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Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1.

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3.

4.

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7.

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14.

15.

Epilog

Kommentar

Leserkontaktseite

Risszeichnung OVPASHIR – Raumschiff der Lucbarni

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Nr. 2747

 

Neu-Atlantis

 

Viele erfüllt sie mit Hoffnung, andere mit Furcht – auf Terra wächst eine neue Metropole heran

 

Wim Vandemaan

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

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Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Die Terraner – wie sich die Angehörigen der geeinten Menschheit nennen – sind längst in ferne Sterneninseln vorgestoßen. Immer wieder treffen Perry Rhodan und seine Gefährten auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte, die das Geschehen im Universum beeinflussen.

Im Jahr 1516 Neuer Galaktischer Zeitrechnung steht die Milchstraße seit nunmehr zwei Jahren unter dem Einfluss des Atopischen Tribunals. Seine Angehörigen behaupten, im Rahmen der »Atopischen Ordo« für Frieden und Sicherheit zu sorgen.

Welche Auswirkungen die Atopische Ordo haben kann, erfährt Perry Rhodan in der Galaxis Larhatoon. Sie ist die Heimat der Laren – dieses Volk herrschte vor über eineinhalb Jahrtausenden eine beträchtliche Zeitspanne in der Milchstraße

In der Heimatgalaxis regieren faktisch längst die Atopischen Richter und treiben die Regierungen der galaktischen Völker vor sich her. Viele Galaktiker flüchten in das einzige Sonnensystem, das sie als sicher ansehen: nach Terra. Dort gründen sie eine neue Stadt, und sie nennen sie NEU-ATLANTIS ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Farye Sepheroa – Die Tefroderin hütet Perry Rhodans Haus.

Chorest da Ragnaari – Der Arkonide treibt das Projekt Neu-Atlantis voran.

Lugal Banda – Der Bürger von Neu-Atlantis liebt die Unterwasserwelt.

Nior Carok – Die gefragte Architektin bietet ihre Hilfe an.

Bennyd Paullu – Der Mitarbeiter des Instituts für Biosphärencontrolling hat private Probleme.

1.

Die Schlacht in der Tiefe

 

Lugal Banda schwebte still. Es hungerte ihn ein wenig, nicht sehr. Man musste ihn freilich hüten, seinen Hunger, und ihn klein halten. Dann konnte er zu einem zusätzlichen Sinn werden, wach und aufmerksam.

Wenn man den Hunger jedoch gewähren und wachsen ließ, wurde er zu einer mächtigen Strömung, zu einem Geheiß. Dann horchte die Haut nur noch nach Beute, nach dem Gewisper und dem Hauch des Schmackhaften. Beherrscht vom Hunger, durchforschten die Augen die weiten Gründe ausschließlich nach Getier, das mundete. Nach den mundgerechten Leibern, den knackbaren Panzern voller Kraftfleisch.

Wo der Hunger allein herrschte, ließ man alles außer Acht, was aus den lauen Fernen herniederstieß, sogar die Unersättlichen der grundlosen Höhe.

Lugal Banda las mit der Haut das Geflecht der Bewegungen rings um ihn, die immer gleiche, immer andere Choreografie des Lebens.

Für einen Augenblick kam ihm der Zug zu Bewusstsein, den die lauen Fernen auf ihn ausübten. Eines Tages, das war ihm klar, würde er alt und schwach sein und diesem Zug nicht mehr widerstehen können. Sein Leib, erschöpft von der Zeit, würde dem Zug mehr und mehr nachgeben und aufsteigen.

Banda würde zurückkehren in die Höhen der Jugend, wo sich die Scharen der Jungen tummelten. Diese schnell wachsende Jugend, die die Tiefe noch vor sich hatte und die atemfreundliche Kühle des Abgrundes.

Beneidete er sie?

Schon jetzt?

Seine Lebenserwartung, so hatte man ihn unterrichtet, war dehnbar wie ein Arm. Niemand konnte sagen, wann sein Leib dem Zug nach oben nichts mehr entgegenzusetzen haben würde. Er alterte anders als die zahllosen Artverwandten.

Er – und Nin Sun. Die beiden Einzigartigen.

Und doch: Eines Tages würde der Zug auch Nin Sun erfassen, ebenso ihn, würde sie und ihn in die laue Ferne heben, durch die Lebenswelten des Jungvolks.

Vielleicht würde Banda den einen oder anderen Artverwandten, an dem es ihn vorüberhob, locken; Banda würde ihn packen, seine Kiefer öffnen und ihn verschlingen, eine letzte Erfrischung. So würde er einige Stunden dazugewonnen haben, würde er sich ein wenig länger in der Schwebe halten können, dann aber würde der Zug wieder unaufhaltsam.

Er würde den Kontakt zu der kalten Tiefe verlieren. Das Laue dort oben würde ihm den Atem verschlagen. Vielleicht – nur vielleicht würde er noch bewusst erleben, wie sein Leib, zur Tiefe nicht mehr fähig, selbst jene letzte Grenze durchstieß, wodurch die flüssige Welt von den Gaslanden geschieden war.

Der Gedanke an diese Zukunft erfüllte ihn mit Sorge. Gewiss: Die zahllosen Artverwandten kannten derartige Sorgen nicht. Seine Versuche, mit ihnen über die Zukunft zu reden, waren immer wieder gescheitert. Ihre Rede war von monumentaler Schlichtheit. Sie sagten bloß sich selbst. Dabei waren sie nicht ohne Erinnerung, aber sie vermochten keine Grenze zu ziehen zwischen Einst und Jetzt. Sie waren sich alles, die ganze Welt; und eine andere Welt, in der sie nicht vorkamen, blieb ihnen unvorstellbar.

So lebten die Artverwandten ein Leben ohne Zukunft, und keine drei Jahre nach ihrer Geburt hob es sie hinfort in Richtung der Gaslande.

Wenn nicht die Unersättlichen der grundlosen Höhe sie lange zuvor in ihre tönenden Mäuler geschlürft, in ihre Mägen gehievt hatten, von denen zwei mit Verdauungsdrüsen ausgestattet waren, Kammern, in denen das Leben der Artverwandten umgebaut wurde in die Leibspeise der Unersättlichen.

Sollte er diese kurzlebigen Artverwandten tatsächlich beneiden?

Er sollte es nicht.

Sollte er dankbar sein für seine Begabung zur Sorge?

Er sollte es.

Lugal Banda wedelte ein wenig mit seinem langen Arm, streckte und dehnte ihn, gab der Bewegung der Keule am Ende des Arms die Anmutung eines eleganten, kleinen Körpers, biegsam und leutselig. Banda stellte sich dazu einen jungen Rochen vor, und er vermengte das Bewegungsbild mit der Andeutung eines unermüdlich strampelnden Krebses – eine höchst appetitliche Gesellschaft.

Lugal Banda lauschte auf seine Standblase. Alles befand sich im Gleichgewicht. Still hing er da, den Oberkiefer im Unterkiefer verwahrt, reglos und unspürbar. Still. Nur seine Keule tat, als sei sie Leben eigener Art.

Nach einer Weile spürte er einen Hungerleider herangleiten. Dem Wasserzeichen seiner Bewegungen nach musste es ein junger Thun sein. Wer sonst kam so keck und rasant, wer sonst setzte zum Vortrieb vor allem die Schwanzflosse ein, ließ sie so rasch schwingen und den Rumpf vorantreiben?

Bandas Armkeule tat noch mehr wie ein Krebs und ließ dafür die Nachahmung eines Rochen verblassen. Nicht jeder Thun legte sich mit einem Rochen an. Ein Krebs aber musste ihn locken.

Der Thun schoss heran; sein tief gespaltenes Maul klappte auf. Er war nah genug.

Lugal Banda gab das Nachahmen der Krebsbewegung auf. Der Thun drehte fast unverzüglich ab; doch Banda war schneller. Sein langer, dehnbarer Arm umschlang den Thun und saugte sich daran fest.

Banda spürte, wie sich die zahllosen Zähne der Saugnäpfe in den Thun pressten. Schon zog er den dehnbaren Arm an, und nichts wie hinein mit dem zappelnden Thun in den Kranz seiner anderen Arme. Diese Arme fassten zu, der Oberkiefer hob sich aus der Versenkung im Unterkiefer.

Dann biss er zu.

In diesem Moment spürte er, wie Laffandra sich näherte.

 

*

 

Längst hatte Banda sich an das sanfte Geraune von Laffandras Bewegungsmuster gewöhnt. Ganz entfernt erinnerte ihn dieses Muster an das eines Hammerhais. Diese Ähnlichkeit war aber, wie Laffandra ihm versichert hatte, nichts als ein Scherz der Schöpfung. Laffandra war alle andere als ein Hammerhai – und mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht annähernd so wohlschmeckend.

Übrigens wusste Laffandra selbst nicht, wie Seinesgleichen schmeckte. Laffandra und seinesgleichen verspeisten ihresgleichen nicht. Er hatte einige Male versucht, Banda zu erläutern, warum sie aufeinander verzichteten. Aber Banda hatte keinen der Gründe verstanden, ja, alles, was in Laffandras sonderbarem Geist gegen den Verzehr der Gleichen sprach, sprach Bandas Meinung nach dafür.

»Lugal Banda!« Laffandras Ruf klang an Bandas Haut wie eine neue Strömung.

Leuchtende Zeichen glitten über Laffandra – wenn auch nicht über seine angeborene Haut. Laffandra trug nämlich eine zweite, eine eigens gemachte Haut, und diese zweite Haut sprach in simplen, nachgeahmten, aber durchaus verständlichen Zeichen.

Banda las: »Ein Unersättlicher!«

Lugal Banda spürte den Thun und wie seine Raspelzunge die Beute furchte und schnitt und zermalmte und tiefer schob. Aber er tat, was nötig war, ohne zu zögern.

Er wirbelte zur Seite. »Wo?«, leuchte er Laffandra zu.

Doch da war der Unersättliche schon.

Lugal Banda begegnete einem der ihren nicht zum ersten Mal. Der Unersättliche war ein ungeheuerlicher Klotz, viele Male so groß wie Bandas Mantel. Banda meinte, das träge Herz des Riesen mit seiner Haut zu hören, denn der Unersättliche besaß groteskerweise nur ein einziges Herz, und das Blut, das es pumpte, war an das Laue der Höhe gewöhnt, ja, es schlug selbst dann noch, wenn der Klotz in die Gaslande hochtauchte und dort seinen giftigen Atem schöpfte.

Dieser Klotz hatte sich von den Gaslanden abwendet und strebte der Tiefe zu, gefräßig. Sein aufgesperrtes Maul fuhr nieder wie die Fleisch gewordene Höhe selbst, lau und hohl.

Und verfehlte Banda doch, der sich zur Seite gesprudelt hatte.

Während der Klotz vorübersank, sah Banda die Narben, die ihm die Artverwandten im Todeskampf beigebracht hatten.

Ob einige von ihnen die Schlacht überlebt hatten?

»Ein alter Pottwal-Bulle«, signalisierte Laffandra in einer Leuchtfolge.

Pottwal – das war das Zeichen, das Laffandra für den gefräßigen Klotz verwendete. »Leichensatt«, blinkte Banda zurück.

Laffandra hatte ihm berichtet, dass diese Geschöpfe eigentlich Fremdlinge waren in der flüssigen Welt, niedergestiegen aus den Gaslanden. Warum? Weil sie dort in den Gaslanden ihren maßlosen Hunger nicht mehr hatten stillen können?

Den Hunger, der auch diesen Unersättlichen in die Tiefe befahl. Banda spähte ihm nach. Unter sich entdeckte er eine kleine Schar Artverwandter. Sie rührten sich nicht, lauernde Jäger, die noch nicht wussten, dass sie längst die Gejagten waren. Nur die Armkeulen rührten sich, lockten, und hin und wieder glitt ein Glanz über ihren blassblauen Mantel.

Nin Sun war anderswo, außer Gefahr.

Bislang war der Klotz schweigsam niedergefahren. In diesem Moment aber stieß er sein stummes Gebrüll aus.

Ultraschall-Impuls nannte Laffandra diese Waffe. Wie immer traf sie die Artverwandten ohne Vorwarnung. Die Schar geriet ins Trudeln. Ihre Arme schlappten durch das Wasser. Ihre Schnäbel öffneten und schlossen sich ratlos. Glanz schwebte um ihre Augen; bedeutungslose Muster irrlichterten über ihre Haut.

Dann war der Klotz da und schnappte zu.

Lugal Banda beobachtete, wie der Artgenosse im Maul des Unersättlichen verschwand. Einige Arme ragten noch heraus und suchten auf der Haut des Klotzes Halt. Die Zahnringe der Saugnäpfe schrammten und quetschten. Der Artgenosse wehrte sich prächtig.

Dann biss das Maul zu und trennte ihm die Arme vom Mantel. Sie trieben vorbei, bewegten sich noch, der Kennung nach greisen, abgelaichten Aalen ähnlich.

Der Klotz tauchte nicht mehr weiter; er machte kehrt und stieg auf Richtung Gaslande.

»Vorbei«, stellte Laffandra fest. Das Wort glitt als Leuchtschrift über seine zweite Haut und kam Banda zugleich als hörbare Botschaft entgegen.

»Nur eine Unterbrechung im ewigen Gram«, verbesserte Banda ihn. »Niemals vorbei.«

»Du wirst geschützt«, erinnerte ihn Laffandra. In diesem Moment bemerkte Banda zum wiederholten Mal, wie unähnlich Laffandra, der Hammerhaiähnliche, den Hammerhaien der flüssigen Welt in Wirklichkeit war. Sicher war Laffandra noch fremder als der Klotz. Ein Aarus – so nannte Laffandra sich. Der Aarus Laffandra sagte: »Ich schütze dich. Dich und Nin Sun.«

»Ja«, leuchtete Banda. Tatsächlich wusste er, dass an ihm und Nin Sun etwas war, eine Besonderheit, etwas, das für Laffandra und den Geistvater schützenswert war.

So lebte Lugal Banda im Bewusstsein, dass für ihn wie für Nin Sun am Ende eines Tages immer noch genug Hoffnung übrig war für den nächsten: Heute würden sie nicht sterben.

Er betrachtete die Artverwandten, die Riesenkraken, die Davongekommenen, die langsam aus ihrer Betäubung erwachten und ihre Armkeulen wieder auslegten.

Als wäre nichts gewesen, dachte Banda. War denn etwas gewesen?

Ich schütze dich, hatte der Aarus Laffandra gesagt. Doch dieser Schutz war nicht nur Laffandras Sache.

Hin und wieder bemerkte Banda, dass in weiten Kreisen etwas über ihm dahinglitt, präzise und immer gleichwertig. Dann verhielt Lugal Banda, um das Wasser zu schmecken und dem Tanz jener Bewegungen zu lauschen.

Von fern ähnelte das Muster, das sein Körper las, einem Fächerfisch mit aufgestelltem Segel. Was jedoch sollte einer von ihnen, die nah der Grenze zu den Gaslanden jagten, in Bandas Tiefen suchen?

Dieses Gleichmaß in den Kreisen. Diese unermüdliche Beharrlichkeit der Bewegung. Diese Genauigkeit im Abstand. Was dort um Lugal Banda kreiste, hatte nur einen Daseinszweck, da war er sich sicher: ihn zu beschützen.

Dabei lebten diese Beschützer nicht. Sie waren nicht geworden, sie waren gemacht.

Diejenigen, die für ihren Schutz sorgten, ihr Geistvater, musste die Beschützer als Segelfische getarnt haben.

Die zweite Haut des Aarus feuerte. »Wollen wir nach Hause?«

Banda hatte gelernt, dass manche Frage Laffandras keine Frage war, sondern ein Befehl. Aarus dachten in absonderlichen Winkelzügen.

Laffandra spürte Bandas Zögern. »Dein Geistvater wartet auf dich. Und auf Nin Sun.«

Banda prüfte sich. Der Geistvater stammte aus den Gaslanden. Trotzdem war er, daran bestand kein Zweifel, Urheber von Bandas Existenz. Und von Nin Suns, der Einzigen, die wie er war.

»Ich will«, entschied Banda.

»Das ist gut.« Laffandras Leib nahm eine schöne Wendung und strebte davon. Banda strudelte ihm hinterher, schlug mit der Flosse, machte sich schnell.

2.

Geh, ich weiß nicht wohin,

hol, ich weiß nicht was

Terrania, 26. Januar 1516 NGZ

 

Bennyd Paullu saß am Bett. Die Glaswand strömte eine eigentümliche Eidechsenwärme aus. Es war, als hätte die Sonne vor ihrem abendlichen Untergang das Glas noch einmal aufgeladen mit Wärme und müdem Licht.

Unter der Zimmerdecke rotierte langsam die Holografie der Milchstraße. Sol leuchtete aus dem Sternengewimmel unverhältnismäßig hell hervor, ein weißes Juwel irgendwo zwischen Sagittarius und Perseus.

Bennyd schaute auf Andris und aktivierte wie jeden Abend den Zuckerman-Spektrum-Schreiber, wartete einen Augenblick, dann begann er zu erzählen: »Es war einmal, in jenen Tagen, als das Wünschen noch geholfen hat, ein König.«

Er erzählte das Märchen, das immer schon Andris' Lieblingsmärchen gewesen war: »Geh, ich weiß nicht wohin, hol, ich weiß nicht was.«

Er erzählte von den Jägern des bösen und heimtückischen Königs und von jenem einen Jäger Fedot, der ein besserer Schütze war als alle anderen. Er erzählte von Fedots Schuss auf die Turteltaube und wie er das angeschossene Tier schon in seine Jagdtasche stecken wollte, als das Tier ihn in Menschensprache um sein armes Leben bat; wie Fedot die Taube in seinen großen Händen barg, als wären diese Pranken ein neues Ei, und sie darin nach Hause trug; wie sie dort eine Weile auf der Fensterbank saß, ihr Köpfchen unter dem Flügel, und sich dann unverhofft in eine wunderschöne Frau verwandelte; und wie Fedot sie heiratete.

Für einen Moment blickte Bennyd Paullu aus dem Fenster. Nacht über Terrania. Die Stadt hatte sich in ein dreidimensionales Mosaik aus Lichtern verwandelt.

Dann blickte er wieder auf Andris, sein junges und doch so in sich gekehrtes Gesicht, und fuhr fort. Irgendwann kam er zu der Stelle, in der es hieß: »Sorg dich nicht, schlafe. Der Morgen ist klüger als der Abend.«

Schlafen – das war alles, was Andris seit vielen Monaten tat. Bennyd Paullus Sohn litt an Zesculorschem Fieber. Fieber klang für Außenstehende nicht alarmierend. Die Mediker allerdings bezeichneten das Fieber als ein »HISS« – ein Hyperkontinuierlich induziertes singuläres Syndrom.

Paullu war an jenem Tag mit seinem Sohn über einen Transmitter von Terrania zum Mars gegangen. Bennyd Paullu hatte in NPC zu tun gehabt, in New Pounder City, der Hauptstadt des Planeten. Er liebte die großzügige Architektur der neuen Metropole, der jüngsten Großstadt des Solsystems.

Der Horizont in NPC war weit; die Magnetfeldprojektoren erhoben sich in der Ferne wie Grenzsteine zum Land von Riesen der Vorzeit. Man meinte, die Atmosphärefabriken und ihre Pumpen arbeiten zu spüren, die an Sauerstoff ergänzten, was die junge Flora des Planeten noch nicht beizutragen vermochte.

Nirgends im Solsystem gab es phantastischere Wasserspiele, Fontänen und Kaskaden als in NPC. Fast überall in der Stadt herrschte künstlich erzeugte Erdschwerkraft; dort aber, wo es die Wasserspiele gab, hatten die Neusiedler Zonen der natürlichen Mars-Gravitation belassen, die bei 0,38 Gravos lag.

Entsprechend himmelstürmend schossen dort die Wassersäulen hinauf; entsprechend fein versprühten sie sich in der Höhe; entsprechend farbenfroh durchzogen lichte Gewölbe von Regenbögen dieses Terrain.

Zunächst hatte Bennyd Paullu denn auch gemeint, es wäre die pure Erschöpfung nach all dem Herumtollen und Planschen gewesen, die Andris so ermüdet und gleichzeitig so erhitzt hatte.

Er hatte ihn in ihrem Hotel in NPC zu Bett gebracht und begonnen, ihm sein Lieblingsmärchen zu erzählen: »Geh, ich weiß nicht wohin, hol, ich weiß nicht was.« Und er hatte sich wenig dabei gedacht, als Andris schon eingeschlafen war, noch bevor Fedots Turteltaube sich in die wunderschöne Frau verwandelt hatte.

Erst als Andris am nächsten Morgen nicht aufwachte, nicht aufzuwecken war, sondern schlief und fieberte, war Paullu zunächst besorgt gewesen, endlich, als er das ratlose Gesicht der Hotel-Medikerin gesehen hatte, in Panik verfallen. Andris schlief, und nichts und niemand vermochte ihn aufzuwecken. Seine Körpertemperatur hatte sich auf 38,22 Grad Celsius erhöht – und kein Medikament senkte es.

Es folgte der Klinikaufenthalt in NPC. Der erste Verdacht, das Koma könnte mit dem Transmittersprung zusammenhängen. Der Rücktransport nach Terrania in einer Medo-Raumfähre. Die Aufnahme in die Kublai-Khan-Klinik. Die Verlegung in die Ganvallon-Privatklinik für Schlafdesign. Die Begegnung mit dem Ara Zesculor und dessen Diagnose: Andris habe sich die Krankheit während des Transmittersprunges zugezogen.

Die Zahl derer, die durch einen Transmittertransfer zu Schaden gekommen waren, hatte sich über die Jahrzehntausende galaktischer Geschichte im einstelligen Bereich gehalten – jedenfalls, was die dokumentierten Fälle betraf.

Der prominenteste Terraner, den es getroffen hatte, war jener Alaska Saedelaere, der später in den Kreis der Unsterblichen aufgenommen worden war.

Andris stand keine Prominenz bevor. Durchaus aber Zesculor, der die Krankheit entdeckt und sie beschrieben hatte. Und dessen Name sie nun trug: das Zesculorsche Fieber.

Zesculor sorgte dafür, dass Andris offiziell in die Kublai-Khan-Klinik rückverlegt wurde, wo der Ara eine kleine private Station unterhielt. Tatsächlich richtete Zesculor ihm aber das eigene Zimmer in Paullus Wohnung zum Krankenzimmer um.

Immerhin setzte der Ara seinen ganzen Ehrgeiz darin, dieses Syndrom zu erforschen. Es war, als hätte Zesculor eine Lebensaufgabe gefunden, als hätte das Fieber ihn und seinen Patienten zu einer eigentümlichen Symbiose verbunden.

Der Ara nannte Andris durchaus nicht seinen Klienten, wie man es von einem galaktischen Mediziner erwartet hätte, sondern seinen Patienten. Er beanspruchte kein Honorar – was dem gängigen Klischee ebenso widersprach.

Zesculor war zum häufigsten Gast in Bennyd Paullus Wohnung geworden. Zum einzigen und letzten Gast, beinahe. Wenn er selbst verhindert war, schickte er Plehe, eine junge Ara, eine gewissenhafte, aufmerksame, aber sehr schweigsame Medikerin.

Bennyd Paullu erhob sich, strich nachdenklich die Decke über Andris glatt und fuhr dann mit den Fingerspitzen über seine Stirn. Sie war heiß und feucht.

Rettungslos wie immer.

3.

Gut in der Zeit

Neu-Atlantis, 31. Januar 1516 NGZ

 

Chorest da Ragnaari, kaum hundert Jahre alt, das weiße Haar streng zurückgekämmt, saß neben Vonnertrost im Gleiter, der zwischen den Azoren-Inseln Graciosa und Terceira über dem Atlantischen Ozean schwebte. Die Kuppel des Gleiters war transparent geschaltet. Chorest sah das große Raumschiff aus der wattigen Wolkenbank sinken wie eine Offenbarung. Die arkonidischen Schriftzeichen, die nun sichtbar wurden, wiesen es als die BAANTOR DA GLAOSTHARD III aus.

Einige Hundert Meter über dem Wasserspiegel verharrte das Schiff, auf Augenhöhe mit Chorest und seinem Begleiter, dem Bauchaufschneider.

»Wir sind gut in der Zeit«, bemerkte Vonnertrost.

Chorest nickte. In der Hülle der BAANTOR DA GLAOSTHARD III öffneten sich die ersten Hangartore wie die Lider eines tausendäugigen Schläfers.

Perlen auf unsichtbaren Ketten gleich, schleusten an der einen Stelle autarke Container aus, an der anderen schwere und leichte Lastengleiter.

Das Schiff war ein Kugelraumer der EPETRAN-Klasse, rund 1500 Meter im Durchmesser. Als Einheit der imperialen Explorerflotte war es nach einem der großen Entdecker der arkonidischen Klassik benannt.

»Die Entdecker entdecken Larsaf III neu«, witzelte Vonnertrost.

»Was sollen sie sonst tun? Für das Atopische Tribunal auf Forschungsreise gehen?«

Soweit Chorest da Ragnaari wusste, hatte die Explorerflotte ihre Forschungen auf Befehl des Vizeimperators weitgehend eingestellt.

Nicht, dass es in der Milchstraße und den Sterneninseln in Reichweite der arkonidischen Überlichtantriebe nichts mehr zu erkunden gegeben hätte. Die Galaxis – die Öde Insel oder Debara Hamtar, wie die Arkoniden sie nannten –