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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Es war nichts anderes als die Hölle, die in dieser Nacht ihre Pforten geöffnet hatte. Die Bürger von Concarneau glaubten fest daran, und selbst die tiefsten Kellerräume ihrer Behausungen erschienen ihnen nicht mehr sicher. Ein wahres Teufelskonzert war es, das sich da über dem Hafenstädtchen an der Küste der Bretagne entlud. Die wenigen, die noch einen Blick nach draußen riskierten, in die Schwärze der Nacht, sahen den tobenden Atlantik als einen Höllenschlund, der sich schon gierig geöffnet hatte, um ihr geliebtes Concarneau zu verschlingen.

Sturmböen heulten durch die Gassen, rüttelten mit immer wieder neu aufwallender Wut an den Türen und Fensterläden und wollten ohne Zweifel alle Riegel sprengen, die den Menschen noch Schutz vor den entfesselten Gewalten boten.

Manche hörten die Glocken schon nicht mehr. Seit der Sturm begonnen hatte, vereinte sich ihr heller Klang mit dem Geheul der Böen und wurde bisweilen aufgeregt und angstvoll schrill, dann jedoch wieder dünn und kläglich. Ja, es konnte in der Tat der Eindruck entstehen, daß dort oben im Glokkenturm der Gehörnte persönlich kichernd in den Seilen hüpfte.

Bei all dem tosenden Lärm, der das Städtchen in seinen Grundmauern erbeben ließ, hatten die Schüsse etwas Unbedeutendes. Peitschend dünn klangen sie über die Mauern der Festung hinweg, und ihr Nachhall wurde vom Sturm zerrissen. So waren es nur jene Menschen in unmittelbarer Nähe der Festung, die von dem blutigen Gefecht ahnten, das die brüllenden Naturgewalten zur Begleitmusik herabstufte.

Kleine Wolken von Pulverdampf stiegen vereinzelt von den Zinnen auf, schweflig gelb vom Schein der Fackeln, die dort drinnen noch brannten, doch sehr schnell zerfetzt vom Sturm, der alles Bewegliche mit sich nahm. Undeutlich waren vor dem matten Lichtschein auch die Silhouetten von Männern zu erkennen. Sie bewegten sich geduckt und hastig, und hin wieder blinkten die metallenen Knöpfe ihrer Uniformen, die Schulterstücke und der Stahl der Waffen.

Ein Hornsignal schmetterte durch die Sturmnacht, stark und entschlossen, verglichen mit dem Winseln der Glocken von Concarneau. Ein Marschtrupp stemmte sich gegen den Wind dem Haupttor der Festung entgegen. Die Männer trugen dunkelblaue Uniformen, waren eins mit der Nacht, und die Nägel ihrer Stiefelsohlen verursachten einen harten Rhythmus auf dem Kopfsteinpflaster.

Im Wachturm oberhalb des Haupttors wurde es lebendig. Schultern und Köpfe von Männern zeigten sich im hellen Quadrat des Außenfensters. Scharfe Befehle wurden gebrüllt, und von einer Minute zur anderen verstärkte sich das Musketen- und Pistolenfeuer im Inneren der Festung.

Dann, als das Festungstor eilends geöffnet wurde, hatten die Männer unter dem Stadtkommandanten René Douglas und dem Hafenkapitän Jean-Luc Martier bereits zum Sturmangriff angesetzt. Der Sergeant, der die vierzig Soldaten aus Brest befehligte, war ihnen eine wertvolle Hilfe. Insbesondere René Douglas wußte das taktische Einfühlungsvermögen dieses schneidigen Unteroffiziers zu schätzen, ohne den sie gegen das verwegene Piratenpack kaum eine Chance gehabt hätten.

In gestaffelter Formation stürmten die Soldaten über den weiträumigen Innenhof. Wohlüberlegt feuerten die einzelnen Linien ihre Musketen ab, während die anderen weiter vordrangen.

Den Neuankömmlingen, die soeben das Burgtor durchquerten, verschaffte der Angriff immerhin soviel Zeit, den Wachturm zu betreten und die eng gewundenen Treppenstufen hinaufzuhasten, über die man die Zinnen und die Söller der Festung erreichte.

Heftiges Feuer schlug unterdessen den Soldaten entgegen. Vor dem Haupthaus hatten die Piraten eilends Barrikaden errichtet. Zwei umgestürzte Frachtwagen boten ihnen beste Deckung, desgleichen auch der gemauerte Brunnen in der Mitte des Hofes.

Zwei dieser hartgesottenen Kerle tauchten plötzlich hinter dem Brunnen auf – mit Todesverachtung, denn die Angriffswelle der Soldaten war noch längst nicht gebrochen. Die beiden Piraten mußten mehrere geladene Musketen und Pistolen bereitliegen haben, denn sie feuerten, was das Zeug hielt. Und ihre Kumpane hinter den Barrikaden unterstützten sie nach Kräften.

Der Angriff der Soldaten geriet ins Stocken. Die Schüsse hatten sich zu einem mörderischen Hämmern verdichtet. In den vordersten Linien der Uniformierten gellten markerschütternde Schreie. Während die ersten von ihnen zusammensanken, war es nur noch eine Frage der Zeit, wann auch die übrigen niedergemäht werden würden.

Bei den Piraten ertönte Gebrüll.

Die schneidende Befehlsstimme des Sergeanten ging darin fast unter. Seine Männer, unter ihnen auch René Douglas und Jean-Luc Martier, hatten sich hingeworfen. Diejenigen, die noch über schußbereite Waffen verfügten, leiteten das Rückzugsgefecht ein.

Einer der Kerle hinter den Barrikaden übertönte das Gebrüll.

„Schießt sie zusammen, diese elenden Bilgenratten! Laßt keinen von ihnen entwischen!“

Abermals verdichtete sich das Feuer der Piraten. Sie hatten ihre Rollen sorgfältig verteilt. Jene, die schossen, und jene, die nachluden, waren bestens aufeinander eingespielt. Das mußten die Soldaten zähneknirschend zugeben. Nein, diese Burschen waren ganz und gar nicht mit den erbärmlichen Galgenstrikken zu vergleichen, mit denen sie es zu Anfang in der Burganlage zu tun gehabt hatten.

Einer der Piraten, wahrscheinlich ihr Anführer, mußte die Bewegung erkannt haben, die auf den Burgmauern entstanden war.

„Volle Deckung!“

Ein Donnern folgte seinem Befehl, als hätte er selbst es ausgelöst. Grellrot stach das Mündungsfeuer von den Zinnen herunter, und der Schuß des Minions klang durch den Nachhall im Innenhof wie eine 17-Pfünder-Kanone.

Gut gezielt hatten sie, die Männer von der Stadtgarde, die zur Verstärkung angerückt waren. Das Pfeifen der Kugel währte nur einen winzigen Sekundenbruchteil. Im Krachen des Einschlags löste sich die gemauerte Brunnenwand in Brocken auf. Die Körper der beiden Piraten, die dort gelauert hatten, wurden wie leblose Gliederpuppen hochgeschleudert. Die Splitter und Gesteinsbrocken suchten ihr Ziel indessen nicht nach Gut und Böse aus. Bei den Soldaten, die – flach auf dem Boden – kaum Deckung hatten, wurden Schmerzensschreie laut.

„Feuer einstellen!“ brüllte der Stadtkommandant René Douglas. „Verdammt noch mal, stellt das Feuer ein!“

Höhnisches Gelächter erklang hinter den umgestürzten Wagen. Dieses Gelächter verfolgte die Soldaten noch, als sie sich schon mit ihren Verwundeten in die Sicherheit des Wachturms zurückgezogen hatten. Fast hatte es den Anschein, als verdankten sie diesen Rückzug der Schadenfreude der Piraten, die sich buchstäblich ausschütten wollten und deshalb nicht sofort einen neuen Kugelhagel auf die Reise schickten.

Keuchend erreichten René Douglas, Jean-Luc Martier und der Sergeant den Wachraum oben im Turm. Dort hatte sich bereits der Kommandant der Stadtgarde eingefunden, ein mittelgroßer Mann mit breiten Schultern und einem schwarzen Vollbart. Seine dunkelblaue Uniform und sein von Pulverdampf geschwärztes Gesicht gaben seinem Aussehen etwas Düsteres.

Zornig baute sich René Douglas vor dem Mann von der Stadtgarde auf.

„Sind Sie wahnsinnig geworden, Mercier? Wie konnten Sie diesen Feuerbefehl geben!“ Douglas stemmte die Fäuste in die Hüften. Er war ein großer, schwerer Mann, rotgesichtig und mit einem weißen Oberlippenbärtchen. Mit energischem Ruck zog er den Helm auf seinem Kopf zurecht.

Mercier knurrte unwillig.

„Unterstellen Sie mir nicht irgendwelche Nachlässigkeiten, Douglas! Glauben Sie, ich hätte leichtfertig gehandelt? Mir lag nur daran, Sie zu unterstützen.“

„Sehr gut! Dafür haben wir jetzt drei zusätzliche Verwundete.“ René Douglas wippte auf den Zehenspitzen.

„Meinen Sie, das wäre Absicht von mir gewesen?“ schrie Mercier.

„Messieurs, hören Sie auf damit“, mischte sich Jean-Luc-Martier versöhnlich ein. „Auf diese Art und Weise erreichen wir überhaupt nichts. Es hat keinen Sinn, daß wir uns jetzt über Wenn und Aber ereifern.“ Martier blickte in die Runde. Er war hager und bartlos, sein Gesicht hatte harte Furchen.

„Richtig“, sagte der Sergeant und nickte. „Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Wir müssen auf die Minions verzichten, jedenfalls bei der augenblicklichen unübersichtlichen Lage. Die Stadtgardisten werden uns trotzdem eine wertvolle Hilfe sein, auch ohne die Geschütze.“

„Als Kanonenfutter vielleicht?“ knurrte Mercier eingeschnappt. Er deutète mit einer Kopfbewegung zum Innenhoffenster. Von dort waren jetzt wieder vereinzelte Schüsse zu hören. Die Soldaten bargen ihre toten Kameraden. „Vielleicht darf ich auch einmal meine Meinung äußern. Wenn ich mich nicht sehr täusche, haben wir es da draußen mit einem kleinen Haufen hergelaufener Halunken zu tun. Und wenn ich mich recht entsinne, hatten Sie vierzig Soldaten zur Verfügung, Messieurs. Ich bringe Ihnen weitere zwanzig Mann. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir erklären würden, wieso trotz dieses Kräfteverhältnisses …“

„Unsinn!“ unterbrach ihn der Stadtkommandant mit einer schroffen Handbewegung. „Das sind keine Hergelaufenen, Mercier. Das sind eisenharte Kämpfer. Nichts gegen den Ausbildungsstand der Soldaten …“ er beschrieb eine entschuldigende Geste zu dem Sergeanten hin, „… aber diese Kerle dort unten scheinen darauf gedrillt zu sein, sich sogar mit dem Teufel anzulegen.“

„Ich beschwöre Sie noch einmal, Messieurs“, sagte Jean-Luc Martier, der Hafenkapitän. „Diskussionen bringen uns nichts ein. Im Augenblick ist wichtig, wie viele einsatzfähige Männer wir noch haben. Und dann dürfen wir dem Piratenpack keine Ruhe gewähren.“

Der Sergeant wandte sich ab und verließ den Wachraum mit dem gemurmelten Hinweis, er werde sich um eben jene Einsatzstärke seiner Truppe kümmern.

„Also gut“, murmelte René Douglas, legte die Hände auf den Rücken und wanderte ein paar Schritte auf und ab, wobei er aber vermied, dem Innenhoffenster zu nahe zu geraten. Dann blieb er vor Mercier stehen. „Nehmen Sie es mir nicht übel, mein Freund. Wir schlagen uns nun schon geraume Zeit mit dem Gesindel herum. Vielleicht sind unsere Nerven zu sehr strapaziert.“

Der Sergeant kehrte mit einer knappen Meldung zurück.

„Wir haben zweiunddreißig einsatzbereite Männer, die Leichtverwundeten mitgerechnet.“

„Und die Gegenseite?“ fragte Mercier.

„Acht“, antwortete der Sergeant betreten. „Die zwei, die sich bis zum Brunnen vorgewagt hatten, sind von der Geschützkugel zerrissen worden.“

„Acht Mann“, wiederholte Mercier kopfschüttelnd. „Unglaublich! Acht Strolche, denen wir mit zweiundfünfzig ausgewachsenen Kerlen gegenüberstehen. Da muß es doch wohl mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht in der nächsten halben Stunde klare Verhältnisse schaffen!“

2.

Yves Grammont schnappte sich das Tromblon, das der Mann neben ihm in fliegender Hast geladen hatte. Mit einem federnden Satz schnellte der Anführer der Piraten hinter der Deckung hervor. Hakenschlagend hetzte er auf den Trümmerhaufen zu, der von dem Brunnen übriggeblieben war.

Schüsse peitschten hinter den umgestürzten Wagen, die Grammonts Kumpanen als Barrikaden dienten. Der Feuerschutz erwies sich als wirksam. Nur kläglich erwiderten die Stadtgardisten und Soldaten das Feuer von den Burgmauern herab.

Unbehelligt erreichte Yves Grammont die Brunnenreste. Bevor er sich in Deckung warf, verharrte er einen Atemzug lang, brachte das Tromblon in Anschlag und zog durch. Die Steinschloßwaffe zischte und entlud sich im nächsten Moment mit einem Brüllen. Gehacktes Blei sirrte weitgestreut über den Burghof.

Der kleine Haufen von Soldaten, der sich beim Eingang zum Wachturm drängte, war nicht schnell genug in Sicherheit. Einen oder zwei von ihnen erwischte es. Yves Grammont konnte es nicht genau feststellen, aber er registrierte die Schreie grinsend und mit Genugtuung. Hinter einem der Mauerbrocken fand er Deckung, während seine Kumpane weiterhin die Burgzinnen beharkten.

Atemzüge später verzerrte sich Grammonts bärtiges Gesicht voller Wut. Für seine beiden Männer, die halb von Gesteinstrümmern zugedeckt waren, gab es keine Hilfe mehr. Es war indes keine Trauer, die Yves Grammont empfand. Es war der ohnmächtige Zorn über die zusammenschmelzende Kampfkraft seines Haufens. Aber so schnell gab er sich nicht geschlagen, o nein, so schnell nicht!

Mit einem Handzeichen verklarte er seinen Kumpanen, daß er zu ihnen zurückzukehren gedachte. Augenblicklich verstärkte sich deren Feuer. Grammont sprang auf und hastete von dem Brunnen weg. Auch diesmal schaffte es keiner der Uniformierten oben auf den Burgmauern, ihn mit einem gezielten Schuß zu erwischen. Grammont wußte, daß er sich auf seine eigene Schnelligkeit verlassen konnte. Für so ein bewegtes Ziel brauchte es schon einen Meisterschützen, um ins Schwarze zu treffen.

Mit einem letzten Satz warf sich Grammont hinter den umgestürzten Wagen. Er keuchte. Seine Wunden behinderten ihn immer noch, doch das änderte nichts an seiner eisernen Entschlossenheit, es mit der Übermacht aufzunehmen.

Grammont warf seinem Nebenmann, der für ihn die Waffen zu laden hatte, das Tromblon zu. Durch die Wagenradspeichen spähte der Piratenführer auf den Burghof. Er rückte seine Augenbinde zurecht. Zusammen mit dem dunklen Vollbart verlieh sie ihm ein wildverwegenes Aussehen.

Sein Nachbar, der eine fertiggeladene doppelläufige Pistole für ihn bereithielt, musterte ihn mit einem Seitenblick, in dem Bewunderung zu erkennen war. Ja, dieser Yves Grammont war ein Klotz von einem Kerl. Mit seiner athletischen Statur lehrte er jeden Gegner das Fürchten. Das offene weiße Hemd ließ seine dicht behaarte Brust erkennen, und das Kopftuch bestärkte jenes Bild, das man gemeinhin von einem furchterregenden Piraten hatte.

Nur noch vereinzelt blafften jetzt Schüsse von den Burgmauern herab. Grammont zog fluchend den Kopf ein, als eine der großkalibrigen Musketenkugeln haarscharf vor seiner Nase Splitter aus den Seitenplanken des Wagens riß. Er knirschte wütend mit den Zähnen. Oh, diese Himmelhunde hatten ein leichtes Spiel, solange sie keinen offenen Angriff riskierten. Oben auf ihrer Mauer waren sie sicher wie auf dem Schießstand und brauchten nur genau genug zu zielen, sobald sie eine Nasenspitze hinter den Wagen-Barrikaden zu sehen kriegten.

Einer der anderen, die hinter dem zweiten Wagen kauerten, huschte zu Yves Grammont herüber, ein blonder, wieselflinker Mann mit schulterlangem Haar. Die Uniformierten reagierten nicht schnell genug auf seinen Ausbruch. Bleikugeln schlugen sich auf der freien Fläche zwischen den beiden Wagen platt, als der Blonde längst mit einem federnden Satz neben Grammont in Deckung tauchte.

„Was gibt es, Maurice?“ knurrte der Anführer der Piraten.

„Wir haben den Durchgang aufgebrochen, Yves. Nur ein paar Schritte von unserer Deckung entfernt. Diese Land-Kakerlaken haben’s nicht mal mitgekriegt.“ Er deutete mit einer Kopfbewegung zu den Burgzinnen hinauf.

„Und?“ Grammont starrte den Blonden mit funkelnden Augen an. „Denkst du, ich blase zum Rückzug? Glaubst du, ich verkrieche mich wie eine lausige Bilgenratte?“

„Das nicht. Aber es könnte ja sein, daß …“

„Dummes Zeug!“ schnaubte Grammont. „Sieh sie dir doch an, diese armseligen Figuren. Sie haben mehr als fünfzig Mann und schaffen es trotzdem nicht, gegen uns anzustinken. Was für ein erbärmlicher Haufen ist das doch! Ich würde mir selbst in den Hintern treten, wenn ich das Pech hätte, solche Schwachköpfe zu befehligen.“

Maurice, der neben seinem Entermesser zwei schwere Pistolen im Gurt trug, grinste breit.