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Table of Contents

Blanka Stolz - Bin im Garten - Anstelle eines Vorwortes

Sarah Thelen - Die Blätter, die die Welt bedeuten - Wie wir im Garten unsere Beziehung zur Welt ausdrücken

Miriam Paulsen - Unter Gartenfreunden

Brunhilde Bross-Burkhardt - Ein Plädoyer für's Unkraut

Roberta Schneider - Lob des Unscheinbaren

Annette Holländer - Alte Gemüsesorten anbauen, erhalten und vermehren

Elke von Radziewsky - Gärtnern am Puls der Natur

Dieter Wandschneider - Zur Metaphysik des Gartens

Judith Henning - Urbane Permakultur - Stadtgärtnern mit Hintergedanken

Dagmar Pelger - Gardening is Commoning

Severin Halder - Learning by Digging - Was man beim Gärtnern in Gemeinschaft lernen kann

Kristina Vagt - Motor Gartenschau - Die Inszenierung des urbanen Grüns

Nicole von Horst - Let it Grow

Maximilian Probst - Zum Grünen Daumen gehört die Faust

Philosophie-Bücher im mairisch Verlag

Impressum

BIN IM GARTEN

ANSTELLE EINES VORWORTS

Von BLANKA STOLZ

»Denn der Garten ist eine Ordnung der ganzen Seele und nicht der halben, der tätigen und nicht der schlaffen, und kennt keinen ästhetischen Frömmler, es sei denn als den Spazierer, dem er nichts verargt: der Garten will den Gärtner.«1

 

Ich stehe im Garten des Bergbauernhofs Munt la Reita im Tessin.2 Es ist zwar Mai, aber noch sehr kalt und winterlich. Der Garten ist mit Heu abgedeckt, die Zweige der Johannisbeerbüsche sind zusammengebunden, damit sie den Schnee überstehen, ohne zu brechen. Es gibt kaum Grünes, nur der Rhabarber hält sich wacker, ansonsten ist alles braun in braun. Ich denke: Niemals wird dieser Garten grün, bunt blühend und dicht bewachsen sein. Ich frage mich, woraus andere dieses Vertrauen in den Kreislauf der Natur ziehen. Was treibt einen philosophierenden Gärtner oder einen gärtnernden Philosophen­ an, jedes Jahr aufs Neue Spaten und Hacke in die Hand zu nehmen und mit der Gartenarbeit loszulegen?3

Auch die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes gehen von dieser Grundfrage des Gärtnerns aus. Sie betrachten dabei neben der philosophischen Dimension auch historische, soziologische, kulturelle und politische Aspekte des Gartens und des Gärtnerns.

Steht man in einem Nutzgarten, ist die erste, offensichtliche Antwort auf die Frage, warum all die Mühe und Arbeit: Selbstversorgung, die satt und glücklich macht. Die nächste Frage schließt sich direkt an: Was pflanzt man an und wie viel davon? Welches Saatgut und welche Sorten wählt man? Annette Holländer beschäftigt sich in ihrem Text Alte Gemüsesorten anbauen, erhalten und vermehren u. a. mit der Frage, welche Pflanzen wir kultivieren, welche Qualitäten sie mitbringen – Geschmack, Robustheit, Samenfestigkeit – und wie viel Freude es macht, Besonderheiten im eigenen Garten zu pflanzen und zu verzehren. Was gedeiht aber nun in einem Garten in den Bergen auf 1.400 Meter Höhe, und was braucht man vielleicht gar nicht erst anzupflanzen? Verena Senn, die gemeinsam mit ihrem Mann Markus seit dreißig Jahren den Garten auf Munt la Reita ökologisch bewirtschaftet, weiß, was sich lohnt und was nicht.

Mir dagegen fehlt noch das Vertrauen, dass Sonne, Wärme und Wasser die Pflanzen werden sprießen lassen. Gemeinsam stehen wir im Nebel und versuchen, den Garten, die zukünftigen Beete und Wege auf Papier zu zeichnen und einen Plan zu machen. Wir tun also das, was Gärtner schon immer getan haben, wir legen fest, was wir wohin pflanzen, und bestimmen die Grenze zwischen wilder Natur und angelegtem Garten durch Beete, die Wege dazwischen, Hecken und Büsche. Der menschliche Gestaltungswille ist es, der einen Garten ausmacht. Dieter Wandschneider geht in seinem Text Zur Metaphysik des Gartens auf den Spuren von Kant und Hegel noch einen Schritt weiter: Es sei die Spannung zwischen Natur und künstlerischer Gestaltung, die einen Garten von der Natur und kultivierten Naturformen wie Äckern, Wiesen und Wäldern unterscheidet, schreibt er. Ein Garten ist demnach also gestaltete Natur.

Dass ein Garten ein Zwischending zwischen menschengemachtem Artefakt und lebender Natursubstanz sei, dieser Ansicht ist auch Sarah Thelen in ihrem Beitrag Die Blätter, die die Welt bedeuten. Und doch mache der Garten letztendlich, was er will, so Thelen. Er verändert sich fortwährend, die Natur wächst aus sich heraus, ist unberechenbar, treibt Blüten – und der Gärtner muss seine Position dazu laufend neu bestimmen.

 

Ein weiterer Faktor, den der Gärtner nicht beeinflussen kann, ist das Wetter. Und es spielt nicht erst bei der Ernte eine Rolle, sondern bereits bei der Aussaat. Auf dem Hof bestimmen im Mai die Wettervorhersage und die Aussaattage, wie sie Maria Thun in ihrem Kalender festlegt, die Arbeiten im Garten.4 Es fühlt sich so an, als würde es immer dann stark regnen, wenn gerade Aussaattag für Kartoffeln, Sellerie und Radieschen ist – nämlich Wurzeltag. Ich verbringe Stunden im trockenen Gewächshaus auf den Knien und jäte. Eine Woche später, der Regen macht eine Pause und es ist Wurzeltag: die ersten hundert Saatkartoffeln sind in der Erde versenkt, die ersten Zwiebeln gesteckt und zwei Reihen Rüben gesät. Die Kartoffeln bedecken wir mit Kompost und einer dicken Mulchschicht aus Ziegenmist und Heu. Die Erde ist durch die Heuschicht vor Wind und Sonne geschützt und trocknet nicht so stark aus, Unkraut und Schnecken werden ein Stück weit zurückgehalten. Bei jeder Schicht, die wir über die Pflanzen decken, hoffe ich, das Richtige zu tun.

Das Richtige tun. Die alte Sehnsucht, ein gutes Leben zu leben, die sich seit Aristoteles durch die Philosophiegeschichte zieht, schwingt bei der Frage, was einen zur Gartenarbeit motiviert, immer mit. Wird man ein besserer, tugendhafterer Mensch, wenn man Land kultiviert, Pflanzen sät und pflegt, wenn man gärtnert? Im Garten auf Munt la Reita wird die gärtnerische Tugendhaftigkeit in diesem Mai auf eine harte Probe gestellt: Es fällt noch einmal Schnee. Die Sommerperiode – mit Temperaturen und einer Sonneneinstrahlung, die die Pflanzen in dieser Höhe wachsen lassen – ist kurz, kürzer als im Flachland, langes Zögern kann man sich nicht erlauben. Wir haben das Gefühl, dass uns die Zeit davonläuft, weil wir mit dem Anpflanzen nicht weitermachen können. Zum Glück bleibt es ein kurzes Intermezzo, der Schnee ist schnell wieder weg, wir bereiten die Reihen- und Hügelbeete vor und fangen an, die im Gewächshaus vorgezogenen Kohl-, Kohlrabi und Krautstielsetzlinge rauszupflanzen.

 

Ruhe und meditatives Handeln scheint die Arbeit im Garten zu vermitteln, eine Geisteshaltung, die Philosophen von Epikur bis Hume als Lebensziel beschreiben. Im Vergleich zur digitalen Welt, in der man sein Leben im Gehen online zusammenklickt, erfordert ein Garten körperliche Tätigkeit. Warum die Büromenschen einmal mehr ins Grüne flüchten und die Gärten in die Städte zurückkehren, liegt aber in mehr als in der mangelnden Bewegung begründet, die die heutigen Gärtner gar zu Sportlern macht.5

Blicken wir eine Generation zurück: Elke von Radziewsky berichtet in Gärtnern am Puls der Natur von Rob Leopold, der sich als erster unabhängiger Gartenphilosoph verstand und die Gartenbewegung der 1980er-Jahre in den Niederlanden mit einer praktischen Philosophie des Gärtnerns prägte. Ihm und seinen Mitstreitern, wahren Gartenindividualisten, ging es um die Natürlichkeit des Gartens. Sie begriffen den Garten als einen Ort, an dem der Mensch die Natur begreift und sie staunend und forschend begleitet.

Heute gibt es Obst und Gemüse in Bioqualität auf dem Markt oder in Supermärkten zu kaufen, der Eigenanbau ist unter Umständen nicht kostengünstiger. Das Gärtnern ist keine Notwendigkeit mehr. Und dennoch scheint das gemeinschaftliche Selbermachen, die Suche nach individuellen Formen und Flächen für die Arbeit mit der Natur – ob in der Stadt, im Umland oder auf dem Land – die Antriebskraft der nächsten Gärtnergeneration zu sein.6 Deren Gärten sehen nicht mehr aus wie aus dem Baumarktprospekt, die Rasenflächen und Koniferen weichen Obstbäumen, selbst gezimmerten Hochbeeten und Wildhecken. In diesen Generationengärten, interkulturellen Gärten, Nachbarschafts- und Gemeinschaftsgärten, aber auch in den im urbanen Raum bewirtschafteten Brachflächen scheint durch das Gärtnern neben den Pflanzen noch etwas anderes zu wachsen: verloren geglaubte Gemeinschaft, Sinnhaftigkeit und Achtsamkeit. Auch wenn der urbane Garten vielleicht an manchen Orten zum zeitgeistkonformen Projekt, zum Lifestyle-Objekt oder Geschäftsmodell wird oder schon geworden ist, so ist er in erster Linie doch auch ein Versuch der heutigen jungen Generation, das Verhältnis von Stadt und Natur oder von Gesellschaft und Natur neu zu denken und zu formen. Der Garten bleibt einmal mehr ein Sehnsuchtsort, ein Paradies.

Dass Gärten schon immer ein Spiegelbild des Verhältnisses der Gesellschaft zur Natur, des Gärtners zum Garten waren, zeigt Dagmar Pelger in Gardening is commoning. Ausgehend von der Almende, der Urform des Gemeinschaftsgartens, untersucht sie die Entwicklungsgeschichte des Gartens mit seinen sozialen, ökologischen und politischen Funktionen: Von den bäuerlichen Nutzgärten über fürstlich geprägte Landschaftsgärten und das Fremde zur Schau stellende botanische Gärten bis eben hin zu urbanen Gemeinschaftsgärten, in denen städtische Brachen wiederbelebt werden.

 

Anfang Juni freue ich mich über jedes grüne Pflänzchen im Garten. Langsam wird sichtbar, was mal Mohn, Malven, Calendula und Hornveilchen werden. Ich hoffe, dass das, was ich beim Jäten stehen lasse, später mal Echte Kamille sein wird. Nach ein paar Wochen stellt sich heraus, dass sich die Echte Kamille von ganz alleine am Rande des Kartoffelackers breitgemacht hat, ich aber Geruchlose Kamille großgezogen habe. Brunhilde Bross-Burkhardt denkt in ihrem Plädoyer fürs Unkraut über das Verhältnis des Gärtners zu den Pflanzen nach, die er nicht willentlich pflanzt. Unkraut – oder Wild- und Beikräuter, wie sie auch gerne genannt werden – kann der Gärtner entweder tolerieren, sie mit auf den Speiseplan nehmen oder er kann sie konventionell bekämpfen. Bross-Burkhardt plädiert in dieser Hinsicht für Toleranz im Garten. Es gibt keinen­ Garten ohne jene Pflanzen, die einfach so von selbst immer wiederkommen. Und kann es nicht vielleicht auch sein, dass wir auch im Leben jenseits des Gartens zu offeneren und verständnisvolleren Menschen werden, wenn wir im Kleinen das Fremde akzeptieren? Auf die kleinen, oft übersehenen oder zu Unrecht vergessenen Pflanzen blickt Roberta Schneider in Ihrem Text Lob des Unscheinbaren. Warum sollte man beispielsweise Moos, so schön sanft und dunkelgrün, wie es ist, entfernen? Ist das zu viel Unordnung für die gärtnerische Seele? Dass Moos in anderen Kulturen, z. B. in japanischen Gärten, als ästhetisches Mittel eingesetzt wird, zeigt sie eindrücklich. Im Garten auf Munt la Reita wählen wir, was das Unkraut angeht, einen Mittelweg: Wir versuchen, den Pflanzen, die wir gesetzt haben, Luft zum Wachsen zu verschaffen, indem wir das Unkraut entfernen und größtenteils als Gründünger auf die Mulchschicht legen. Wir halten die Wege halbwegs frei und freuen uns über sich selbst verbreitende Akelei, Frauenmantel, Margeriten und Johanniskraut.7

Für das viele Jäten und die Vorbereitung der Beete sind in einem Garten dieser Größe helfende Hände gerne gesehen. Es sind viele, die im Garten mitarbeiten, die teilweise schon seit Jahren immer wieder auf den Hof kommen und den Garten gut kennen.8 Jeder bringt sein eigenes Gartenwissen mit und pflanzt es ein. Miriam Paulsen berichtet in ihrem Text Unter Gartenfreunden, was sie alles von ihren Nachbarn in ihrem Schrebergarten gelernt hat und wie sich ihre Welt dadurch vergrößert.

Severin Halder lässt in seinem Text Learning by digging – Was man beim Gärtnern in Gemeinschaft lernen kann urbane Gärtner zu Wort kommen, die davon berichten, was die gemeinsame­ Tätigkeit im Garten auf vielen verschiedenen Ebenen vermitteln­ kann, wie man mit Gartenarbeit Wissen aufbaut und was man von Pflanzen lernen kann. Zum Jäten und Wurzelentfernen gehört schließlich auch das Wissen darum, was man entfernt und was man stehen lässt.

Auf Munt la Reita erklärt Verena gerade einer Gruppe junger Männer, wie gründlich man den Bärenklau, der im Garten wuchert, entfernen muss. Die Frauen schippen derweil Kompost. Nicole von Horst geht in ihrem Beitrag Let it grow der Frage nach, ob Gärtnern etwas typisch Weibliches oder Männliches ist. Gärtnern die Geschlechter unterschiedlich? Wirkt sich das soziale Geschlecht auf das Gärtnern aus? Alle werden von der Gartenarbeit schmutzig, die Nagelränder werden tiefschwarz und man schwitzt. Es ist nicht nur körperliche Ausdauer, die man im Garten braucht, sondern auch mentale. Nicht jeder hält es lange aus, alleine mit sich und seinen Gedanken in gebückter Haltung in der Erde zu wühlen. Bei den meisten stellt sich schnell Langeweile ein. Wir fangen an, das Unkraut als Gegner mit verschiedenen Schwierigkeitsleveln zu sortieren, und erfinden als Challenge für das Endlevel: die Unkrautpflanze im Ganzen bis zur kleinsten Wurzel rausziehen. »Und wie macht man das?« – »Mit viel Gefühl oder roher Gewalt«, ist meine Antwort.

Der Garten auf Munt la Reita ist nach Prinzipien der Permakultur angelegt. Judith Henning beschreibt in ihrem Text Urbane Permakultur – Stadtgärtnern mit Hintergedanken, was Permakultur ausmacht und wie man sie in der Stadt – auch in kleinem Rahmen – umsetzen kann. Die ethischen Grundgedanken zur naturnahen Bewirtschaftung von Flächen, die Henning in ihrem Aufsatz skizziert, treffen auf städtische Permakulturprojekte genauso zu wie auf solche auf dem Land: achtsamer Umgang mit Ressourcen, Menschen und Tieren, langfristige Regenerationszyklen, Selbstbegrenzung und Rückverteilung, nicht Monokultur, sondern Vielfalt, die eine essbare Landschaft hervorbringt. Die Unterschiede zwischen Permakultur in der Stadt und auf dem Land lassen sich dabei an praktischen Gegebenheiten ablesen: zum Beispiel an der Frage, ob fruchtbarer, nicht kontaminierter Boden da ist, was auf dem Land meist von Natur aus der Fall ist, aber auch an freien Flächen zum Anbauen und großen Kompostvorräten. Das sind die Voraussetzungen, die Stadtgärtner, wie Henning schreibt, oft erst einmal schaffen müssen. Was es dem Permakulturgarten dagegen in der Höhe der Berge schwer macht, sind die fehlende Wachstumszeit, die niedrigen Durchschnittstemperaturen und die kurze Erntesaison. Trotzdem wächst auf 1.400 Metern mehr, als man erwarten würde.9

Gepflanzt wird hier nach den Prinzipien eines Mischkulturgartens. Krautstiel steht im Wechsel mit Lauch und Rotkohl, der Fenchel neben den Randen.10 Wir versuchen, die vorhandene Fläche gut zu nutzen, durch das Anpflanzen im Wechsel haben es Unkräuter, Krankheiten und Schädlinge schwerer, sich zu verbreiten. Entscheidend ist dabei allerdings, dass die gemischten Pflanzen zueinander passen. So richtig genau nehmen wir es aber auch nicht, und trotz aller Bemühungen gerät uns der Kopfsalat hier und dort neben den Sellerie. Laut unseren Tabellen vertragen die sich eigentlich nicht. Und in der Tat wird sich zur Erntezeit herausstellen, dass der Kopfsalat neben dem Sellerie wenig Chancen hatte.

Wir dagegen kämpfen unseren ganz eigenen Kampf, und zwar mit den Hühnern. Der Garten und das Gewächshaus sind ihr Winterquartier. Sie scharren und picken die Schnecken aus dem Boden und bescheren uns im Frühjahr im Gewächshaus fast schneckenfreie Kopfsalate. Doch wenn es darum geht, sie auf ihre Sommerwiesen umzuziehen und sie dann noch dazu zu bewegen, auch dort zu bleiben, bringen sie uns an unsere Grenzen. Hohe Zäune und der Versuch, die Abflugpisten der Hühner vom Dach des Hühnerhauses zu sabotieren, sind das Ergebnis. Am Ende fangen wir die Hühner auf Freigang jeden Tag ein und decken die von ihnen aufgescharrte, offene Erde wieder ab. Die frischen Salatpflänzchen werden ein Opfer der Hühner, nicht der Schnecken.

Der Sommer kommt Ende Juni, die Heuernte beginnt. Der Garten wird zusehends grüner und die Pflanzen wachsen. Die ersten Beete müssen nachgejätet werden. Eines Morgens kann ich durch einen Johannisbeerbusch durchschauen. Das konnte ich tags zuvor noch nicht. Die Raupen des Kohlweißlings fressen gnadenlos alle Blätter der Roten Johannisbeere auf. Sie stoppen erst an den Schwarzen Johannisbeeren, die mögen sie nicht. So unaufhaltsam, wie sich die Raupen durch die Büsche fressen, so stoisch sammeln wir jeden Tag die Raupen von den Blättern ab und besprühen die verbleibenden Pflanzen mit einem stark duftenden Aufguss aus Wermut und Anis. Ich lerne, dass Stoizismus eine der größten gärtnerischen Tugenden ist: nicht aufgeben, weiter sammeln.

Es wird wärmer und trockener. Wir gießen mehr und mehr. Meist per Hand am frühen Morgen mit Wasser, das in alten Badewannen gesammelt wird. Mitunter sind vier Personen eine Stunde lang mit Gießen beschäftigt. Ich wiederhole tagtäglich die Leitsätze, die ich Gelegenheits- und Nachwuchsgießern mitgebe: »Immer die Erde wässern, nicht die Pflanze. Die Goldmelisse­ mag den festen Strahl am Boden. Die Kartoffeln brauchen nichts.« Die Ecken im Garten, die mit Sprenger und Rieselschläuchen automatisiert bewässert werden, gedeihen besser, die Pflanzen wachsen schneller und sind größer. Obwohl das nicht die Kategorien sind, in denen dieser Garten angelegt ist, werden im Sommer große Teile des Gartens auf automatisierte Bewässerung in den frühen Morgenstunden umgestellt. Einmal mehr kommt der Faktor Zeit zum Tragen. Wenn vier Personen nicht gießen müssen, können sie etwas anderes tun. Wie viele Menschen benötigt man, um solch einen großen Garten zu bewirtschaften? Kann ein Garten effizient gepflegt werden, ohne ein professioneller Gemüseanbaubetrieb zu sein? Was bedeutet Effizienz in einem ökologischen Garten?

Der Garten wächst und gedeiht unter der Sommersonne. Am 4. Juli öffnet sich die erste Calendulablüte, wir ernten Pflücksalat Misticanza und wunderschön rot gesprenkelten Forellensalat. Zwei Schalen Erdbeeren sind uns im Juli gegönnt. Mehr nicht, es ist kein Erdbeerjahr. Mohn in der Steinmauer, Margeriten, Malven und Sonnenblumen machen den Garten bunt. Ich stehe mittendrin und diskutiere die Frage, wie viel Garten man braucht, um sich selbst, eine Familie, ein ganzes Team zu versorgen und auch noch etwas im Hofladen zu verkaufen? Wann reicht es nicht, was ist genug und wann ist es zu viel?

Besucher, die in unseren Hofladen kommen, fragen mich mit Blick auf den Garten: »Wie düngt ihr, was macht ihr gegen die Schnecken? Sitzen die bei euch nicht unter der Mulchschicht?« Ich erzähle von den Hühnern und davon, dass die Erde im Tessin, auf der Südseite der Alpen, anders ist als auf der Nordseite und dass wir sehr dick mit Heu mulchen. Im Frühsommer haben wir die Kohlpflanzen mit Kompost gedüngt, aber dieses Jahr die Pflanzen noch nicht mal mit Brennnesseljauche gegossen.

Mitte August, es ist heiß. Man kommt im Garten auf den Wegen kaum noch durch, weil sich die Pflanzen ausbreiten. Jetzt ist der Garten so, wie ich ihn mir im Mai nicht habe vorstellen können. Wir sammeln Calendula-, Kornblumen-, Hornveilchen-, Goldmelisse- und Malvenblüten für Tee und Kräuter für die Küche und trocknen diese im Trockenhaus, der Schatzkammer des Gartens. Die Zeit der Johannisbeere beginnt, trotz des Kahlfraßes im Juni. Fast jeden Tag verarbeitet eine gute Seele einen großen Topf Johannisbeeren zu Konfitüre, Gelee und Sirup. Schnittlauchknospen legen wir in Essig ein, Krautstiel, Kohlrabi, Bohnen und Zucchini frieren wir zum Teil ein – auch wenn es direkt aus dem Garten in die Pfanne immer am besten schmeckt. Die Rüben und der Fenchel sind schneller aufgegessen als gedacht, die Zwiebeln lagern wir trocken im Heizungsraum. Die Kohlköpfe und der Wirsing sind so groß und schön wie der Mond. Wir hängen sie an Schnüren im Keller auf und hoffen, dass sie sich gut halten. Der Freude, in diesen reichen Garten zu gehen und sich zu nehmen, was man braucht, steht das Gefühl gegenüber, dass der Garten uns zu diesem Zeitpunkt auffrisst und nicht wir ihn. Der Garten fordert einen täglich heraus. Schaut man heute nicht hin, weiß man, dass man morgen das Doppelte zu tun haben wird. Das sind sie wieder, die Freuden und Mühen des Gärtnerns.

 

Niemals hätte ich gedacht, dass die Kartoffeln, die ich im Mai gepflanzt habe, etwas werden würden. Im September holen wir die Ernte aus der Erde: kistenweise große und kleine Knollen. Für den Winter wird es reichen. Spitz- und Federkohl, Lauch und Rotkohl lassen wir noch stehen. Nachts hören wir die Hirsche im Wald röhren, es ist Brunftzeit. Hirsche ­mögen Kohl. Neben einer abwehrenden Wildhecke sollen in der Nacht blinkende Lichter am Zaun die Hirsche verschrecken, damit sie nicht den Garten auffressen. Schnecken und Hühner erscheinen harmlos dagegen.

Und wo wir schon von Zäunen sprechen. Maximilian Probst macht mit uns in seinem Text Zum grünen Daumen gehört die Faust eine kleine Reise durch die Kulturgeschichte und fragt sich, ob die Umzäunung des Gartens nicht eigentlich den Beginn des Privateigentums markiert. Was eine ganze Reihe von Problemen wie Neid und Missgunst mit sich bringt und damit im übertragenen Sinne bis heute Grundlage für das Konzept von Eigentum und Besitz ist. Gärten können jedenfalls Segen und Plage und heillos ambivalent zugleich sein. Eine Erkenntnis, die ich teile.

Es ist noch einmal warm genug, um im Garten zu sitzen. Mittendrin, auf frisch gejäteten und gemulchten Wegen. Der Garten ist hier kein Ort zum Verweilen mit Bänken oder einer Laube, wie man es aus Landschafts- oder Schrebergärten kennt. Das sind Gärten oder Gartenanlagen, in die uns Kristina Vagt in ihrem Text Motor Gartenschau. Die Inszenierung des urbanen Grüns mitnimmt. In Gartenbauaustellungen, Gartenschauen und Landschaftsgärten stehen in Städten und Metropolregionen Erholung, Wissensvermittlung sowie Sport-, Spiel- und Freizeitaktivitäten im Grünen im Vordergrund. Es sind die Besucher, die sich am Grün erfreuen und durch ihre Aktivitäten die öffentlichen Parks und Gärten mit Leben füllen. Der Garten, in dem ich stehe, ist dagegen ein Ort, der ­Arbeit schafft: pflanzen, jäten, gießen, der eben aber auch mit der Lebendigkeit, den Farben und dem Duft des Sommers und einer reichen Ernte für diese Arbeit belohnt.

 

In seiner Beziehung zum Garten, um noch einmal auf Sarah Thelen zurückzukommen, drückt der Gärtner auch sein Verhältnis zur Welt aus. Thelen zeichnet das Bild des Gärtners als umsichtigen Verwalter, der im besten Fall mit der Welt im Ganzen so wohlwollend und vorausplanend umgeht wie mit seinem Garten. Das wäre also eine Philosophie des Gärtnerns, in der der Gärtner seine kleinen Erkenntnisse aus dem Garten auch auf andere Lebensbereiche überträgt und in die Welt mitnimmt. So wird – frei nach dem französischen Landschaftsarchitekt Gilles Clément – jeder verantwortlich lebende Mensch zum Gärtner und alle Menschen werden so »Bewohner eines einzigen Gartens. Ob man in der Stadt oder auf dem Land lebt, es handelt sich immer um ein und denselben Garten: den Erdball.«11 Dieser wohlwollende Gärtner, der im Kleinen auch das Große richtig macht, mag ein nicht erreichbares Idealbild sein. Gerade deshalb haben jeder Garten und jeder Gärtner seine Berechtigung. Die Texte des vorliegenden Bandes zeigen aus verschiedenen Blickwinkeln eine Vielzahl von Gärten und Gedanken zum Gärtnern. Im Sinne einer praktischen Philosophie des Gärtnerns geht man aber am besten einfach los, nämlich in den Garten, und tut etwas.

Im ersten Schnee im Oktober schneiden wir die Johannisbeersträucher und binden sie zusammen. Der Winter kann kommen. Die Hühner ziehen von ihrer Sommerwiese in den Garten. Sie picken und scharren und bescheren uns hoffentlich­ für das nächste Jahr wieder möglichst schneckenfreie Kopfsalate. Die Tomaten sind nicht rot geworden. Die Zeit und die Sonne haben nicht gereicht. Immerhin: Aus grünen Tomaten lässt sich ein gutes Chutney machen.

 

 

BLANKA STOLZ

Blanka Stolz ist Mitgründerin des mairisch Verlags und hat während zweier Sommer auf dem Schweizer Bergbauernhof Munt la Reita viel Zeit im Garten verbracht. Sie dankt allen Autorinnen und Autoren für ihr Engagement und ihre Texte, Peter Reichenbach für die Initiative, das Buch zu machen, und den Antrieb hinter dem Projekt, Daniel Beskos und Hannah Zirkler für das sorgfältige Lesen der Texte und Elke von Radziewsky für die anregenden Telefongespräche.

 

 


1 Rudolf Borchardt, »Der leidenschaftliche Gärtner«, Christian Welzbacher, Judith Schalansky (Hg.), Matthes & Seitz, Berlin 2016.

2 Der Biobergbauernhof von Familie Senn – Munt la Reita – liegt im Valle di Campo, ein Nebental des Maggiatals im Tessin in der Schweiz, etwa eine Autostunde von Locarno entfernt: www.muntlareita.ch

3 Jede Autorin und jeder Autor hat in ihrem bzw. seinem Text entschieden, wie sie bzw. er mit der sprachlichen Gleichstellung von Gärtnerinnen und Gärtnern umgeht. Ist hier die Rede vom Gärtner, so ist die Gärtnerin gleichwertig mitgemeint.

4 Maria Thun, »Aussaatkalender«, Thun-Verlag, Biedenkopf. Erscheint jährlich seit 1963. Thun beobachtete bei mehrjährigen Versuchen in den 1950er-Jahren einen Zusammenhang zwischen dem Stand des Mondes im Tierkreis und dem Wachstum von Pflanzen abhängig vom Aussaatzeitpunkt. Hieraus leitet sie verschiedene Wachstumstypen bei Pflanzen ab. So gibt es gemäß dem Aussaatkalender Tage, die die Aussaat von Wurzel- (Kartoffel, Sellerie, Radieschen, Rüben usw.), Blatt- (Kohlrabi, Lauch, Petersilie, Salat, Spinat usw.), Blüten- (Blumen, Blumenzwiebeln, Brokkoli usw.) und Fruchtpflanzen (Beeren, Nüsse, Früchte, Bohnen, Paprika, Tomaten, Gurken usw.) begünstigen.

5 Nicht nur einschlägige Sport- und Fitnesszeitschriften proklamieren Gartensport als Fitnessprogramm: Stretching, Kraft- und Ausdauertraining im Garten. Auch die Vielzahl an Publikationen zum Thema Garten-Yoga sprechen eine ähnliche Sprache.

6 Hierzu ausführlich: Cordula Kropp, »Gärtner(n) ohne Grenzen: Eine neue Politik des »Sowohl-als-auch« urbaner Gärten? In: Christa Müller (Hg.), »Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt«, Oekom, München 2011, S. 76–87.

7 »Unkraut vergeht nicht«, haben wir auch gedacht, als wir dem mairisch Verlag 1999 seinen Namen gegeben haben. In der hessischen Heimat des mairisch Verlags und seiner Gründer wird die Vogelmiere Mairisch genannt. Der Legende nach hat eine Großmutter eines Mitgründers gefragt, ob wir statt irgendwas mit Büchern nicht etwas Sinnvolles tun könnten. Nämlich Mairisch rausrupfen. Die Vogelmiere ist eine bodenbedeckende Pflanze, die in fast jedem Garten vorkommt. Ich habe es auf Munt la Reita haufenweise entfernt und gerne den Salat zum Mittagessen damit garniert.

8 Wenn ich von einem »Wir« in dem Text spreche, meine ich die vielen Menschen, die in dem Garten arbeiten und mithelfen. Das sind neben der Familie unter anderem Philippe, Susanna, Valentina, Mira, Jonas, Kaya, Monika, Coni, Annina, Teuni und noch viele mehr.

9 Ein weiteres, gut dokumentiertes Permakultur-Projekt, das seit vielen Jahren in der Höhe umgesetzt wird, ist der Krameterhof von Sepp Holzer im Salzburger Land: www.krameterhof.at

10 Wir verwenden u. a. die folgende Mischkultur-Tabelle: Kurt Forster, »Mein Selbstversorger-Garten am Stadtrand: Permakultur auf kleiner Fläche«, ökobuch, Staufen i. Br. 2013. Auch empfehlenswert: Jutta Langheineken, Christa Weinrich, »Schwester Christas Mischkultur: Im Einklang mit der Natur gärtnern«, Eugen Ulmer, Fulda 2016.

11 Gabriele Detterer, »Die Erde als Garten«, NZZ, Zürich 2011, www.nzz.ch/die-erde-als-garten-1.10402904

DIE BLÄTTER, DIE DIE WELT BEDEUTEN

WIE WIR IM GARTEN UNSERE BEZIEHUNG ZUR WELT AUSDRÜCKEN

Von SARAH THELEN

Der Garten ist etwas Menschengemachtes, darüber besteht kein Zweifel. Doch er hat etwas an sich, das andere Produkte der Kultur nicht haben: Er ist ein Zwischending zwischen menschengemachtem Artefakt und lebender Natursubstanz. Diese lebende Substanz folgt aus sich selbst heraus natürlichen und oft unberechenbaren Entwicklungen – man könnte sagen, sie macht, was sie will. Pflanzen schießen in die Höhe, vermehren sich, wachsen womöglich in unvorhergesehene Formen. Oft gedeihen sie auch nicht an den Orten, für die der Gärtner sie vorgesehen hat, und stattdessen siedeln sich Pflanzen an, die nicht geplant waren. Die jahreszeitlichen Veränderungen und die kommenden und gehenden tierischen Besucher müssen gar nicht erst erwähnt werden. So verändert ein Garten sich fortwährend weg von dem Artefakt, das er zu Beginn einmal war, und der Gärtner muss auf irgendeine Weise zu dieser Veränderung Position beziehen – so oder so. So kommt es, dass Gärten eine Sonderstellung unter den menschengemachten Dingen haben: An ihnen lässt sich ablesen, welches Verhältnis der Mensch zu seiner Umwelt hat. Dabei geht es nicht nur um seinen direkten Umgang mit den natürlichen Dingen, aus denen der Garten gemacht ist, um seinen Umgang mit den Einflüssen von Wetter und Klima und um das Wechselspiel mit denen, die den Garten sehen oder nutzen. Nein, es geht um sein Verhältnis zur Umwelt in einem viel weiteren Sinne: um sein Verhältnis zur gesamten restlichen Welt.

Schauen wir uns erst einmal das Verhältnis des Gärtners zu seiner direkten Umgebung an. Gehen wir von dem Fall aus, dass ein Garten in einer bestimmten Art geplant worden ist und nun genauso erhalten bleiben soll. Das gilt z. B. für formal-moderne Designergärten, aber auch für den Cottage Garden bzw. das klassische englische Staudenbeet, in dem bestimmte Blütenkompositionen und Pflanzenarrangements vorgesehen sind.1 Gehen wir außerdem davon aus, dass für dieses Design einige Pflanzen gewählt wurden, die mit dem Boden, den klimatischen Umständen oder ihren Nachbarpflanzen nicht optimal zurechtkommen (was ebenfalls vorkommt – oft werden die Pflanzen in Designergärten hauptsächlich nach ästhetischen Gesichtspunkten gewählt, auch wenn ihre Bedürfnisse nicht zum Standort passen). Soll ein Garten, auf den diese beiden­ Fälle zutreffen, genauso bleiben, wie er ist, müsste er akribisch gepflegt werden, oder das Design wäre im Eimer. Streng genommen ist eine Veränderung sogar gar nicht aufzuhalten, denn selbst wenn ein Gärtner den natürlichen Entwicklungen ständig gegensteuert, z. B. durch Beschneiden der Gehölze, Reduzieren von zu starkwüchsigen und Nachpflanzen von eingegangenen Gewächsen, verändert sich der Garten doch. In diesem Beispiel hätten wir einen Gärtner, dessen Verhältnis zur direkten Umgebung sich dadurch auszeichnet, dass er versucht, seinen Willen in einer ständigen energieraubenden Arbeit gegen die natürlichen Gegebenheiten von Klima, Boden und Pflanzen zu erzwingen. Der Wille zum Bezwingen der Umwelt äußert sich in der Gartenarbeit genauso wie eine Feinfühligkeit für und ein vorteilbringendes Eingehen auf die Umgebung. Hier wird schon spürbar, dass der Garten auch in einem allgemeineren Sinne ein »Spiegel der Beziehung zwischen Mensch und Umgebung« ist, wie es der Landschaftsarchitekt George B. Tobey ausdrückt.2 Auf welche Weise der Mensch seinen formenden Einfluss ausübt und dabei abwägt, wie und in welchem Maße er die Geschehnisse in seiner Umgebung steuert, unterstützt, bremst, ungehindert lässt oder versucht, mit ihnen Synergie-Effekte zu erzielen, zeigt sich im Umgang mit dem Garten quasi stellvertretend für andere Lebensbereiche.

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