und ein hellblaues Shirt, das seinen Augen eine besondere Tiefe verlieh.

Die Jagd konnte beginnen. Justus hielt es kaum länger zu Hause aus. Er spürte das Verlangen in sich, ein Kribbeln auf der Haut und ein Zucken im Schwanz, das mit jeder Minute seine Lust stärker anfachte.

Sein kleiner schwarzer Flitzer schien ebenso ungeduldig zu sein. Justus ließ kurz den Motor aufheulen und fuhr grinsend die Straße entlang. Bis zum Club war er eine halbe Stunde unterwegs. Er trommelte im Takt der Musik aus dem Autoradio auf das Lenkrad und summte in freudiger Erwartung mit.

Der Club lag am Rande der nächstgrößeren Stadt in einem Industriegebiet. Viele Betriebe gab es hier nicht mehr. Die meisten Hallen waren leer oder abgerissen. Der Club war jedoch ein großer Anziehungspunkt, vor allem weil er, zumindest soweit Justus das beurteilen konnte, der einzige Gay Club in der Nähe war. Natürlich konnte jeder hier feiern, aber er war schon deutlich auf die entsprechende Zielgruppe ausgelegt. Es gab einen großen Darkroom, ein Pornokino, das nicht nur zum Zuschauen einlud, Gogo-Tänzer und ein paar ansehnliche Kerle, die für Geld alles taten. Allerdings hoffte Justus, dass er darauf nicht zurückgreifen musste. Er suchte nach einem Mann, der ebenso bedürftig war wie er selbst.

Auf dem Parkplatz war es noch recht übersichtlich. Justus sah auf die Uhr und stellte seufzend fest, dass es viel zu früh war. Er stellte das Auto in der Nähe des Eingangs ab und ging hinein.

Er brauchte einen Augenblick, um sich an die laute Musik, die Mischung aus Schweiß, Sex und Deo und die grellen Lichtblitze zu gewöhnen. Dabei waren wirklich noch nicht viele Leute anwesend, sodass sich Justus fragte, ob die Räume überhaupt jemals gelüftet wurden.

Sein Ziel war die Bar, um sich ein einziges Bier zu gönnen. Mehr trank er nicht, wenn er mit dem Auto unterwegs war, aber das erste Pils würde längst aus seinem Blut verschwunden sein, wenn er wieder nach Hause fuhr.

Selbstsicher hievte er sich auf einen Barhocker, bestellte ein kühles Blondes und ließ es sich genüsslich schmecken. Noch war die Tanzfläche relativ leer. Es gab ein paar Poser, die diese frühe Stunde nutzten, um ihr Können zu zeigen. Justus war nicht besonders beeindruckt. Er fand es eher lächerlich, wenn ein Mann die Arme und Beine schwang, als wären sie nicht fest mit dem Körper verbunden. Vielleicht sprach auch ein wenig Neid aus ihm, denn er war weder ein besonders guter Tänzer noch fiel es ihm leicht, aus sich hinauszugehen. Loslassen und sich völlig frei bewegen, das erforderte viel Kraft von ihm. Er war schon als Kind darauf trainiert worden, die Meinung der Leute über die eigenen Interessen zu stellen. Klassensprecher zu sein war gut fürs Prestige, Jahrgangsbester, Medizinstudium, ein super Abschluss. Natürlich wollte Justus das alles auch, aber es war in erster Linie für seine Eltern wichtig. Mit seiner Homosexualität konnten sie dagegen nicht umgehen. Vermutlich hatte er sich auch deshalb schnellen und anonymen Sex als eine Art Ventil gesucht. Sich zu fragen, was andere von ihm dachten, war ihm mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen. Er mochte Situationen nicht, in denen er sich blamieren konnte. Egal wie oft er sich eingeredet hatte, dass es doch keine Rolle spielte, er schaffte den Absprung nicht. Letztendlich gab es auch keinen Grund dafür.

Das bedeutete jedoch nicht, dass er nicht gern tanzte. Er konnte dann die Freiheit deutlich spüren und bewegte sich gern zur Musik, solange alles in einem angemessenen Rahmen blieb.

„Lust zu tanzen?“, wurde er in diesem Moment gefragt. Ein Typ lächelte ihn auffordernd an. Er schien nervös zu sein, was Justus durchaus anmachte.

„Warum nicht?“, erwiderte er deshalb und rutschte vom Barhocker herunter. Sie gingen zusammen zur Tanzfläche. Der Kerl schlang stürmisch die Arme um Justus‘ Hals und presste sich dicht an ihn. Justus ließ es sich gefallen, legte seinerseits die Hände auf die Hüfte des anderen und beide wiegten sich im Takt der Musik. Sie fanden einen gemeinsamen Rhythmus und lächelten sich immer wieder an. Ein kribbliges Gefühl stieg in Justus auf. Er schob sein Becken nach vorn und rieb sich an seinem Tanzpartner.

„Wie heißt du?“

„Justus und du?“

„Lukas.“

„Freut mich, Lukas“, sagte Justus und leckte sich aufreizend über die Lippen.

„Ebenso“, erwiderte sein Tanzpartner glucksend.

Ein neues Lied begann, ohne dass sie sich voneinander lösten. Lukas roch angenehm, fühlte sich gut an und Justus war in Gedanken schon auf dem Weg zum Darkroom.

„Bist du öfter hier?“, erkundigte sich Lukas und schmiegte sich an ihn. Sein Atem kitzelte die Haut an Justus‘ Hals und sorgte für einen angenehmen Schauer.

„Hin und wieder. Das ist der einzige Club in meiner Nähe und er bietet ein paar wirklich praktische Annehmlichkeiten.“ Er zwinkerte Lukas zu, aber der wich plötzlich zurück und schluckte schwer. Justus befürchtete, dass das kein gutes Zeichen war. „Was ist mit dir? Ich kann mich nicht erinnern, dich schon mal vorher gesehen zu haben“, fragte er deshalb und hoffte, dass sie doch noch übereinkommen würden.

„Da hast du recht. Ich bin erst vor drei Wochen hergezogen und wollte mich mal ein bisschen umsehen.“

„Und? Schon was entdeckt?“, raunte Justus ihm verführerisch ins Ohr. Es wurde Zeit, die Fronten zu klären.

„Ich ... also, versteh mich nicht falsch, aber ich steh nicht so auf diese schnellen Nummern.“

„Dafür hast du aber ganz schön Gas gegeben“, brummte Justus enttäuscht und brachte nun seinerseits Abstand zwischen sie.

„Du bist nur auf einen schnellen Fick aus und hast kein Interesse, dass sich vielleicht mehr entwickeln könnte. Sehe ich das richtig?“ Lukas klang resigniert und enttäuscht. Für einen Moment machte sich das schlechte Gewissen bei Justus bemerkbar. Er zog sogar in Erwägung zu lügen, um doch noch ans Ziel zu kommen. Aber er wusste, dass das Komplikationen mit sich bringen würde und darauf hatte er keine Lust.

„Ich schätze, ich will es schnell und anonym. Gegen intensiven Matratzensport habe ich nichts einzuwenden, aber Telefonnummern werden nicht ausgetauscht und über ein Date denke ich nicht einmal nach.“

„Wow, das nenne ich mal eine Ansage.“

Mittlerweile tanzten sie nicht mehr. Lukas hatte sich von Justus gelöst und die Arme vor der Brust verschränkt. Sie zogen bereits die Aufmerksamkeit der anderen auf sich und das gefiel Justus nicht.

„Tut mir leid, aber ich will dich nicht belügen oder dir irgendwelche Hoffnungen machen.“

„Das ist bescheuert“, murrte Lukas und drehte sich ohne einen weiteren Kommentar weg. Er verschwand zwischen den Leuten. Justus verfolgte ihn noch einen Moment mit den Augen. Die Beine wollten sich jedoch nicht in Bewegung setzen.

„Mist“, murmelte er schließlich und verließ die Tanzfläche. Er hatte Glück, denn sein Barhocker war noch immer frei. Vielleicht gönnte er sich heute ausnahmsweise ein zweites Bier. So eine Abfuhr ließ seine Laune in den Keller sinken. Dabei war Lukas wirklich vielversprechend gewesen. Der perfekte Mann für ein kleines Intermezzo im Darkroom. Verdammt! Er ließ den Blick durch den Raum gleiten und hoffte, möglichst bald einen anderen Kerl zu finden.

Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis er Augenkontakt hatte und offensichtlich auf einen Gleichgesinnten gestoßen war. Der Typ deutete wortlos in Richtung Vergnügungszimmer und Justus konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Genau so sollte es sein! Er nickte, schwang sich vom Hocker und setzte sich in Bewegung. Kurz vor der Tür hatte der andere ihn eingeholt. Er legte Justus eine Hand zwischen die Schulterblätter und schob ihn in die entsprechende Richtung. Justus spürte die Wärme im Rücken und das bekannte Kribbeln lief seine Wirbelsäule entlang. Genau das war es, was er brauchte. Die Geräusche und der Geruch vernebelten Justus die Sinne. Sein Schwanz schwoll an und wollte bearbeitet werden. Sie fanden eine freie Stelle, umarmten sich hart und emotionslos und fingen an, ihre Körper aneinander zu reiben.

„Aktiv oder passiv?“, fragte der Typ, dessen Namen Justus nicht wusste und der ihn eigentlich auch nicht interessierte.

„Was ist dir lieber?“, erkundigte er sich mit rauer Stimme und presste seinen harten Schwanz gegen den anderen.

„Gib mir deinen Arsch und ich katapultiere dich zu den Sternen.“

„Ist das ein Versprechen?“

„Das ist eine Tatsache“, erwiderte der Kerl arrogant und seine Augen funkelten im dämmrigen Licht.

„Beweise, ich brauche Beweise“, erwiderte Justus freudig erregt. Er wurde frontal gegen die Wand gepresst. Seine Hose rutschte in die Kniekehlen und die Backen wurden heftig geknetet.

„Geil“, raunte der Kerl, beugte sich hinunter und Justus spürte eine feuchte Zunge auf seinem Hintern. Er bot sich an, öffnete die Beine so weit es die Hose zuließ und genoss die Behandlung, die der andere ihm zuteilwerden ließ.

Justus spürte das kalte Gleitgel an seinem Eingang, hörte das Reißen der Folienverpackung und Vorfreude machte sich in ihm breit. Genau so wollte er es haben. Kein langes Vorspiel, kein vorsichtiges Herantasten. Pure Befriedigung, einhundert Prozent Genuss.

Finger bereiteten ihn vor, aber er war längst verfügbar. Der Kerl bemerkte es schnell, setzte seinen Schwanz an und drang in Justus ein. Er stöhnte und genoss die Dehnung, gab sich dem leichten Schmerz hin und wartete ungeduldig auf das Lustgefühl. So gut, es fühlte sich so verdammt gut an. Stöhnend forderte er den Kerl auf, sich endlich zu bewegen. Dieser schien nur darauf gewartet zu haben. Kraftvoll eroberte er Justus. Lange, harte Stöße brachten ihn um den Verstand. Sein Schwanz tropfte und die Geilheit erfüllte jede Zelle. Sie gaben sich beide diesem Intermezzo hin, nahmen sich, was sie brauchten, und am Ende hatte Justus tatsächlich das Gefühl, direkt in den Himmel zu fliegen.

Er fühlte sich so befriedigt, wie lange nicht mehr. Da war es ihm auch egal, dass der Typ ohne ein Wort seinen Schwanz herauszog und ging. Justus lehnte sich für einen Moment gegen die Wand, kühlte sich die Stirn und versuchte, seine Atmung zu beruhigen. Dann bückte er sich, zog die Hose hoch und ging in Richtung Ausgang. Genau so hatte er sich den Abend vorgestellt.

Als er die Tür öffnete, kam ihm ein Mann entgegen. Er hatte einen deutlich Jüngeren im Schlepptau. Grinsend hielt Justus den beiden die Tür auf. Der zweite war merkwürdig angezogen, sodass Justus‘ Blick für den Bruchteil einer Sekunde an ihm hängenblieb. Große dunkle Augen sahen ihn unsicher an. Wollte er etwa gar nicht mit dem anderen mitgehen? Für gewöhnlich mischte sich Justus nicht in fremde Angelegenheiten. Aber etwas erschien ihm seltsam an dem Jungen. Nicht nur die ungeheuer großen Augen, sein ganzes Auftreten. Justus schüttelte über sich selbst den Kopf. Was hatte er denn von ihm gesehen? Nichts. Vermutlich spielte seine Fantasie ihm einen Streich. Nachwehen eines phänomenalen Orgasmus.

Er grinste, ging zur Bar und bestellte eine Cola. Gierig trank er und ließ seinen Blick abermals durch den Raum schweifen. Für den Moment war er befriedigt, aber der Abend war noch jung und Justus brauchte ein kleines Sexpolster, auf dem er sich einige Zeit ausruhen konnte. Sein Job war zu stressig, um mehr Energie in Clubbesuche zu stecken. Er musste also das maximal Mögliche aus diesem Abend herausholen.

Gerade als er sich bequemer hinstellen wollte, prallte jemand gegen ihn. Ein leiser Schrei erklang und Hände hielten sich zitternd an ihm fest.

„Hoppla“, sagte Justus lachend und half dem Kerl auf die Beine. „Du hast es ja eilig.“

Es war der Typ, den er am Eingang zum Darkroom gesehen hatte. Die dunklen Augen wirkten gehetzt und panisch. Er wich Justus‘ Blick aus, wollte sich einerseits losreißen und klammerte sich gleichzeitig an seinem Shirt fest.

„Hey, alles klar?“, fragte Justus sanft und streichelte dem Mann instinktiv über die Wange.

„Ich weiß nicht“, flüsterte er kaum hörbar.

„Hat der Kerl was gemacht, was du nicht wolltest?“, erkundigte sich Justus und eine seltsame Wut erfasste ihn. Der andere schüttelte den Kopf und ließ die Schultern hängen.

„Ich wusste nicht, dass... Ich habe so etwas noch nie gesehen.“

„So siehst du auch aus“, erwiderte Justus und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Verrätst du mir deinen Namen?“

„Mathis.“

„Okay, Mathis. Freut mich, dich kennen zu lernen. Ich heiße übrigens Justus. Wie kommt jemand wie du darauf, mit jemand wie ihm in den Darkroom zu verschwinden?“

„Ich weiß nicht, was du meinst, Justus. Ich habe nach einem Platz zum Ausruhen gefragt und das ... also, das war widerlich.“

„So schlimm ist es auch nicht. Ganz im Gegenteil. Aber was genau verstehst du denn unter Ausruhen? Wo kommst du überhaupt her?“

Eine Antwort bekam Justus darauf nicht. Stattdessen sahen die Augen ihn erneut voller Angst an. Mathis schüttelte den Kopf, drehte sich weg und tauchte in der Masse unter.

Gleichgültig beobachtete Justus, wie Mathis verschwand. Wenn er sich hier nicht wohlfühlte, dann sollte er woanders hingehen. Moralapostel konnte Justus nicht ausstehen. Dieser Club bedeutete Spaß und den würde sich Justus ganz bestimmt nicht verderben lassen. Leider bekam er den Blick von Mathis nicht aus seinem Gedächtnis. Die dunklen Augen hatten sich binnen Sekunden in sein Gehirn gebrannt und ein seltsames Gefühl befiel seinen Brustkorb. Es nützte nichts, er konnte sich nicht entspannen, wenn dieser junge und offensichtlich vollkommen unerfahrene Kerl hier womöglich in die falschen Hände geriet. Vielleicht war es der Arzt in ihm, der sein Gewissen in Kraft setzte, oder es war etwas an Mathis, das ihn vom ersten Moment an seltsam berührt hatte.

Justus ging durch den Raum und sah sich suchend um. Nach einer Weile entdeckte er Mathis hinter einem Pfeiler. Er hockte am Boden, ein merkwürdiges Bündel fest an sich gedrückt. Das war ihm vorher gar nicht aufgefallen, machte den Anblick aber irgendwie noch grotesker. Justus drängelte sich durch die Leute, bis er Mathis erreichte. Er hockte sich vor ihm hin und betrachtete den Mann eine ganze Weile. Feine Gesichtszüge, volle Lippen, schwarze Locken, die wild in alle Richtungen standen und ein wenig schmutzig wirkten. Überhaupt sahen die Klamotten äußerst merkwürdig aus. Sie erinnerte ihn an Mittelaltermärkte. Allerdings fragte er sich, ob zu dieser Jahreszeit so etwas überhaupt stattfand. Vielleicht gehörte er auch zu einer Sekte und war möglicherweise auf der Flucht. Justus fragte sich, wann er sich das letzte Mal so viele Gedanken über einen Mann gemacht hatte, mit dem er nicht einmal fünf Minuten gesprochen hatte.

„Was machst du hier?“, erkundigte sich Justus schließlich.

„Ausruhen“, murmelte Mathis.

„Das ist kein Ort zum Ausruhen. Hier wird gefeiert und getanzt und gefickt.“ Erneut nahmen ihn die großen Augen gefangen.

„Es riecht seltsam und ist so schrecklich laut.“

„Das ist der Sinn.“

Mathis erhob sich und sah sich unsicher um. „Wo soll ich denn hin?“ Er klang so hoffnungslos und traurig, dass er Justus‘ Herz berührte. Was auch immer Mathis an sich hatte, es wirkte und sorgte dafür, dass Justus nicht mehr rational denken konnte.

„Das ist kein Ort für Frischfleisch wie dich.“

Mathis sah ihn verwirrt an. Hätte Justus sich selbst beobachten können, hätte er vermutlich ebenso verständnislos reagiert, denn er ergriff Mathis‘ Hand und zog ihn in Richtung Ausgang.

„Wo gehen wir hin?“, wollte der komische Vogel wissen. Justus antwortete nicht, blieb erst am Auto stehen.

„Bist du weggelaufen?“

„Ja, woher weißt du das?“ Erstaunen lag in Mathis‘ Blick und noch etwas anderes, das Justus nicht definieren konnte.

„Wie alt bist du?“

„Neunzehn.“

„Sehr gut, dann kriegen wir also keinen Ärger mit deinen Eltern, weil du minderjährig ist. Ich hoffe, du lügst mich nicht an.“

„Mein Vater ist...“ Mathis verstummte, dann schüttelte er den Kopf.

Hinter Justus‘ Stirn begann es wild zu pochen. Er rieb darüber, um den Schmerz zu vertreiben. Was war nur mit ihm los?

„Also gut, Es ist schon spät und heute Nacht können wir nichts mehr erreichen. Du kommst jetzt mit zu mir und morgen sehen wir weiter.“

„Du nimmst mich mit?“

„Ja.“

Ein kleines Lächeln huschte über Mathis‘ Gesicht und erneut berührte der Anblick Justus‘ Herz.

„Steig ein.“

Als sich Mathis nicht bewegte und ihn fragend ansah, ging Justus um das Auto herum, öffnete die Tür und machte eine einladende Bewegung. Er feixte dabei und auch Mathis fing an zu lachen. „Was ist das?“, erkundigte er sich nach einer Weile, ohne sich zu rühren.

„Das ist die Kutsche, die Euch in mein Haus bringen wird“, sagte Justus übermütig.

„Oh“, war alles, was er als Antwort bekam. Ehrfürchtig kletterte Mathis auf den Sitz und schien regelrecht zu erstarren. Justus schüttelte den Kopf und warf die Tür zu. Er ging zur Fahrerseite, stieg ein und startete den Motor, was Mathis mit einem erschrockenen Aufschrei quittierte. Justus sah den panischen Blick, fand aber keine Worte dafür. So etwas wie Amish-Siedlungen gab es doch nur in den USA. Er hatte jedenfalls noch nichts davon gehört, dass sich Leute, die jedem technischen Fortschritt abschworen, in der Gegend niedergelassen hatten. Anders konnte er sich die Reaktion jedoch nicht erklären. Irgendwas war auf jeden Fall seltsam mit dem Jungen und Justus würde es schon noch herausfinden.

„Anschnallen“, sagte er und deutete auf den Gurt. Mathis zog an dem Band, schien aber nicht zu wissen, was er damit machen sollte. Verwirrt beobachtete Justus ihn und befestigte den Gurt schließlich selbst.

Während er vom Parkplatz fuhr, fragte er sich, was aus seinen Vorsätzen geworden war. Er nahm niemals jemanden mit nach Hause. Alles sollte komplikationslos und ohne Verpflichtung sein. Aber dieser junge Mann, der sich ängstlich in den Sitz drückte und mit riesigen Augen die Straße beobachtete, war nichts von alledem. Er spürte, dass er aus dieser Sache nicht so leicht herauskommen würde und doch schien es, als wäre es der einzig richtige Weg.