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Jürgen Freimann
Das Märchen vom
gerechten Markt

Jürgen Freimann

Das Märchen vom
gerechten Markt

              Wie wir den
      homo oeconomicus
überwinden können

Tectum

Jürgen Freimann

Das Märchen vom gerechten Markt.
Wie wir den homo oeconomicus überwinden können

© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017

ISBN 978-3-8288-6676-8

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter

der ISBN 978-3-8288-3853-6 im Tectum Verlag erschienen.)

Umschlagabbildung: IS_ImageSource | istockphoto.com

Lektorat: Volker Manz

Alle Rechte vorbehalten

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind
im Internet über
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Eine lehrreiche Märchenstunde

Am 10. Dezember 1948 wurde die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen unterzeichnet – fast 70 Jahre ist das nun her. Ein Meilenstein in der jüngeren Menschheitsgeschichte. Viele Fortschritte hat es seitdem gegeben. Gegenwärtig erleben wir allerdings auch Rückschritte auf dem Gebiet der politischen und sozialen Menschenrechte. Im Namen der Terrorbekämpfung werden seit dem 11. September 2001 unsere Freiheitsrechte Stück für Stück abgebaut. Teilweise sind wir über George Orwell und sein Meisterwerk »1984« schon deutlich hinaus.

Und das ist nicht die einzige schlechte Nachricht: Unsere Gesellschaft wird in ihrer Gesamtheit immer reicher, aber gleichzeitig finden immer mehr Menschen mit ihrem Einkommen kein Auskommen mehr. Suppenküchen und Tafeln haben immer mehr zu tun. Der Graben zwischen denen, die viel und immer mehr haben, und denen, die wenig haben, wächst beständig.

Das ist kein Zufall. Immer mehr Lebensbereiche werden vom Markt und damit auch vom Geld gesteuert. Der Markt bestimmt über das Schicksal ganzer Gesellschaften. Er ist zu einer Art Religion geworden. Die von ihm versprochene Erlösung gibt es schon im Diesseits – aber längst nicht für alle. Der Markt sei effizient und gerecht, heißt es immer wieder, Widerstand daher sinnlos. Dieses Märchen ist eine echte Erfolgsgeschichte, wird sie doch vor allem von den wirtschaftlichen Eliten über diverse Kanäle pausenlos verbreitet. Im Märchen vom gerechten Markt kommen der Markt und seine »Gesetze« als unabänderlich geltende Naturerscheinungen daher, denen man sich zu fügen hat. Geht es nach den obersten Märchenerzählern, so sollen wir jeden Glauben an die autonome Gestaltungsmacht der Wirtschafts- und Sozialpolitik fahrenlassen.

Jürgen Freimann weiß: Solidarität zerfällt nicht von allein, sondern sie wird vielmehr gezielt zerstört. Damit bröckelt auch der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält und für ein friedliches Zusammenleben der Menschen sorgt. Jürgen Freimann hat ein wichtiges Buch geschrieben. Und ein höchst verständliches noch dazu. Er will Sie zum Handeln motivieren und intellektuell bewaffnen. Ob Menschen sich engagieren, organisieren, Widerstand leisten und an den Kämpfen ihrer Zeit mitwirken – oder dies eben nicht tun – hängt nicht ausschließlich, aber auch davon ab, wie jeweils der »Kampf um die Köpfe« ausgeht. Da der mangelnde Widerstand nicht gewaltförmig unterbunden wird – es werden keine Demonstrationen verhindert und niemand hält die Leute von der Wahlurne fern – muss ein gewichtiger Grund für die Schwäche des Protests im verlorenen »Kampf um die Köpfe« liegen.

Die Märchenerzähler haben den »Kampf um die Köpfe« gewonnen. Vorläufig, nicht endgültig. Für alle Menschen, die sich um unsere Gesellschaft Sorgen machen, ergibt sich daraus eine klare Handlungsanweisung: Es gilt den »Kampf um die Köpfe« anzunehmen. Konkret heißt das: aufklären, aufklären und nochmals aufklären. Die Geschichte zeigt: Sie verändert sich in dem Moment, in dem Menschen beginnen, für Veränderungen zu arbeiten und zu kämpfen. Freiheit, Gerechtigkeit, Umweltschutz oder Frieden sind nicht vom Himmel gefallen. Es gab in der Vergangenheit immer wieder viele Menschen, die sich erhoben haben und für diese Dinge gekämpft haben. So gäbe es heute ohne die Arbeiterbewegung nicht die (leider im Niedergang befindlichen) sozialen Sicherungssysteme. Ohne die Umweltbewegung gäbe es keine Umweltgesetze. Ohne die Frauenbewegung keine Frauenrechte. Und so mancher Krieg wäre ohne die Friedensbewegungen nicht so schnell beendet worden. Im Umkehrschluss bedeutet das: Das größte Kapital der Verteidiger des Status quo sind untätige Menschen, die glauben, nichts ändern zu können. Demokratie ist kein Zuschauersport.

 

Eupen, März 2017

Norbert Nicoll (Autor »Adieu Wachstum«)

Vorwort

»Wir haben uns heute hier versammelt, um eine neue Anordnung zu treffen, die in jeder Stadt, in jeder Hauptstadt anderer Länder gehört werden wird, in jeder Halle der Macht. … Von diesem Tag an heißt es Amerika zuerst, Amerika zuerst. Jede Entscheidung über den Handel, über Steuern, über Einwanderung, über die Außenpolitik wird so getroffen, dass sie amerikanischen Arbeitern und amerikanischen Familien nützt. Wir müssen unsere Grenzen schützen vor den Verwüstungen durch andere Länder, die unsere Produkte nachmachen, unsere Unternehmen stehlen und unsere Arbeitsplätze vernichten.«

 

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ies ist ein Zitat aus der Rede, die der neu gewählte US-Präsident Donald Trump am 20. Januar 2017 bei seiner Amtseinführung vor dem Kapitol in Washington hielt und die nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet den Beginn einer neuen Ära US-amerikanischer Politik eingeläutet hat. Denn sie bricht mit so ziemlich allem, was dieses mächtige Land bisher ausmachte. Populismus statt Werteorientierung, Abschottung statt Weltoffenheit, Protektionismus statt Freihandel, Selbstbezogenheit statt Interessenausgleich, Machtkonzentration statt Checks and Balances …

Trotz eines hektischen Amtsbeginns ist derzeit noch nicht recht absehbar, welches die Folgen im Einzelnen sein werden, die mit der Präsidentschaft Donald Trumps verbunden sind. Aber es scheint, dass nicht nur in den USA, sondern auch in einigen europäischen Ländern Kräfte Oberhand gewinnen, die der Errichtung neuer nationaler Beschränkungen das Wort reden und damit durchaus relevante Teile der jeweiligen Bevölkerung hinter sich bringen. Eine neue Ära des Primats der nationalen Politiken scheint anzubrechen und die Ära der weitgehend marktgesteuerten Globalisierung abzulösen.

Dabei schien noch bis weit in das Jahr 2016 hinein der Trend zur grenzen- und schrankenlosen Marktherrschaft ungebrochen. Diverse »Freihandelsabkommen« wurden verhandelt, wenn auch nur zu Teilen tatsächlich abgeschlossen. Es gab nicht nur diffuse nationalistische Vorbehalte gegen diese Entwicklung, sondern zahlreiche Vorbehalte gerade auch jener Teile der Zivilgesellschaft, die ansonsten für Weltoffenheit, individuelle Freiheit und Gerechtigkeit eintreten und sich der interkulturellen Verständigung und Zusammenarbeit zwischen allen Völkern der Welt verpflichtet wissen. NAFTA, CETA, TTIP und ihresgleichen waren und sind für Bürgerrechtsorganisationen, Gewerkschaften, Umweltschützer nicht die angemessenen Formen eines ausgewogenen Interessenausgleichs zwischen den Ländern dieser Welt, sondern Zeichen der Unterwerfung der Zivilgesellschaften unter das Diktat der multinationalen Konzerne.

Ich sehe in den sogenannten Freihandelsabkommen die konsequente Umsetzung der neoliberalen wirtschaftspolitischen Doktrin, nach der Märkte alles besser können als andere Formen der gesellschaftlichen Koordination. Deshalb seien Märkte auch dort zu errichten und zu schützen, wo sie bisher noch eingeschränkt werden oder gar nicht vorhanden sind. Unter der Regie der globalen Finanzmärkte ist diese Doktrin seit langem die vorherrschende wirtschaftspolitische Kraft. Diese Entwicklung wird durch den neuen Nationalismus vielleicht etwas gebremst, aber nicht aufgehalten werden. Im Gegenteil: Trump, May und Co. sind eher Manager, die Länder wie Unternehmen führen. Sie werden daher vielleicht neue Akzente setzen, aber die unbegrenzte globale Marktherrschaft substantiell aufhalten können nur der Widerstand und die Kreativität der Zivilgesellschaft.

Damit Sie die Zusammenhänge besser beurteilen können, habe ich dieses Buch geschrieben. Es handelt vom Markt, der sich seit der Jahrtausendwende fast alle Lebensbereiche unterwirft, immer mehr und immer schneller, neuerdings mit Freihandels- und Investorenschutzabkommen. Aus dem Markt als nützlichem Diener der Menschen wird der totale Markt, der sich unser Leben unterwirft und unsere Gesellschaften spaltet, anstatt sie in gerechter Weise mit dem zu versorgen, was wir zu einem guten Leben brauchen. Das Buch beschreibt, welche Auswirkungen diese Entwicklung für die Menschen, Gesellschaften und Staaten hat. Es prüft, ob der Nutzen oder die Schäden überwiegen. Und es fragt nach den Alternativen, auch danach, was jede und jeder von uns selbst dazu beitragen kann, dem allzu gefräßigen Wirken des Marktes Grenzen zu setzen.

Dabei geht es mir auch darum, Sie persönlich zu aktivieren. Denn jeder Einzelne von uns kann sich dem totalen Zugriff des Marktes entziehen. Wir selbst sind es, die sich unterwerfen – oft ohne darüber nachzudenken. Widerstand ist möglich. Und er ist nötig, wenn wir gut und selbstbestimmt leben wollen.

Hannover, im Februar 2017

Jürgen Freimann

Inhalt

Geleitwort von Dr. Norbert Nicoll

Vorwort

Das Märchen von Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand

Wohlstand für alle?

Arbeitsteilung, Wettbewerb und Fortschritt

Homo oeconomicus

Annäherungen an die Wirklichkeit

Internationaler Handel

Gegenrede

Wie die Märkte wurden, was sie sind

So fing es an

Frühe Märkte

Technikentwicklung

»Bauernbefreiung« und neue Abhängigkeiten

Wohnen zur Miete

Marktfreiheit

Widerstände und Reformen

Außermarktliche Daseinsvorsorge

Staatlich regulierte Marktwirtschaft

»Neue« Märkte

Markt statt Gemeinwirtschaft

Rundfunk und Fernsehen

Verkehrswesen

Konzerne machen Märkte

Mobiltelefonie

»Nestlé tötet Babys in der Dritten Welt«

Zum Charakter von Märkten und Marktbeziehungen

Wer profitiert wirklich?

Ausgangsbedingungen

Wenn alle gleich wären …

Faire Preise?

Wer weiß schon, was er wirklich kauft

Wie der Wettbewerb sich selbst beseitigt

Internet schafft Monopole

Marktfolgen

Soziale Marktfolgen

Krippe statt Eltern?

Wider den totalen Markt

Markt und Ökologie

Die Rolle der Produzenten

Die Rolle der Konsumenten

Wir Marktgeschöpfe

Menschenbilder

Mensch macht Markt – Markt macht Mensch

Märkte, Wohlstand, Glück

Märkte machen frei

An Märkten wird gelogen

Märkte machen abhängig

Wenn Märkte kollabieren

Märkte grenzen aus

Märkte machen bequem

Internationaler Handel, Globalisierung, CETA, TTIP und Co.

Fürsten errichten Zölle

Internationaler Handel nach dem Zweiten Weltkrieg

Globalisierung

Internationaler Binnenmarkt: Die Europäische Union

Freihandel: Der Starke besiegt den Schwachen

Vorbild NAFTA

CETA – TTIP »light«?

TTIP – Was dürfen wir erwarten?

Die Optionen der Populisten

Gut leben statt viel haben wollen

Grundlinien

Märkten Grenzen setzen – das Gemeinwesen aktiv gestalten

An Märkten verantwortlich handeln

Weniger ist mehr

Konzepte

Bedingungsloses Grundeinkommen

Vollgeld

Tobin-Steuer

Verhinderung von Steuerflucht

Beispiele

Regionalwährungen

Tauschringe

Güter gemeinsam nutzen – Sharing economy

Verwertungsnetze

»Cradle to cradle«

LOHAS

Social Business

Gemeinwohlbilanz

Urban Gardening

Reparaturcafés

Dumpsterer

Transition Towns

Und ich?

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Endnoten

Das Märchen von Freiheit,
Gerechtigkeit und Wohlstand

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iberté, Égalité, Fraternité – »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« skandierten die revolutionären Massen auf den Straßen von Paris beim Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789. Damit läuteten sie wie die Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika bereits am 4. Juli 1776 auch in Europa die Ablösung der Feudalherrschaft von Fürsten und Königen ein. Seinen schriftlichen Niederschlag fand der Wahlspruch mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789. Bis heute bildet er die ethische Grundlage demokratischer Gesellschaften. In der UN-Menschenrechtscharta, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen und verkündet wurde, findet er sich festgeschrieben und ausdifferenziert.

Bis heute erzählen uns die Ökonomen dazu ein Märchen. Und das geht so:

Freiheit und Gleichheit sind auch die geistigen Grundlagen der Marktwirtschaft. Märkte sind Orte, an denen freie und gleichberechtigte Menschen aufeinandertreffen und zu ihrem gegenseitigen Vorteil Beziehungen miteinander eingehen. Nicht die Macht des Staates, sei er repräsentiert durch Feudalherren, Diktatoren oder demokratische Regierungen, sondern die freie Entscheidung der Einzelnen bestimmt darüber, ob, mit wem und zu welchen Bedingungen Wirtschaftssubjekte (so heißen Marktakteure im Jargon der Ökonomie) Geschäfte miteinander machen. Und das in gerechter Weise, zum Nutzen für alle Beteiligten. Brüderlichkeit – Rücksichtnahme auf die Belange der anderen Marktakteure –, die dritte Maxime der Französischen Revolution, braucht es dann am Markt gar nicht mehr. Im Gegenteil: Marktakteure dürfen blanke Egoisten sein. Sie sollen es sogar sein, denn jeder Marktakteur geht nur die Beziehungen ein, die für ihn selbst von Vorteil sind. Dennoch richtet sich alles zum Besten für alle. Denn die »unsichtbare Hand« des Marktes bewirkt, dass am Ende alle den größtmöglichen Vorteil aus dem freien Spiel der Marktkräfte ziehen.

Der Erste, der dieses Märchen aufschrieb, war der »Vater« der Marktwirtschaft, der englische Moralphilosoph und Ökonom Adam Smith. In seinem 1776 erschienenen Werk Der Wohlstand der Nationen beschreibt er die Segnungen des Marktsystems so: »Wenn … jeder Einzelne so viel wie nur möglich … sein Kapital … so lenkt, dass sein Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten lässt, dann bemüht sich auch jeder Einzelne ganz zwangsläufig, dass das Volkseinkommen im Jahr so groß wie möglich werden wird. … Indem er seine eigenen Interessen verfolgt, fördert er oft diejenigen der Gesellschaft auf wirksamere Weise, als wenn er tatsächlich beabsichtigt, sie zu fördern.«1

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Abb. 1: »Vater der Marktideologie«: Der Moralphilosoph Adam Smith (1723–1790)

Wohlstand für alle – Da darf man schon mal fragen: Wie soll das gehen?

Es ist der Marktmechanismus, der sowohl zu einem Ausgleich von Angebot und Nachfrage als auch zu einem Maximum an Wohlstand für alle führt. Denn es gibt viele Anbieter und Nachfrager, die an Märkten aufeinandertreffen. Und sie handeln so, dass sie in Abhängigkeit vom Preis bestimmte Mengen anbieten bzw. nachfragen, wobei die Angebotsmengen mit steigendem Preis steigen, die Nachfragemengen dagegen mit steigendem Preis sinken. Die Anbieter einer Ware werden ihr Angebot so lange erhöhen und die Nachfrager nur so lange Waren nachfragen, bis der Marktpreis erreicht ist. Hier kommen Angebot und Nachfrage zum Ausgleich, und es wird genau diejenige Menge erreicht, die als Gleichgewichtsmenge den Markt räumt. Allen Marktakteuren ist optimal gedient, keiner wird übervorteilt, und alle sind wohlhabender, als wenn sie nicht miteinander in Beziehung getreten wären. Denn es kommen nur diejenigen Anbieter auf ihre Kosten, die die Leistungen am günstigsten erbringen.

Dieser Märchen-Markt repräsentiert im wirtschaftlichen Raum genau die Vorstellungen von Demokratie, die die Revolutionäre des ausgehenden 18. Jahrhunderts auf ihre Fahnen geschrieben hatten, um sie im politischen Raum gegen die Feudalherren durchzusetzen. Er setzt auf wirtschaftlichem Gebiet das um, was allgemeine freie Wahlen und Gewaltenteilung auf politischem Gebiet bewirken: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Er ist der Garant einer gerechten Welt.

Es gibt allerdings einen nicht ganz unwesentlichen Unterschied: Der Citoyen, der politische Bürger, ist ein Akteur, der in seinem politischen Handeln nicht vorrangig sein persönliches Interesse verfolgt, sondern willentlich dem Allgemeinwohl dient. Der Marktakteur dagegen hat stets nur sein persönliches Interesse im Auge, kann aber am Markt gar nicht verhindern, dass er durch seine Marktaktivitäten immer auch dem Gemeinwohl dient.

Was aber macht das Gemeinwohl aus? Der Begriff meint nicht etwa so etwas wie soziale Harmonie. Er wird rein ökonomisch definiert: Das Gemeinwohl ist identisch mit dem Volkseinkommen, einem Geldbetrag, der das von Inländern im Laufe eines Jahres aus dem In- und Ausland bezogene Einkommen darstellt. Es setzt sich aus Arbeits- und Vermögenseinkommen zusammen. Wer Geld gegen Zins verleiht, trägt danach genauso zum Gemeinwohl bei wie derjenige, der für Geld arbeitet. Wer Geld verschenkt oder vererbt oder wer unentgeltlich arbeitet, leistet dagegen keinen Beitrag zum Volkseinkommen – und damit auch nicht zum Gemeinwohl. Die Haushälterin, die einem alleinstehenden Mann die Hemden wäscht und bügelt, erhöht das Gemeinwohl. Die Ehefrau oder Freundin, die das Gleiche tut, dagegen nicht.

Je höher das Geldeinkommen einer Gesellschaft, heißt es, desto höher auch ihr Wohlstand. Wohlstand bemisst sich also allein in käuflichen Gütern und Leistungen. Alles, was nicht käuflich zu erwerben ist, bleibt bei dieser Betrachtung außen vor. Auch die Verteilung des Volkseinkommens bleibt unberücksichtigt. Eine Volkswirtschaft, in der sehr wenige sehr viel Einkommen und viele wenig haben, ist danach genauso wohlhabend wie eine Volkswirtschaft, deren Mitglieder alle etwa über das gleiche Geldeinkommen verfügen. Wie gut es den Menschen tatsächlich geht und ob sie auskömmlich miteinander leben, darüber sagt also das Volkseinkommen so gut wie nichts aus.

Arbeitsteilung, Wettbewerb und Fortschritt

Das Märchen geht noch weiter: Märkte als Verbindungsglieder zwischen Individuen führen außerdem zu einer sinnvollen Arbeitsteilung und zu stetigem Fortschritt. Denn sie veranlassen diejenigen, die etwas besser können als andere, dazu, sich auf diese Tätigkeit zu spezialisieren. So muss nicht jeder alles, was er zum Leben benötigt, mühevoll selbst herstellen. Er kann sich auf das beschränken, was ihm am leichtesten von der Hand geht. Die Ergebnisse dieses Tuns verkauft er an andere. Mit dem erzielten Geldeinkommen kauft er die Produkte und Leistungen anderer Spezialisten und erhöht so seinen Wohlstand. Im Ergebnis macht jeder das, was er am besten kann. Das führt dazu, dass es am Ende allen besser geht, als wenn sie für ihren Lebensunterhalt allein sorgen müssten.

Gesellschaftlicher Fortschritt entsteht dadurch, dass nicht nur ein Spezialist auftritt, sondern mehrere, die in Konkurrenz zueinander Angebote erbringen und um die Gunst der Nachfrager buhlen. Die Konkurrenz zwingt jeden Anbieter dazu, seine Leistungen immer weiter zu verbessern und Kosten einzusparen, um gegenüber den Wettbewerbern Vorteile zu erlangen. Insofern ist der Markt zugleich kraftvoller Motor für Innovationen. Anbieter, die nicht mehr wettbewerbsfähig sind, verlieren an Attraktivität und scheiden letztendlich aus dem Markt aus. Nur die attraktivsten und effizientesten Leistungsangebote können sich halten. Da diese Prozesse auf allen Märkten stattfinden, ist so allen Mitgliedern der Volkswirtschaft optimal gedient. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch so richtig in Saus und Braus … Sogar das übliche Ende eines Märchens passt an dieser Stelle.

Homo oeconomicus

Was aber sind das für Figuren, die in diesem Ökonomie-Märchen auftreten? Sind das lebendige Wesen wie du und ich? Nicht wirklich, denn es handelt sich, wie im richtigen Märchen auch, um ausgedachte Wesen. Im Ökonomie-Märchen sind es aber nicht der gestiefelte Kater oder der Wolf mit den sieben Geißlein. Es ist der Wirtschaftsmensch, auch Homo oeconomicus genannt.

Dieser eigenartige Bursche ist nicht nur ein knallharter Egoist, der nur seinen persönlichen Vorteil im Sinn hat. Er ist auch ein Genie mit der besonderen Fähigkeit, alles, was er tut und was ihm angeboten wird, ohne weiteres in Geld zu bewerten. Als Unternehmer maximiert dieser Homo oeconomicus seinen Gewinn, als Konsument maximiert er seinen Nutzen.2 Zudem hat er den totalen Durchblick: Er verfügt – im einfachen Marktmodell – über vollständige Informationen, das heißt, er kann alle seine Handlungsmöglichkeiten umfassend beurteilen, ohne dass ihm für die Informationsbeschaffung Kosten entstehen. Er entscheidet und handelt, ohne dafür Zeit zu brauchen (also mit einer sogenannten unendlichen Reaktionsgeschwindigkeit). Seine Vorlieben (Präferenzen) sind stets gleich, verändern sich nie. Er selbst wie auch seine Marktpartner haben keinen Einfluss auf den Marktpreis, sondern können nur die von ihnen angebotene beziehungsweise nachgefragte Menge nach Maßgabe des Marktpreises anpassen.

All dies sind, wie die meisten Ökonomen zugeben, völlig unrealistische Annahmen: Kein wirklicher Mensch ist ein harter Egoist und Nutzen- oder Gewinnmaximierer, schon weil das rechnerisch unmöglich ist. Die Beschaffung von Marktinformationen ist mit Kosten verbunden. Entscheiden und Handeln kostet Zeit. Vorlieben sind alles andere als stabil. Und egal um welchen Markt es sich handelt, fast immer versuchen die Marktakteure, den Preis zu beeinflussen. Trotzdem wird dieses Märchen an den Schulen, Fachhochschulen und Universitäten weiterhin eifrig erzählt und auswendig gelernt. Es stelle das Prinzip gut dar, nach dem Märkte funktionieren, heißt es. Tatsächlich soll es vor allem den Eindruck erwecken, die Ökonomik sei eine exakte Wissenschaft, die wie die »echten« Naturwissenschaften auch rechenbare und daher »objektive« Ergebnisse zu liefern in der Lage ist. Die Ökonomen seien daher »richtige« Wissenschaftler wie die anderen auch.

Annäherungen an die Wirklichkeit

Weil aber alle Grundannahmen dieses Märchens in Wirklichkeit nicht zutreffen, hat die Ökonomik nach und nach einige der unrealistischen Annahmen aufgegeben und differenziertere Modelle entwickelt. Sie unterscheidet je nach der Zahl und dem tatsächlichen Verhalten der Anbieter bzw. Nachfrager zwischen verschiedenen Marktformen. Sie erkennt an, dass das Grundmodell nur für das sogenannte Polypol zutrifft, also dann, wenn sich viele Anbieter und viele Nachfrager gegenüberstehen. Sie untersucht die Transaktionskosten, die Marktakteure auf sich nehmen müssen, um Informationen zu beschaffen und miteinander in Kontakt zu kommen. Sie betrachtet dabei auch asymmetrische Informationen, bei denen der Verkäufer genauere Informationen über das Angebot hat als der Nachfrager. Auch die Annahme, Marktakteure seien bloße Wirtschaftsmenschen, die stets danach trachten, Gewinn oder Nutzen zu maximieren, wird zunehmend infrage gestellt und durch realistischere Axiome ersetzt.

Dennoch: Die allermeisten Ökonomen sind nach wie vor davon überzeugt, dass Märkte sehr effiziente und am Ende gerechte gesellschaftliche Koordinationsinstanzen sind, die in so vielen Bereichen wie möglich errichtet werden sollten, um dem »Wohlstand der Nationen« zu dienen. Grundlage dieser Überzeugung ist das alte Märchen vom Markt, das ein durch und durch harmonisches Bild der Marktbeziehungen zeichnet und einen fairen Interessenausgleich behauptet.

Internationaler Handel

Scheinen dem Markt und seinen Segnungen keine Grenzen gesetzt, so ist es nur folgerichtig, dass mit Blick auf den Handel zwischen verschiedenen Ländern das Märchen auch in einer internationalen Variante erzählt wird. Schon die Väter der Marktwirtschaft sprachen ihm nicht zuletzt für die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen verschiedenen Ländern Geltung zu und wandten sich entsprechend gegen Zölle und andere politisch motivierte Handelshemmnisse. Die durch Märkte vermittelte internationale Arbeitsteilung steigere den Wohlstand aller beteiligten Länder.

Neben Adam Smith war dies insbesondere sein Landsmann David Ricardo.3 Es liegt auf der Hand, dass sich ein Land beispielsweise auf den Anbau von Bananen spezialisiert, wenn dort Bananen besonders gut wachsen und die Menschen in anderen Ländern die Bananen gerne essen. Oder allgemeiner, wenn Produkte und Leistungen kostengünstiger oder hochwertiger hergestellt werden können, weil zum Beispiel Bodenschätze leichter verfügbar sind, klimatische Bedingungen besonders günstig sind oder sich besser ausgebildete Arbeitskräfte vor Ort finden.

Ricardo dagegen formulierte die These, dass internationaler Handel allen beteiligten Ländern auch dann Vorteile bringe, wenn in einem Land alle Produkte günstiger hergestellt werden können als in einem anderen. Dann sollte sich jedes Land auf die Produktion der Güter konzentrieren, die es relativ günstiger herstellen kann, und an das jeweils andere Land verkaufen, um von ihm die Güter zu kaufen, die dieses Land seinerseits relativ günstiger herzustellen vermag. Die These hat als »Theorie der komparativen Kostenvorteile« Eingang in die Literatur gefunden und diente immer wieder dazu, die bis heute bestehenden politischen Schranken für den internationalen Handel zu bekämpfen. Wir werden darauf zurückkommen, ob dies so uneingeschränkt zutrifft oder gar den gesamten internationalen Handel zutreffend erklären kann. Denn tatsächlich wird auch dieser Handel ja zumeist nicht von Staaten betrieben, die damit notwendige Staatsleistungen für ihre Bürger finanzieren, sondern von Unternehmen, die Gewinne für sich selbst erzielen wollen. Und gehandelt werden beispielsweise Autos, Maschinen, Textilien oder auch Finanzprodukte, die eigentlich überall auf der Welt hergestellt werden können.

Fassen wir also einmal zusammen:

In der idealisierten Märchenwelt gelten Märkte als äußerst effiziente Koordinationsinstanzen für die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Menschen, Unternehmen und Staaten, die ohne jeden Zwang zu einem fairen Interessenausgleich führen. Die Folge ist, dass es jedem der beteiligten Marktakteure besser geht, als wenn er auf die Markttransaktion verzichtet hätte. Marktbeziehungen basieren auf Freiwilligkeit, denn keiner der Marktakteure ist gezwungen, mit einem bestimmten Anderen solche Beziehungen einzugehen. Sollte er doch einmal bereuen, einer Transaktion zugestimmt zu haben, kann und wird er diese nicht wiederholen.

Marktakteure gehen nur dann Beziehungen ein, wenn sie sich einen Vorteil davon versprechen. Sie sind gleichberechtigt und tauschen zu Bedingungen, denen jeder von ihnen freiwillig zustimmt. Weil sie auf diese Weise ihre Situation verbessern und dies für alle gilt, wird sowohl der individuelle als auch der gesamtwirtschaftliche Wohlstand erhöht. Das gilt auch im internationalen Handel: Alle profitieren, keiner erleidet Schaden.

Für die Verteilung der Aufgaben an die verschiedenen Mitglieder einer Gesellschaft braucht es keine übergeordnete Instanz, die jedem seine Tätigkeiten zuweist und dabei Willkür walten lässt. Die Konkurrenz bewirkt, dass nur diejenigen als Anbieter auftreten, die über spezielle Fähigkeiten verfügen, und von ihnen nur die Besten dauerhaft bestehen können. Der Anbieter, der sein Angebot am attraktivsten gestaltet, wird mehr Nachfrage auf sich ziehen als seine Konkurrenten. Wettbewerber, die nicht mithalten können, verschwinden vom Markt. Auf der Nachfrageseite haben diejenigen Vorteile, die aufgrund ihrer persönlichen Nutzenbewertung die höchste Zahlungsbereitschaft aufbringen. Wir sehen: Auch hier nur Freiwilligkeit, keinerlei Zwang.

Mehr noch: Im Zeitablauf treten neue Anbieter auf, oder die vorhandenen versuchen, ihre Konkurrenten durch Neuentwicklungen zu übertreffen. Ständiger Fortschritt ist die Folge, wobei es die Nachfrager in der Hand haben, mit ihren Kaufentscheidungen gleichsam darüber abzustimmen, welchen Fortschritt sie wollen und welchen nicht. Auch hier also »Konsumenten-Demokratie«, keinerlei »Zwangsbeglückung«. Und was für einzelne Volkswirtschaften gilt, trifft auch für die internationalen Beziehungen zu. Märkte regeln den Interessenausgleich ohne Zwang, gewaltlos und gerecht, und sie tun dies zum Vorteil der Menschen in den beteiligten Ländern.

Staaten spielen in dieser Märchenwelt der Marktwirtschaft nur eine untergeordnete Rolle. Sie lassen im Wesentlichen den Märkten alle Freiheit, die diese benötigen, um den Wohlstand ihrer Bürger optimal zu fördern. Sie sorgen lediglich dafür, dass insbesondere der rechtliche Rahmen, in dem Märkte ihr Wirken entfalten, dieses Wirken angemessen stützt und schützt. Sie gewährleisten Vertragsfreiheit und Handelsfreiheit, nehmen Abstand davon, einzelne Marktakteure zu bevorteilen oder zu benachteiligen, und schaffen Rahmenbedingungen, damit sich die Marktteilnehmer optimal entfalten können. Und sollten sie einmal ihre engen Grenzen überschreiten, dann sorgen die Marktakteure dafür, dass sie sich wieder zurückziehen und den Märkten die Herrschaft überlassen. Genau das beabsichtigen diejenigen, die sich vehement für TTIP und andere vermeintliche »Freihandels«-Abkommen einsetzen: Nur so viel Staat, wie gerade noch nötig ist, dagegen so viel Markt wie möglich. Wie beim Metzger: Es darf ruhig ein bisschen mehr sein.

Gegenrede

Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich viele dieser Thesen für unzutreffend halte, für Märchen eben. Und weil ich darüber hinaus der Auffassung bin, dass unser Leben als Marktteilnehmer auch mit Folgen verbunden ist, die die Marktideologie völlig ausblendet, vor allem mit

einer fortschreitenden gesellschaftlichen Spaltung auf nationaler und internationaler Ebene,

einer Grenzenlosigkeit bis hin zur Zerstörung unserer Lebensgrundlagen,

der Schaffung extremer Abhängigkeiten,

der Verkümmerung persönlicher Fähigkeiten und

dem Abbau von solidarischen sozialen Beziehungen zugunsten marktinduzierter Konkurrenz.

In den folgenden Kapiteln möchte ich den Nachweis dafür erbringen. Vor allem aber möchte ich davor warnen, dass wir uns immer noch weiter der Herrschaft der Märkte unterwerfen. Märkte müssen wieder in den Dienst des guten Lebens gestellt werden, nicht umgekehrt das Leben in den Dienst vermeintlich selig machender Märkte. Denn als Herrscher entfalten sie fatale Wirkungen.

Wie die Märkte wurden, was sie sind

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ärkte gibt es nicht bereits seit Adam und Eva. Märkte wurden und werden von Menschen gemacht. Sie sind Geschöpfe einer langwierigen kulturellen Entwicklung, die auch heute keineswegs zum Stillstand gekommen ist, sondern unter anderem durch die Möglichkeiten des Internets tief greifende Veränderungen erlebt.

Das sehen auch die Ökonomen so. Aber wieder vereinfachen sie gnadenlos. So zum Beispiel Adam Smith. Er unterstellt allen Menschen die natürliche Neigung, »zu tauschen, … eine Sache gegen eine andere hinzugeben.«4 Daher, so sagt er, spezialisieren sie sich auf eine bestimmte Tätigkeit und können dann mehr herstellen, als sie selbst und ihre Angehörigen verbrauchen können. Diesen Überschuss tauschen sie mit anderen, die etwas übrig haben, was sie selbst gern hätten. Und weil es oft recht schwierig ist, einen solchen Tauschwilligen zu finden, nehmen sie Geld zu Hilfe, um den Tauschvorgang zu erleichtern. So entstehen Märkte, sagen die Ökonomen, früher, heute und in aller Zukunft.

Wieder ist es ein simples unhistorisches Menschenbild, das sie ihren Überlegungen zugrunde legen. Wieder entsprechen die Verhältnisse, wie sie an Märkten herrschen, der unveränderlichen »Natur des Menschen«. Als ob es die wirklich gäbe!

Zwar ist es tatsächlich viel einfacher, den Tauschakt Ware gegen Ware in zwei getrennte Vorgänge zu teilen und Geld als allgemeines Tauschmittel dazwischenzuschalten. Bei der historischen Entwicklung von Märkten als regelmäßigen Einrichtungen ist es aber in Wirklichkeit wesentlich komplizierter zugegangen. Da waren verschiedene Macher beteiligt, die mehr als andere von der Errichtung von Märkten profitieren konnten. Und es hat ziemlich lange gedauert, bis Märkte zu dem geworden sind, als was wir sie heute kennen. Von den Machern soll in diesem Kapitel die Rede sein.

Wer die heutigen Märkte richtig beurteilen will, kommt kaum um einen kurzen Ausflug in die Marktgeschichte herum, auch wenn manche in Erinnerung an ihre Schulzeit Geschichte eher als trockene und langweilige Angelegenheit empfinden. Das ist sie keineswegs, vielmehr hilft sie uns zu verstehen, dass vieles schon einmal ganz anders war und daher auch wieder ganz anders werden kann, als es heute ist. Die Geschichte zeigt: Nichts ist alternativlos.

So fing es an

Wer die Komplikationen des reinen Gütertausches vermeiden will, braucht für das Handeln an Märkten Geld. Geld als Zahlungsmittel, das potenziellen Käufern in Form von Geldeinkommen zur Verfügung steht, ist für den Tausch Ware gegen Geld unabdingbar. Allerdings lebten unsere Vorfahren sehr lange ohne Geld, genauer: in einer Subsistenzwirtschaft, wie man die Selbstversorgung auch nennt. Sie hatten nur die Lebensmittel zur Verfügung, die sie selbst herstellen konnten. Nur am Rande hatten sie hier und da Gelegenheit, eventuelle Überschüsse gegen Dinge zu tauschen, die ihre Nachbarn übrig hatten. Bis heute leben noch über 40 Prozent der Menschen weltweit in solchen Zusammenhängen, kommen also kaum mit Geld und Märkten in Kontakt. Nach unseren Maßstäben sind diese Menschen arm. Tatsächlich haben sie lediglich kein Geldeinkommen, sind aber nicht selten glücklicher als wir Marktmenschen.

In der europäischen Geschichte bestand die Subsistenzwirtschaft bis ins Mittelalter. Hier konnten die zumeist leibeigenen Bauern – Landwirtschaft war die nahezu ausschließliche wirtschaftliche Betätigung – oft nicht einmal selbst entscheiden, womit sie ihr Tagewerk verbrachten, sondern mussten erzwungene Fronarbeit für ihren Herrn leisten. Geld kam auch in dieser Form der Wirtschaft nicht vor.

Bevor die Bauern also als regelmäßige Verkäufer oder Käufer von Waren auftreten konnten, mussten sie über Geld verfügen. Das verschafften ihnen, allerdings ohne sie vorher zu fragen, zuerst vor allem die Kirchenfürsten. Sie erkannten, dass es wesentlich leichter war, die Bauern zum Arbeiten zu bringen, wenn sie sie nicht länger zur Fronarbeit heranzogen. So gingen sie zuerst dazu über, den »Zehnten« in Form von Naturalabgaben zu verlangen, später dann als Geldabgabe. So zwangen sie die Bauern, zumindest einige Produkte ihrer Arbeit auf den Märkten gegen Geld zu verkaufen, um die Geldabgabe leisten zu können.

Nicht aus angeborener Lust zu tauschen, sondern wegen des Zwangs zur Geldabgabe an die Kirche – und später auch die weltlichen Fürsten – wurden Bauern zu Verkäufern von Lebensmitteln. Immer mehr Märkte entstanden, an denen Verkauf und Kauf gegen Geld stattfand. Die mittelalterlichen Feudalherren waren somit historisch gesehen diejenigen, die die Entstehung und Verbreitung von Märkten maßgeblich förderten. Nicht weil ihnen jemand das Märchen vom Markt erzählt hätte, sondern weil sie sich mithilfe der Geldabgaben von der Zwangsaufsicht über ihre Leibeigenen und von der heimischen Lebensmittelversorgung unabhängig machen konnten. Sie profitierten, die Bauern hingegen gerieten nur in eine neue Form der Anhängigkeit.

Für die beteiligten Menschen blieb diese Entwicklung nicht folgenlos. Sie ließ einen Freiheitsdrang entstehen, der sich unter anderem in Bauernkriegen Luft machte. Und sie formte aus Leibeigenen Individuen, die wachsenden Wert auf persönliche Eigenständigkeit legten und sich nicht mehr nur als abhängige Glieder von Familien und Dorfgemeinschaften fühlten. Das Geld veränderte die Menschen und förderte Konkurrenz anstelle von Solidarität.

Tatsächlich hat es Tausch und Geld nicht erst im europäischen Mittelalter gegeben; schon früher waren sie vor allem in Form wertvoller Gaben und Gegengaben zwischen Stämmen und Clans in archaischen Gesellschaften oder in Form von besoldeten Kriegsdiensten aufgetreten. Freiwillige Gaben und Gegengaben waren dabei jedoch vor allem Ausdruck gesellschaftlicher Ehrerbietung, weniger formale Tauschakte. Ein Stamm drückte seine Ehrerbietung durch die Gabe aus in der Erwartung, dass sie durch eine Gegengabe erwidert wurde. Dabei hatten die Gaben stets einen eigenen Sachwert. Geld, wie wir es heute kennen, dessen Sachwert gering und dessen Tauschwert nur in seiner Anerkennung als allgemeines Zahlungsmittel besteht, war unbekannt. Gaben waren zudem stets Gesten im Namen des gesamten Stammes, Clans oder dergleichen, deren Mitglieder sich als Teil einer Gemeinschaft, noch nicht als Individuen verstanden.

Frühe Märkte

Frühe Formen der Marktwirtschaft, in denen eine größere Zahl von Menschen zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts auf Geldeinkommen als Tauschmittel angewiesen war, setzten sich erst im europäischen Mittelalter durch. Die bis dahin leibeigenen Bauern verließen ihre Herren und suchten in den »freien« Städten Zuflucht. Sie schlossen sich den Zünften der Handwerker an oder fanden mit Geld entlohnte Arbeit. Dadurch konnten sie immer weniger Dinge, die sie und ihre Familien zum Leben brauchten, selbst anbauen oder herstellen. Sie waren auf die Versorgung durch Märkte angewiesen.

Der Gelderwerb war dabei zunächst vor allem Mittel zum Zweck. Die Menschen arbeiteten für Geld, bis sie genug zusammen hatten, um damit Materialien, Produktionsmittel und die zum Leben notwendigen Dinge zu kaufen. Geld wurde als Tauschmittel gebraucht, als vorrangiger Zweck des wirtschaftlichen Handelns diente es nicht. Der Reichtum der Fürsten manifestierte sich im Prunkwert der Dinge, die sie anhäufen konnten, sowie im Geldvermögen, mit dem sie mit bezahlten Söldnern Kriege führen konnten, damals wie heute natürlich nur »Verteidigungskriege«.

Händler, die für Geld seltene Waren aus fernen Ländern herbeischafften, und Geldverleiher, die Fürsten mit Geld versorgten, waren die Ersten, für die das Geld ins Zentrum ihres wirtschaftlichen Handelns rückte. Sie brauchten Geld, um Expeditionen zu Lande oder zu Wasser ausrüsten oder als Kredit gegen Zins verleihen zu können. Als Händler mussten sie mit dem Verkauf der auf diesen Wegen beschafften Waren mehr Geld erlösen, als sie verauslagt hatten. Als Bankiers betrieben sie das reine Geldgeschäft, zahlten Zins für Geldguthaben ihrer Kunden und verliehen es für mehr Zins an andere. Im Gegensatz zu den städtischen Handwerkern, deren Geldbedarf durch die Menge der Güter begrenzt war, die sie zum Leben brauchten, war das Geldstreben der Händler und Geldverleiher unbegrenzt. Je mehr finanziellen Überschuss sie erwirtschafteten, desto mehr konnten sie neue Waren kaufen oder neues Geld verleihen.

Die wirklichen Macher der geldzentrierten Marktwirtschaft waren also Händler und Bankiers, die nicht nur die Fürsten, sondern in wachsendem Umfang auch die normalen Menschen von sich und der von ihnen geleisteten Markt- und Geldversorgung abhängig machten. Die Freiheit der Städter von den Fürsten bedeutete auch für sie eine wachsende Abhängigkeit von Geldeinkommen und Marktversorgung. Weltliche und klerikale Fürsten auf der einen Seite, Händler und Bankiers auf der anderen versprachen Freiheit und schufen damit neue Formen von Abhängigkeit.

Technikentwicklung

Landwirtschaft und Handwerk sind, solange Transporte mühsam und langwierig sind, räumlich eng begrenzt. Sie versorgen einzelne Städte oder Regionen. Beruhen sie auf Handarbeit, sind auch die Mengen an Waren begrenzt, die sie hervorbringen. Wirtschaftliches Wachstum, wie es nach Ansicht heutiger Ökonomen unerlässlich ist, war der mittelalterlichen Wirtschaft wesensfremd.

Erst die technische Entwicklung brachte diese weitgehend stationäre Form des Wirtschaftens in Schwung. Hinzu kam ein vorher durch Krankheiten und Seuchen stark begrenztes, nun aber im Zuge des medizinischen Fortschritts immer dynamischeres Bevölkerungswachstum. Damit ging das Mittelalter zu Ende und läutete den Beginn der Neuzeit und mit ihr die Entwicklung einer immer mehr von marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten geprägten Wirtschaftsweise ein. Die Entwickler neuer Techniken sind also eine weitere Teilgruppe der Marktmacher.

Ich kann hier nicht im Detail auf die technischen Umwälzungen eingehen, die im 15. Jahrhundert begannen und mit der aktuell noch immer im Gang befindlichen Entwicklung und Durchsetzung der Informations- und Kommunikationstechniken sicher noch nicht abgeschlossen sind. Als Vorläufer der Dynamik in diesem Bereich ist die Erfindung des Buchdrucks zu nennen. Sie schuf Bildungs- und Informationsmöglichkeiten. Im 18. Jahrhundert folgten dann der mechanische Webstuhl und die Dampfmaschine, zunehmend auch die Nutzung von Kohle und Stahl, später dann Elektro- und Benzinmotoren, die chemische Synthetisierung von nicht in der Natur vorkommenden Stoffen, Fluggeräte, die industrielle Massenproduktion, Computer, Mobiltelefonie, Internet und die »Vernetzung der Dinge«, der menschenunabhängige Informationsaustausch zwischen technischen Geräten.

Diese Entwicklung hat mit den Jahrzehnten stetig an Geschwindigkeit zugenommen und das Leben der Menschen immer wieder grundlegend verändert. Sie hat die Produktionsweisen revolutioniert, die Bevölkerungsentwicklung geprägt und die Kleidungs, Nahrungs- und Wohnformen verändert. Sie hat die Mobilität von Menschen, Dingen und Informationen stark erhöht. Heute schickt sie sich an, als sogenannte künstliche Intelligenz menschliche Fähigkeiten des kreativen Denkens und Fühlens auf Maschinen zu übertragen. Zumindest in Science-Fiction-Filmen ist damit das Zeitalter der Herrschaft von Maschinen über Menschen eingeläutet.