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Wolfgang und Heike Hohlbein sind die erfolgreichsten und meistgelesenen Fantasy-Autoren im deutschsprachigen Raum. Seit ihrem Überraschungserfolg »Märchenmond« konnte sich die wachsende Fangemeinde über zahlreiche weitere Bestseller freuen. Ein besonderes Anliegen ist den Autoren die Nachwuchsförderung, wie zum Beispiel die Verleihung des Hohlbein-Preises in Zusammenarbeit mit dem Verlag Ueberreuter.

Katharina Grossmann-Hensel wurde 1973 geboren, lebt heute als freischaffende Illustratorin in Berlin und arbeitet für verschiedene Verlage.

In der Reihe Drachenthal bisher erschienen:

Drachenthal– Die Entdeckung

Drachenthal– Das Labyrinth

Drachenthal– Die Zauberkugel

Drachenthal– Das Spiegelkabinett

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Über das Buch

Rebekka und der Magier Themistokles sind Opfer eines fiesen Tricks geworden: Denn die beiden haben Körper getauscht und plötzlich befindet sich Rebekka auf der Zauberuniversität Drachenthal im Land Märchenmond, dem Reich der Elfen, Drachen und sprechenden Tiere, und Themistokles in der Privatschule Drachenthal auf der Erde. Verrückt! Es beginnt eine Serie haarsträubender Verwechslungen und ein turbulentes fantastisches Abenteuer.

Auf der anderen Seite der Träume

Wenn Träume wahr werden könnten …

… dann war das zweifellos etwas, was sich Rebekka insgeheim schon genauso oft gewünscht hatte wie jeder andere Mensch. Aber ein kluger Mann hat einmal gesagt: Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst. Es könnte in Erfüllung gehen. Bis vor ein paar Stunden hatte sie diesen Satz für schieren Blödsinn gehalten. Genau das hochgestochene Zeugs eben, das kluge Männer (oder solche, die sich dafür halten) von sich geben, wenn sie sich wichtig machen wollen. Aber vielleicht war dieses Urteil ein bisschen vorschnell gewesen, denn mittlerweile glaubte sie zu verstehen, was damit gemeint war …

Sie war aus einem wirren und alles andere als angenehmen Traum erwacht, nur um sich in einem anderen und noch viel verrückteren Traum wiederzufinden, von dem noch dazu alle anderen behaupteten, er wäre die Wirklichkeit.

Wirklichkeit! Ha! Wer hätte jemals von einer Wirklichkeit gehört, in der es Drachen und Zauberer gab, Elfen und Zwerge, Einhörner und Schimären und noch tausend andere, noch viel fantastischere Geschöpfe?

Sie beantwortete sich ihre eigene Frage, während sie sich vorsichtig aufsetzte und das unbequeme Bett verfluchte, auf dem sie aufgewacht war: sie selbst! In den Büchern, die sie so gerne las, den Filmen, die sie so gerne sah – und selbstverständlich in ihren Träumen.

Na ja, und jetzt eben … hier.

Wo immer dieses Hier auch sein mochte.

Noch immer müde, mit verklebten Augen und so steif gelegen, dass sie sich kaum bewegen konnte, stand sie auf und schlurfte zu dem schmalen Fenster. Es war so hoch in der Wand ihrer zugigen Turmkammer eingelassen, dass sie einen Schemel daruntergeschoben hatte, um überhaupt hindurchsehen zu können. Zusammen mit dem kaum handtuchbreiten Folterinstrument, das man hier anscheinend für ein Bett hielt, einem aus schweren Eichenbalken gefertigten Tisch und einer eisenbeschlagenen Truhe, deren Deckel so schwer war, dass Rebekka ihn trotz aller Anstrengung nicht einmal um einen einzigen Zentimeter hatte anheben können, stellte dieser Schemel die gesamte Einrichtung der Turmkammer dar. Auf dem Tisch befanden sich zwei flache gläserne Schalen mit bunten Kristallen sowie einige Bücher, die so schwer aussahen, dass Rebekka bezweifelte, ob sie auch nur eines davon hochheben konnte. Das war alles.

Vorsichtig stieg sie auf den Schemel und beugte sich ächzend vor. Goldfarbenes Sonnenlicht (das so ziemlich das Einzige hier war, was ihren Erwartungen einigermaßen entsprach) berührte ihr Gesicht wie hauchzarte Libellenflügel und ließ sie blinzeln, aber gleich darauf verzog sie auch angesäuert die Lippen, als das grobe schwarze Gewand, das sie trug, überall auf ihrer Haut zu schubbern und zu scheuern begann. Außerdem piekste und stach es sie an den unmöglichsten Stellen, was vermutlich an dem harten Stroh lag, mit dem ihr Bett anstelle von Daunenfedern oder Schaumgummi gefüllt war. Aber irgendwie passte das ja auch zu allem anderen: Statt in einem goldenen Schloss voller Elfen und Feen und niedlicher kleiner Kobolde, die sie in goldbestickte Kleider hüllten, ihr Haar kämmten und überhaupt mit ihrer ganzen wunderbaren Zauberkraft nichts Besseres anzufangen wussten, als sie zu bewundern und zu verehren, war sie in einer zugigen Turmkammer aufgewacht. Hier pfiff der Wind durch die Tür, die an der Innenseite keine Klinke hatte (man hätte es auch ein Gefängnis nennen können), und bis zu diesem Moment hatte Rebekka weder eine Fee noch eine Elfe oder einen Kobold zu Gesicht bekommen oder überhaupt irgendjemanden.

Die Kammer musste hoch unter der Spitze eines gewaltigen steinernen Turmes liegen, der sich über den Zinnen und Mauern einer ehemals sicher beeindruckenden Burganlage erhob – wobei die Betonung eindeutig auf ehemals lag. Die meisten Dächer, auf die sie hinuntersah, hatten große Löcher, die nur notdürftig geflickt waren, oder waren eingesunken. Auf den Mauerkronen bröckelten die Zinnen, und sie sah mehr als ein Fenster mit eingeschlagenen Scheiben. Das riesige Tor war mit Balken abgestützt, damit es nicht umfiel, und in den Steinen, mit denen der Hof gepflastert war, war ein unregelmäßiger Abdruck zu erkennen, als wäre dort etwas ungeheuer Schweres von der Größe eines Güterzuges vom Himmel gefallen. Wenn man genau hinsah, dann hatte dieser Umriss verdächtige Ähnlichkeit mit dem eines Drachen …

Ein tolles Märchenland war das, dachte sie miesepetrig. Pah! Diese famose Märchenburg war nichts anderes als eine einzige große Ruine, die so aussah, als würde sie beim nächsten heftigen Windzug einfach umfallen!

Hinter ihr klapperte plötzlich etwas, und noch bevor Rebekka sich ganz herumdrehen konnte, hörte sie ein erbärmliches Quietschen und Ächzen, wie das Knarren uralter eiserner Scharniere, die seit mindestens hundert Jahren nicht mehr geölt worden waren.

Die Tür war aufgegangen, aber niemand war zu sehen. Rebekka blickte nur auf einen leeren und aus den gleichen uralten Steinen gemauerten Gang hinaus, der von einer heftig rußenden Fackel erhellt wurde.

»Meister Themistokles!«, dröhnte eine Stimme, die so laut und tief war, dass Rebekka sie fast bis in die Zähne zu spüren glaubte. Sie musste einem Riesen gehören und Rebekka legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Aber da war nichts.

»Ähm … entschuldigt, Meister Themistokles, aber ich bin … äh … hier«, fuhr die grollende Stimme fort. Sie klang ein bisschen verwirrt. Oder besorgt?

Rebekka sah überrascht nach rechts und links und kam endlich auf die Idee, nach unten zu blicken. Da war tatsächlich etwas, aber Rebekka war ganz und gar nicht sicher, ob sie die Gestalt wirklich sah oder es sich nur einbildete.

Sie war menschlich – na ja, ungefähr wenigstens –, nur einen halben Meter groß, dafür aber beinahe genauso breit und hatte Haut wie rissiges, altes Leder und Haare, als hätte sie versehentlich in eine Steckdose gefasst. Sosehr sich Rebekka auch anstrengte: Die passendste Bezeichnung, die ihr für den Knirps einfiel, war Würfelzwerg. Darüber hinaus hatte er das hässlichste Gesicht, das Rebekka jemals gesehen hatte.

»Habt Ihr die Inspektion vergessen, Meister Themistokles?«, fragte er.

Rebekka starrte ihn einfach nur an.

»Die Schulinspektion«, erklärte der Zwerg. »Wir müssen doch …« Er stutzte. »Ist … ist alles in Ordnung, Meister Themistokles?«, fragte er und legte den Kopf auf die Seite.

Irgendwie kam ihr die Gestalt … bekannt vor, so verrückt der Gedanke auch war. Rebekka kramte einen Moment angestrengt in ihrer Erinnerung und konnte beinahe hören, wie es laut und deutlich klick hinter ihrer Stirn machte.

»Du … du bist Kjuub«, murmelte sie erstaunt.

»Natürlich bin ich das«, antwortete der Zwerg in verwundertem Ton. »Ist wirklich alles in Ordnung mit Euch, Meister Themistokles?«, fragte er, während er den Kopf nun zur Abwechselung auf die andere Seite legte und mit kleinen, trippelnden Schritten näher kam. Eigentlich wirkte er sogar ein ganz kleines bisschen misstrauisch, fand Rebekka.

»Und wieso nennst du mich dauernd Meister Themistokles?«

»Na, weil Ihr es …«, begann Kjuub, legte den Kopf wieder auf die andere Seite und sah nun ganz eindeutig misstrauisch zu ihr hoch.

Rebekka ihrerseits starrte den Zwerg immer fassungsloser an. Hinter ihrer Stirn wirbelte alles so sehr durcheinander, dass sie keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Das da vor ihr war ganz zweifellos Kjuub, einer von Meister Themistokles’ treuesten Verbündeten, aber wenn das wahr war …

»Wartet einen Moment hier«, sagte Kjuub und stürmte mit Schritten hinaus, die ebenso schnell und weit ausgreifend waren wie er klein.

Rebekka starrte ihm nach und sie fühlte sich dabei, als hätte jemand einen Kübel eiskaltes Wasser über ihr ausgegossen. Wenn das wirklich Kjuub gewesen war, dann bedeutete das ja, dass … nein. Das war vollkommen unmöglich!

Rebekka fuhr auf dem Absatz herum und hechtete geradezu Richtung Fenster, obwohl ihre Knochen mit heftigen Schmerzen darauf reagierten. Zum zweiten Mal kletterte sie auf den Schemel und beugte sich vor, um in den Burghof hinunterzublicken. Dort unten hatte sich nichts verändert, aber nun gab es keinen Zweifel mehr, wo sie war. Das hier war Drachenthal, aber nicht die Privatschule Drachenthal, auf die sie ging, seit ihre Eltern vor beinahe einem Jahr beruflich ins Ausland gemusst hatten. Es war das andere Drachenthal, die gleichnamige Zauberuniversität im Osten des Landes Märchenmond, der Welt auf der anderen Seite der Träume, wo Legenden Wirklichkeit waren und die Realität nichts als ein Traum.

Früher hätte sie nie und nimmer geglaubt, dass es so etwas wirklich gab. Schließlich war sie ein vernünftiges Mädchen, das sehr wohl zwischen ausgedachten Geschichten und der Wirklichkeit unterscheiden konnte. Sie liebte Fantasy-Geschichten über alles, vor allem solche mit Feen und Elfen. Noch vor einem Jahr hätte sie blind die Hand dafür ins Feuer gelegt, dass es eben nur ausgedachte Geschichten waren, ohne einen Funken Wahrheit.

Gut, dass sie es nicht getan hatte, denn sie hätte sich wohl ziemlich übel verbrannt. Drachenthal hatte alles geändert. Sie hatte nicht nur neue Freunde (und auch ein paar neue Feinde) gefunden, sondern auch eine Menge spannender Abenteuer erlebt. Und vor allem: Sie hatte einsehen müssen, dass es nicht nur diese eine Welt gab, die sie bisher gekannt hatte, sondern auch noch eine andere; eine Welt jenseits der Wirklichkeit. Märchenmond. Es war ein Land, zu dem Erwachsene niemals Zutritt hatten und auch längst nicht alle Kinder, aber im Drachenthal-Internat gab es irgendeine geheimnisvolle Verbindung dorthin. Und Themistokles – Meister Themistokles, wie Kjuub ihn nannte – war der oberste, mächtigste und älteste Zauberer von Märchenmond.

Nun ja, also zumindest der älteste.

Rebekka hatte schon oft mit ihm gesprochen – mit einem magischen Spiegel, in ihren Träumen oder durch eine Zauberkugel, einmal sogar über den Monitor ihres Laptops –, aber sie hätte sich niemals träumen lassen, wirklich hierherzukommen. Ein ganz kleiner Teil von ihr glaubte vielleicht immer noch nicht daran, dass Märchenmond tatsächlich existierte; nicht auf eine Art, die so war, dass man tatsächlich dorthin gelangen konnte.

Aber sie war hier, basta.

Nur war es trotz allem irgendwie … anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Ziemlich anders sogar …

Ein Scheppern und Scharren riss sie wieder in das zurück, was im Moment zumindest behauptete, die Wirklichkeit zu sein, und sie drehte sich herum.

Kjuub kam zurück. Nur hatte sie im ersten Moment fast Mühe, ihn zu erkennen. Eigentlich sah sie ihn gar nicht, sondern nur das gewaltige, rechteckige Etwas, das er schnaufend und weit nach vorne gebeugt auf dem Rücken heranschleppte. Es war in große Fetzen gewickelt, die aussahen wie eine zerrissene Zeltplane, und klirrte hörbar, als der Zwerg es gegen die Wand lehnte.

»Was tust du da?«, fragte Rebekka misstrauisch.

»Gemach, Meister Themistokles, gemach«, ächzte der Zwerg. Er war in Schweiß gebadet und schnaufte wie eine uralte Dampflokomotive. Was immer er gebracht hatte, musste sehr schwer sein.

»Wartet einen Augenblick, Meister Themistokles«, schnaufte er, »dann haben wir Gewissheit.«

»Gewissheit worüber?«, fragte Rebekka misstrauisch.

Statt ihre Frage zu beantworten, zog Kjuub mit einem Ruck die Stofffetzen von seinem Mitbringsel – und Rebekka hätte um ein Haar laut aufgeschrien.

Unter der zerrissenen Zeltplane kam ein mehr als mannshoher, kunstvoll gerahmter Spiegel zum Vorschein. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie ihr Spiegelbild an. Das nicht ihr Spiegelbild war …

Auf dem zerschrammten Glas waren ganz genau die Turmkammer zu erkennen, das schäbige Bett und auch der Würfelzwerg, der hinter ihr stand und sie über den Spiegel hinweg misstrauisch anstarrte.

Aber eigentlich sah er gar nicht sie an. Alles auf dem Spiegel zeigte ein getreues Abbild der Kammer – nur da, wo Rebekka selbst stehen sollte, erblickte sie stattdessen einen uralten, weißhaarigen Mann mit einem ebenfalls schlohweißen, langen Bart, der ihm bis auf die Brust herabfiel. Er trug dasselbe grobe schwarze Gewand wie das, in dem Rebekka an diesem Morgen aufgewacht war, und dazu einen spitzen, irgendwie albern aussehenden Hut auf dem Kopf. Und er starrte Rebekka mindestens ebenso überrascht an wie sie umgekehrt ihn.

»Themistokles?«, murmelte Rebekka ungläubig. Aber wieso sah sie das Bild des Zauberers im Spiegel statt sich selbst? Das Spiegelbild gab keinen Laut von sich, aber es öffnete den Mund, als wollte es etwas sagen.

Rebekka blickte an sich herab, hob die Hand über den Kopf und fühlte rauen, harten Stoff, und auch Meister Themistokles im Spiegel hob den Arm und griff sich an seinen schwarzen Zauberhut.

»Was … hat das alles hier zu bedeuten?«, fragte Rebekka. Sie hatte plötzlich ein sehr, wirklich sehr ungutes Gefühl.

Kjuub sah auch nicht gerade amüsiert aus. Aber er antwortete nicht auf ihre Frage, sondern legte lediglich die Stirn in tiefe Sorgenfalten (wodurch er, nebenbei bemerkt, noch hässlicher aussah, auch wenn Rebekka das einen Moment zuvor noch für gänzlich unmöglich gehalten hätte). Dann griff er in die Tasche seines ledernen Gewandes, das genauso zerknittert und schmuddelig braun war wie seine Haut, weshalb man gar nicht genau sagen konnte, wo das eine aufhörte und das andere begann. Seine Finger hielten etwas Kleines und Feuerrotes, als sie wieder zum Vorschein kamen. Der Anblick wollte eine Erinnerung in ihr wecken, doch Rebekka entglitt die Erinnerung, noch bevor sie so wirklich danach greifen konnte.

Vielleicht lag das aber auch an der fantastischen Veränderung, die mit dem verrückten Spiegelbild vor sich ging, kaum dass der Zwerg den geschnitzten Rand des Spiegels berührt hatte: Die Gestalt, die Rebekka sah, trug noch immer ein bis auf den Boden fallendes schwarzes Gewand und einen spitzen Hut, aber plötzlich blickte sie nicht mehr in das faltige Gesicht eines uralten, bärtigen Mannes, sondern in ihr eigenes!

»Ja, das habe ich befürchtet«, seufzte Kjuub. »Das muss passiert sein, als Feuer Euch gegen den Spiegel gestoßen hat, Meister Themisto… äh … dich, meine ich, Rebekka.«

»Feuer!«, entfuhr es Rebekka erschrocken. »Wo ist er?«

Kjuub hob beruhigend die Hand. »Keine Sorge«, sagte er rasch. »Ich habe den Burschen natürlich sofort eingesperrt. Drei Tage bei kaltem Pech und Stein, das ist ja wohl das Mindeste an Strafe dafür, dass er es gewagt hat, die Hand gegen Euch zu erheben.«

Rebekka verstand kein Wort. Sie starrte ihr Spiegelbild an, das Spiegelbild starrte genauso entsetzt zurück und ganz allmählich keimte ein geradezu ungeheuerlicher Verdacht in ihr auf.

Kjuub zog die Hand mit dem roten Was-auch-immer zurück und Rebekka blickte wieder ins Gesicht eines uralten, weißhaarigen Mannes – das allerdings immer noch so entsetzt aussah wie ihr eigenes.

»Oh-oh«, machte Kjuub. Das gefiel Rebekka noch sehr viel weniger als alles, was er zuvor gesagt hatte.

Mit einiger Mühe riss sie ihren Blick von dem unmöglichen Spiegelbild los und starrte auf den Zwerg hinab. »Was … was ist denn mit dem Spiegel los?«, krächzte sie. »Ist … ist er irgendwie … kaputt?«

Kjuub sah sie fast traurig an. »Ich fürchte, mit dem Spiegel ist alles in Ordnung, Meist … äh … Rebekka, meine ich.« Jetzt wurde sein Blick ganz eindeutig traurig. »Du erinnerst dich an gar nichts?«

Rebekka versuchte es ja. Sie war zusammen mit Biene und Sam in dem unheimlichen Spiegelkabinett auf der Kirmes gewesen, und jetzt fiel es ihr auch wieder ein, tatsächlich vor genau diesem Spiegel gestanden und Themistokles angestarrt zu haben, der sie von der anderen Seite aus mindestens genauso verdutzt angeguckt hatte, und dann …

Ihre Erinnerungen kamen so plötzlich zurück, dass sie ein leises, erschrockenes Keuchen ausstieß. Irgendetwas Großes und Rotes war hinter dem Zauberer aufgetaucht und hatte ihn gegen den Spiegel gestoßen, und im gleichen Moment hatte Samantha auch ihr einen kräftigen Schubs verpasst, der sie vorwärtsstolpern ließ. Aber statt gegen den Spiegel zu prallen, war sie geradewegs hindurch und auf der anderen Seite zu Boden gestürzt. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass sie sich aufgerappelt und direkt ins Gesicht eines leibhaftigen Drachen geblickt hatte … und vor Schrecken wohl in Ohnmacht gefallen sein musste, denn danach war sie in dieser sonderbaren Turmkammer wieder aufgewacht.

»Das … war dieser Spiegel?«, murmelte sie. »Er hat mich hierhergebracht?«

»Ich fürchte, ganz so einfach ist es nicht«, antwortete Kjuub. Er wedelte mit dem roten Ding, mit dem er gerade den Spiegel berührt hatte. »Nicht genau dieser Spiegel«, sagte der Zwerg betrübt. »Der, in den Ihr … äh … also in den du gesehen hast, war der Zauberspiegel in Meister Bernwards dreimal vermaledeitem Zelt.«

»Und?«, fragte Rebekka verständnislos.

»Ein Spiegel, Rebekka«, antwortete Kjuub ernst, »ist ein sehr mächtiges magisches Instrument. Und auch die Schuppen eines Drachen verfügen über große Zauberkraft. Zusammen bilden sie etwas wie ein …« Er suchte einen Moment nach Worten und hob schließlich die breiten Schultern. »Ein Tor«, sagte er.

Rebekka hatte allerdings das Gefühl, dass er eigentlich etwas ganz anderes hatte sagen wollen. »Ein Tor«, wiederholte sie. »Du meinst, wir … haben … getauscht?« Sie deutete auf den Spiegel, und Themistokles, der darin zu sehen war, wiederholte die Geste getreulich. Er sah auch genauso erschrocken aus, wie Rebekka sich fühlte. »Ich bin hier bei euch und er ist drüben bei uns?«

Kjuub druckste herum. Rebekka musste nicht fragen, um zu wissen, wie wenig wohl er sich in seiner zerknitterten Haut fühlte. »Ich … äh … fürchte, ganz so einfach ist es nicht«, sagte er ausweichend.

»Aha«, sagte Rebekka. Sie hatte plötzlich ein sehr, wirklich sehr ungutes Gefühl.

»Also du … äh … bist schon noch zu Hause, in deiner Welt«, antwortete Kjuub. Er klang nervös. »Und Meister Themistokles ist natürlich auch weiter hier. Körperlich, meine ich.«

Es dauerte einen Moment, bis Rebekka wirklich verstand, was Kjuub ihr sagen wollte. Entsetzt riss sie die Augen auf, starrte ihr weißhaariges, bärtiges Spiegelbild an und dann auf ihre Hände hinunter.

Es waren nicht mehr die Finger eines jungen Mädchens, sondern die schmalen, faltigen Hände eines uralten Mannes.

»Soll … soll das heißen, wir haben die … die Körper getauscht?!«, ächzte sie.

»Sozusagen«, gestand Kjuub kleinlaut.

Rebekka war so schockiert, dass sie im ersten Moment gar nichts erwidern konnte. Sie starrte nur weiter ihre Hände und dann wieder das uralte, faltige Gesicht an, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte. Kein Wunder, dass sie sich kaum bewegen konnte, ohne überall ein Zwicken und Stechen zu fühlen wie eine Hundertjährige. Sie war im Körper eines Überhundertjährigen gefangen!

»Aber das … das kann man doch rückgängig machen, nicht wahr?«, stammelte sie. »Ich meine: Da gibt es doch bestimmt einen passenden Zauberspruch, oder?«

Der Zwerg wich ihrem Blick aus und Rebekka fragte noch einmal und in jetzt schon beinahe panischem Ton: »Oder?«

»Sicher«, antwortete Kjuub hastig. Er wich ihrem Blick weiter aus. »Das ist sogar ein ziemlich einfacher Zauberspruch. Wenn … äh … also …«

»Wenn?«, fragte Rebekka misstrauisch, als Kjuub nicht weitersprach, sondern mit den Füßen zu scharren begann und plötzlich so aussah, als wünsche er sich nichts sehnlicher als ein Mauseloch, in das er sich verkriechen konnte.

»Nun ja, wenn man den Zauberspruch … ähm … kennt«, sagte er schließlich. »Ich … äh … also … Meister Themistokles hätte ihn gewusst.«

Es dauerte auch jetzt einen Moment, bis sie verstand, was der Zwerg wirklich damit meinte. Dann hatte sie das Gefühl, langsam von innen heraus zu Eis zu erstarren.

»Das heißt … ich sitze hier … fest?«, vergewisserte sich Rebekka.

Kjuub antwortete vorsichtshalber gar nicht, sondern schien plötzlich etwas ungemein Interessantes irgendwo auf dem Boden entdeckt zu haben.

»Dann müssen wir sofort zurück zu dieser Kirmes. Und zu diesem Meister Bernhard.«

»Bernward«, verbesserte sie Kjuub, noch immer ohne sie anzusehen. »Und das … geht nicht, fürchte ich.«

»Wieso?«

»Nach der Katastrophe im Spiegelzelt hatte es Meister Bernward plötzlich sehr eilig, seine Sachen zu packen und zu verschwinden.« Er hob die Stimme und kam Rebekkas nächster Frage zuvor: »Und selbst wenn es anders wäre, so hätte das keinen Sinn, Mei… äh … Rebekka, meine ich. Alle Spiegel sind zerstört. Feuer hat ganze Arbeit geleistet.«

»Dann müssen wir mit ihm reden«, sagte Rebekka – und erntete wieder ein bedauerndes Kopfschütteln und einen noch bedauernderen Blick.

»Die Inspektion«, erinnerte er.

»Was für eine Inspektion?«

»Für heute Morgen hat sich der Geist der Schule zur Inspektion angesagt«, seufzte Kjuub. »Und da erwartet er natürlich, vom neuen Direktor dieser altehrwürdigen Zauberschule entsprechend empfangen zu werden.«

»Und wenn es der Geist der Kaisers von China ist!«, unterbrach ihn Rebekka grob. »Ich muss mit Feuer sprechen! Wo ist er?«

»Im Karzer«, antwortete der Zwerg kleinlaut.

»Karzer?« Rebekka erinnerte sich, dieses Wort schon einmal gehört zu haben.

»Ich habe Feuers Vater von dem feigen Anschlag auf Meister Themistokles unterrichtet«, antwortete Kjuub. »Ich kann dir sagen, er war alles andere als begeistert. Am liebsten wäre er sofort hergekommen, aber er ist gerade in wichtigen Geschäften unterwegs und kann erst in ein paar Tagen hier sein. So lange haben wir seinen Sohn eingesperrt – auf seinen eigenen Wunsch hin.«

»Na, dann kann er ja auch nicht weglaufen!« Rebekka gestikulierte in Richtung Tür. »Wir müssen mit ihm reden! Vielleicht weiß er, wie wir diesen Sch… äh … diese unglückselige Situation wieder gutmachen können.«

Ohne auf Kjuubs Antwort zu warten, fuhr sie herum und eilte zur Tür. Jedenfalls wollte sie es, aber vielleicht ging sie dabei ein wenig hastiger zu Werke, als es für einen Überhundertjährigen gut war, denn ihr wurde prompt ein bisschen schwindelig, und sie prallte so unsanft gegen den Tisch, dass eine der gläsernen Schalen umfiel und ihren Inhalt klirrend und scheppernd über den Boden ergoss. Es sah aus, als hätte es bunte Glassteine gehagelt.

Hastig bückte sich Rebekka danach – und erstarrte mitten in der Bewegung.

Was sie für buntes Glas gehalten hatte, war keines. Es waren Edelsteine: Diamanten, Saphire, Rubine und Smaragde!

Kjuub schüttelte hastig den Kopf. »Lass das Zeug einfach liegen«, sagte er. »Die Reinigungselfen können sich später um den Plunder kümmern.«

Rebekka starrte den Zwerg nur aus großen Augen an. »Plunder?«, ächzte sie. »Das sind echte Diamanten! Die sind ein Vermögen wert!«

»Bei euch vielleicht«, antwortete Kjuub abfällig. »Hier ist es wertloser Kram. Liegt an jeder Ecke rum.«

Rebekka starrte ihn noch einen Moment lang fassungslos an, aber dann steckte sie die Handvoll Steine kurzerhand ein und wandte sich endgültig (und deutlich vorsichtiger als das erste Mal) zur Tür. Wertloser Plunder oder nicht, sie hatte im Moment wirklich andere Sorgen.

»Aber die Inspektion!«, protestierte Kjuub, doch Rebekka beachtete ihn gar nicht mehr. Sie musste unbedingt mit Feuer sprechen.

Ärger in der Schule

Dasselbe Problem, nur andersherum, hatte Meister Themistokles genau in diesem Moment in einer Welt, die so weit von Märchenmond entfernt war, dass man bis zum Ende aller Zeit mit der Geschwindigkeit des Lichts hätte reisen können, ohne ihr auch nur nahe zu kommen, und die doch zugleich nur einen Gedanken entfernt lag.

Und er hatte nicht nur dieses Problem.

Sein zweites – und im Augenblick womöglich genauso großes – Problem saß ihm auf der anderen Seite eines altmodischen Schreibtisches gegenüber, hieß Felicitas Bienenstich und musterte abwechselnd ihn und Samantha vom Thal (sein drittes Problem, von dem er zumindest argwöhnte, dass es sich sogar als sein größtes herausstellen würde). Fräulein Bienenstich, von allen nur »Biene« genannt, blickte so finster, als überlege sie schon lange nicht mehr ob, sondern nur noch in welcher Reihenfolge sie ihnen die Köpfe abreißen sollte.

»Also, ich habe in meiner Zeit als Direktorin dieses Instituts schon eine Menge erlebt«, sagte sie gerade (zum ungefähr fünfzehnten Mal innerhalb genauso vieler Minuten), »aber so etwas noch nicht! Das ist ja wohl der dreisteste Fall von Unverschämtheit und Insubordination, der mir in meiner gesamten Laufbahn untergekommen ist! Was habt ihr euch nur dabei gedacht?«

Themistokles, der in Rebekkas Gestalt auf dem unbequemen Arme-Sünder-Stuhl vor Bienes Schreibtisch saß, so wie Rebekka umgekehrt in seiner Gestalt vor dem Spiegel in der Turmkammer stand, sagte vorsichtshalber gar nichts, während Samantha angestrengt die Stirn runzelte; wahrscheinlich, weil sie über das komplizierte Wort nachdachte, das Biene gerade benutzt hatte.

»Bevor ich die entsprechende Strafe verhänge«, fuhr Biene fort, »möchte ich wissen, was ihr euch dabei gedacht habt.«

»Strafe?«, entfuhr es Themistokles verblüfft. »Aber ich bitte Euch, hochwohlgeborene Scholastikerin! Ich bin mir keinerlei Schuld bewusst! Mitnichten habe ich mir irgendeine Verfehlung zuschulden kommen lassen!«

Biene blinzelte und Samantha starrte ihn an, als würden ihr gleich die Augen aus dem Kopf fallen.

Im allerersten Moment verstand Themistokles nicht, was überhaupt los war … bevor ihm wieder einfiel, dass sie ja nicht ihn sahen, sondern Rebekka.