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Ellen Hehnke

Kinder des Krieges

 

 

 

Ellen Hehnke

 

 

Kinder des Krieges

Soziale Arbeit mit traumatisierten
Flüchtlingskindern für
Haupt- und Ehrenamtliche

Tectum

Ellen Hehnke

Kinder des Krieges – Soziale Arbeit mit traumatisierten
Flüchtlingskindern für Haupt- und Ehrenamtliche

© Tectum – ein Verlag der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017

ISBN 978-3-8288-6684-3

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter

der ISBN 978-3-8288-3845-1 im Tectum Verlag erschienen.)

Umschlagabbildungen: duncan1890 | istockphoto.com,
Foto der Autorin | Michaela Kaiser,
www.michaela-kaiser.de

Lektorat: Volker Manz

 

 

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind
im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.

INHALT

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Vorwort zur 2. Auflage

TEIL A: Hintergründe zu (Flucht-)Migration, Asyl und Kinderflüchtlingen

1Einführung in die Thematik

1.1Skizzierung der Flüchtlingssozialarbeit

1.2Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

2Menschen auf der Flucht nach Deutschland

2.1(Flucht-)Migration und ihre Dimension

2.2Der Begriff des Flüchtlings

2.3Fluchtgründe und Phasen einer Flucht

3Minderjährige Flüchtlinge in Deutschland

3.1Begleitete und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

3.2Wesentliche Schritte im Asylverfahren

3.3Aufenthaltsstatus und Abschiebung

3.4Soziale Situation

4Das Kriegs- und Krisengebiet des Kosovo

4.1Geschichtliche und politische Situation von 1945 bis 1990

4.2Vorkriegsphase und Ausbruch des Kosovokrieges 1999

4.3Von der Nachkriegszeit über die Erlangung der Unabhängigkeit bis 2016

TEIL B: (Psycho-)Soziale Arbeit mit minderjährigen Flüchtlingen

5Psychische Auswirkungen der Kriegs- und Fluchterlebnisse auf die Minderjährigen

5.1Traumatische Situationen in Kriegsgebieten

5.2Traumatische Reaktionen

5.3Posttraumatische Belastungsstörung bei Kindern und Jugendlichen

5.4Die Bedeutung der dritten traumatischen Sequenz und ihre Bewältigung

6Soziale Arbeit mit traumatisierten Kinderflüchtlingen aus Kriegsgebieten

6.1Sozialpädagogische Arbeitshaltung und Konzepte

6.1.1Ressourcenorientierung im Sinne des Empowerments

6.1.2Traumapädagogik

6.2Praktische Umsetzung der Konzepte

6.2.1Einzelarbeit in den Wohnunterkünften

6.2.2Gruppenarbeit

6.2.3Freizeitgestaltung und Schulsozialarbeit

6.2.4Unterbringung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

6.2.5Aufenthaltssicherung und Rückkehrberatung

6.3Schwierigkeiten in der sozialpädagogischen Flüchtlingsarbeit

7Zusammenfassung

8Literaturverzeichnis

TABELLEN- UND ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Tabelle 1aHerkunftsländer bei Asylerstanträgen (1998 bis 2002)

Tabelle 1bHerkunftsländer bei Asylerstanträgen 2003 bis 2007

Tabelle 1cHerkunftsländer bei Asylerstanträgen 2008 bis 2012

Tabelle 1dHerkunftsländer bei Asylerstanträgen 2013 bis 2016

Tabelle 2Asylerstanträge bei Minderjährigen

Tabelle 3Man made disasters

Tabelle 4PTSD-Diagnosekriterien laut ICD-10

Tabelle 5Traumatische Sequenzen bei jüdischen und kosovarischen Kriegsflüchtlingen

 

Abbildung 1Karte des Kosovo

Abbildung 2Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung

Abbildung 3Der sichere Ort

Abbildung 4Soziales Atom für den (fiktiven) Flüchtling Bayram

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

AsylbLGAsylbewerberleistungsgesetz

AsylGAsylgesetz (früher: Asylverfahrensgesetz AsylVerfG)

AufenthGAufenthaltsgesetz

BAMFBundesamt für Migration und Flüchtlinge

BeschVBeschäftigungsverordnung (früher: Beschäftigungsverfahrensverordnung BeschVerfV)

BGBBürgerliches Gesetzbuch

BRDBundesrepublik Deutschland

DSM-VDiagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, fünfte Version (ab Mai 2013)

EGEuropäische Gemeinschaft

EUEuropäische Union

GFKGenfer Flüchtlingskonvention

GGGrundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

GGUAGemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung von Asylsuchenden

GUGemeinschaftsunterkunft (für Asylbewerber)

ICD-10International Classification of Diseases, 10. Version

KFORFriedenstruppe Kosovo Force

KJHGKinder- und Jugendhilfegesetz

KJPKinder- und Jugendpsychiatrie

KRKUN-Kinderrechtskonvention

NATONorth Atlantic Treaty Organization

NGONon-Governmental-Organization (Nicht-Regierungs-Organisation)

PKKPartiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

PTBSPosttraumatische Belastungsstörung

PTSDPosttraumatic Stress Disorder (engl.f. PTBS)

SFHSchweizer Flüchtlingshilfe

SGB VIIISozialgesetzbuch Achtes Buch

UÇKUshtria Çlirimtare e Kosovës (Befreiungsarmee Kosovo)

UMFUnbegleiteter minderjähriger Flüchtling

UNUnited Nations (Vereinte Nationen)

UNHCRUnited Nations High Commissioner for Refugees (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen)

UNMIKUnited Nations Interim Administration Mission in Kosovo (Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen nach Kriegsende im Kosovo)

VORWORT ZUR 2. AUFLAGE

Das vorliegende Buch erschien erstmals im Jahr 2010. Die Themen »Traumatisierung« und »minderjährige Flüchtlinge« waren damals eher Randthemen, mit denen sich spezialisierte und interessierte Fachleute beschäftigten. Doch dann geschahen weltweit gravierende Ereignisse, die ihre Auswirkungen auch in Europa und in Deutschland hatten: Ausgelöst von Unabhängigkeitsbestrebungen in Tunesien und anderen arabischen Staaten ereigneten sich Tumulte und Konflikte, die insgesamt als »Arabischer Frühling« bezeichnet wurden. Es kam zu politischen Umstürzen, Demokratiebestrebungen und leider auch kriegerischen Auseinandersetzungen bis hin zum Bürgerkrieg in Syrien. Als Folge flohen immer mehr Menschen in die Nachbarstaaten, die ihrerseits überlastet und überfordert mit der Bewältigung waren, wie z. B. der Libanon. Schreckliche Bilder von Zeltlagern, mangelnder Versorgung und immer neue Kriegsberichte gingen um die Welt. In Deutschland startete man daraufhin ein humanitäres Aufnahmeprogramm, das jedoch in seinem Kontingent von zunächst 5.000 Personen viel zu klein kalkuliert war. Die erfolgten Nachbesserungen und Neuzusagen konnten den Zustrom der vor allem aus Syrien und den Nachbarländern fliehenden Menschen nicht auffangen. Es waren jedoch nicht nur Familien, die hier Schutz und Frieden suchten, sondern vermehrt kamen auch Kinder und Jugendliche allein über die Grenzen Europas nach Deutschland.

In der vorliegenden Arbeit wurde und wird auf den Kosovo als Herkunftsland eingegangen. Er steht beispielhaft für ein Krisen- und Kriegsgebiet, denn die dort auftretenden Problematiken und Folgen lassen sich meines Erachtens auf andere Staaten wie Syrien übertragen. Geändert und ergänzt wurden vor allem die rechtlichen Rahmenbedingungen im Aufenthalts- und Asylgesetz, denn seit 2010 hat sich eine Vielzahl von ihnen verändert. Insbesondere das Jahr 2015 mit den verabschiedeten Asylpaketen I und II steht hier im Fokus; auf weitere Änderungen wird nur bis zum Zeitpunkt August 2016 eingegangen. Das beschlossene Integrationsgesetz und seine Auswirkungen in der Praxis sind bzw. waren noch nicht konkret genug, um detailliert eingearbeitet werden zu können. Wo es hilfreich erschien, wird darauf kurz Bezug genommen.

Das Kapitel zum Thema Traumatisierung wurde weitestgehend beibehalten, da sich in der Literatur dazu kaum aktuellere Veröffentlichungen befanden. Zwar hat das wissenschaftliche Interesse an der Zielgruppe und den Auswirkungen von Krieg zugenommen, doch fehlen oft statistische Daten oder größere Stichproben, die ein für Deutschland einheitliches Bild ergeben. Hinsichtlich der traumapädagogischen Arbeit sind Änderungen sichtbar, und inzwischen wird diese häufig in der Sozialen Arbeit mit minderjährigen Kriegsflüchtlingen genutzt. Es hängt in der Praxis allerdings oftmals vom Engagement und der Fachkenntnis einzelner Personen ab, welche Unterstützung und Angebote für die Kinderflüchtlinge zur Verfügung stehen bzw. gestellt werden. Hier gibt es in den einzelnen Bundesländern deutliche Unterschiede, die sich dann in Beschulungsmöglichkeiten, Sprachkursen oder Förderinstrumenten beim Übergang von der Schule in den Beruf zeigen. Auch die psychosozialen Hilfen für traumatisierte Minderjährige sind regional unterschiedlich und abhängig von den jeweiligen Kostenträgern.

Insgesamt betrachtet hat die Thematik an aktuellem Interesse gewonnen und wird sicherlich in der nächsten Zeit nicht aufhören, von Belang zu sein. Dies ist nicht nur dem Syrienkonflikt geschuldet, denn auch in Europa und seinen Nachbarstaaten sind Spannungen vorhanden. Der Ukrainekonflikt, der Flüchtlingspakt mit der Türkei und die Debatten über die Wiedereinführung von Grenzkontrollen sind Belege hierfür. Umso wichtiger ist es, denjenigen zu helfen, die vor Krieg fliehen, und diejenigen zu ermutigen, die das Privileg des Friedens genießen. Damit eine gemeinsame Zukunft möglich ist.

Elmshorn, Dezember 2016

TEIL A: HINTERGRÜNDE ZU
(FLUCHT-)MIGRATION, ASYL UND
KINDERFLÜCHTLINGEN

1 EINFÜHRUNG IN DIE THEMATIK

Seit Ende des Zweiten Weltkrieges und den Worten »Nie wieder Krieg« sind mehr als 70 Jahre vergangen. Nur wenigen Ländern ist es gelungen, dieses Versprechen einzuhalten und den Frieden dauerhaft zu sichern. Neue oder alte wieder aufgeheizte Konflikte eskalieren in kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Opfer stammen zu 90% aus der Zivilbevölkerung, vor allem Frauen und Kinder sind betroffen. Sie leiden unter Gewalt, (staatlicher) Verfolgung, Folter, Vertreibung und schlechten Lebensbedingungen. Als Folge flüchten viele allein oder im Familienverbund aus der Heimat. Für 2015 schätzt der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), dass sich weltweit rund 65 Millionen Menschen auf der Flucht befanden, davon rund die Hälfte Minderjährige (vgl. GLOBAL TRENDS 2015, S.8.). Zielländer sind nicht nur die Nachbarstaaten, sondern auch Länder auf anderen Kontinenten. Innerhalb Europas zählt Deutschland zu den Hauptaufnahmeländern für Flüchtlinge.

Im Verlauf der Jahre 1990–2010 waren es vor allem Menschen aus Kriegsregionen wie dem ehemaligen Jugoslawien, Afghanistan und dem Irak, die im deutschen Bundesgebiet Schutz suchten. Durch den Syrienkonflikt und den daraus resultierenden Krieg in den Folgejahren stieg die Zahl der Asylsuchenden wieder an. Im Jahr 2016 stellten von Januar bis September bereits 643.211 Menschen einen Asylerstantrag in Deutschland (BAMF 2016, S.4). Das sind viermal so viele wie zu Zeiten des Jugoslawienkriegs im Jahresverlauf. Dabei stammten 35,7% der Asylerstanträge von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren. Mit den Anträgen der bis 25-Jährigen entfallen so 59,3% aller Erstanträge auf junge Menschen (ebd., S.7). Das zeigt einerseits, dass geflüchtete Kinder und Jugendliche eine wichtige Adressatengruppe für die Flüchtlingssozialarbeit darstellen. Andererseits macht es deutlich, dass auch die junge, gebildete oder sich in Ausbildung befindliche Generation ihre Herkunftsländer verlässt. Welche langfristigen Auswirkungen dies auf die einzelnen Gesellschaften haben wird, ist noch nicht eindeutig absehbar.

1.1 Skizzierung der Flüchtlingssozialarbeit

Soziale Arbeit1 mit minderjährigen Flüchtlingen gehört zum Aufgabenfeld der Migrationssozialarbeit2. Deren Ursprünge liegen in der Ausländerarbeit, die sich ab Mitte der 50er Jahre in Deutschland entwickelte. Zielgruppe waren Menschen nicht-deutscher Herkunft, die als sogenannte Gastarbeiter von der Bundesregierung als Arbeitskräfte angeworben wurden (vgl. HAMBURGER 2000, S.57). Sie stammten aus den Ländern des Mittelmeerraumes, mit denen zwischen 1955 und 1973 Anwerbeabkommen bestanden. Mit Auflösung der Sowjetunion erweiterte sich der Adressatenkreis um die (Spät-)Aussiedler, und schließlich traten ab den 90er Jahren verstärkt die Fluchtmigranten aus Bürgerkriegsregionen hinzu (vgl. FRITZ 2004a, S.190). Besondere Bedeutung erhielten hierbei der Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens und die ausgelösten Bürgerkriege in seinen Nachfolgestaaten wie dem Kosovo. Beide Ereignisse lösten große Fluchtwellen nach Deutschland aus, die auch Kinder und Jugendliche umfassten. Dadurch rückten verstärkt Minderjährige in den Fokus der Flüchtlingssozialarbeit.

Entsprechend der jeweiligen Zielgruppen veränderten sich die Inhalte der Sozialen Arbeit stetig: Ansprüche und rechtliche Rahmenbedingungen unterschieden sich erheblich voneinander. Während die Arbeitskräfte als vorübergehende Migranten angesehen wurden, reisten die Aussiedler mit dem Ziel der Wiedererlangung der deutschen Staatsbürgerschaft nach Deutschland ein. Für sie bestanden zudem »von Anfang an Förder- und Betreuungsmaßnahmen zur Integration in die deutsche Gesellschaft« (CYRUS/TREICHLER 2004, S.16). Bei den Flüchtlingen hingegen handelte es sich sowohl um allein eingereiste (minderjährige) Personen als auch um Familien, die vor den Kriegsgeschehnissen in ihrer Heimat flohen. In der Mehrheit beantragten sie nach ihrer Einreise Asyl. Bis Anfang der 70er Jahre war ihre Zahl relativ gering, sie erhöhte sich jeweils nach bestimmten politischen Ereignissen wie z.B. dem Aufstand in Ungarn 1956 oder der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 (vgl. BLAHUSCH 1992, S.128). Politische, soziale und wirtschaftliche Krisen in vielen Ländern des afrikanischen Kontinents sowie im Nahen und Mittleren Osten führten zu einer weltweiten Erhöhung der Flüchtlingszahlen.

In Deutschland verdoppelten sich die jährlichen Asylgesuche und überschritten 1980 die 100.000er-Grenze (vgl. ebd.). Bedingt durch die Zunahme änderte sich zum einen die Zusammensetzung der Flüchtlinge. Sie wurde heterogener und beschränkte sich nicht mehr nur auf die ehemaligen Anwerbestaaten. Zum anderen verschärfte sich die ausländerpolitische Haltung.

Die einstige Zuständigkeit der Sozialarbeiter nach Herkunftsländern konnte sich bei den Trägern der freien Wohlfahrt nicht länger behaupten. Stammten die Sozialarbeiter zu Beginn der Ausländerarbeit »aus den jeweiligen Heimatländern der Arbeitsmigranten« (FILTZINGER/HÄRING 1993, S.11), konnte bei den neu eingereisten Flüchtlingen selten auf die bikulturelle und bilinguale Kompetenz der Mitarbeiter zurückgegriffen werden. Außerdem unterschieden sich die Migrationsgründe zwischen (minderjährigen) Flüchtlingen und Gastarbeitern erheblich, so dass neues Wissen über die Herkunftsländer notwendig wurde. Als Reaktion darauf spezialisierten sich die sozialen Dienste auf die Asylbewerberproblematik (vgl. CYRUS/TREICHLER 2004, S.17).

Bis Ende der 80er Jahre verlief die Zuwanderung von Ausländern – inklusive minderjähriger Flüchtlinge und ihrer Familien – relativ ungesteuert. Zwar existierte seit 1953 ein geregeltes Asylverfahren, doch mit der wachsenden Einwandererzahl sah sich die deutsche Regierung überfordert. Von staatlicher Seite wurde deshalb am 1. Juli 1993 der sogenannte Asylkompromiss verabschiedet. Er sah als einen Kernpunkt die Einschränkung des Asylrechts durch den neu eingeführten Artikel 16a im Grundgesetz (GG) vor. Ein Flüchtling, der aus einem Mitgliedsstaat der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) oder aus einem als sicher geltenden Drittstaat einreiste, hatte demnach keinen Anspruch mehr auf Asyl. Schon kurz nach der Einführung der Neuregelung sank die Zahl der Asylbewerber stark ab bis ins Jahr 2010, ehe durch den Syrienkonflikt eine neue Flüchtlingswelle nach Europa trieb. Selbst wenn die Fluchtmotive die gleichen wie vor 1993 geblieben sind, haben heutige Flüchtlinge häufig keinen Anspruch mehr auf Anerkennung. Insbesondere Minderjährige scheitern am Asyl- und Einreiseverfahren.

Der Zugang nach Deutschland ist für Flüchtlinge gegenwärtig noch komplizierter geworden, da sich die Europäische Union zunehmend vergrößert. Ihre neu aufgenommenen Mitglieder verbreitern die »Festung Europa« und reduzieren die Chance, auf legalem Weg aus einem nicht-europäischen Land in die Bundesrepublik zu gelangen. Verantwortlich hierfür sind auch rechtliche Regelungen wie die »Dublin-III-Verordnung«. Die Flüchtlingssozialarbeit steht folglich vor neuen Herausforderungen. Immer mehr sind Fachkräfte und soziale Beratungseinrichtungen gefragt, die sich auf die Problematik der Flüchtlinge spezialisieren. Hierzu zählen neben den rechtlichen Umständen auch die psychosozialen Folgen einer Flucht. Kinderflüchtlinge sind davon in besonderer Weise betroffen. Sozialpädagogische Unterstützung bei der Bewältigung der Erfahrungen sowie der Wahrnehmung von Ansprüchen und dem Gewahrwerden eigener Fähigkeiten sind wichtig. Um dieser komplexen Situation gerecht zu werden, haben sich seit Anfang der 90er Jahre zahlreiche Einrichtungen in Deutschland gegründet.3 Spezielle Angebote für Minderjährige fehlen jedoch in vielen Bundesländern bzw. sind nicht ausreichend, um die aktuelle Nachfrage zu decken. Hier besteht sozialpädagogischer und politischer Handlungsbedarf.

1.2 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit widmet sich der Fragestellung, welche Aufgaben und Grenzen sich für die Soziale Arbeit ergeben, wenn sie es mit minderjährigen traumatisierten Flüchtlingen aus Kriegsgebieten zu tun hat. Zur Beantwortung dient die theoretische Auseinandersetzung mit der aktuellen Fachliteratur und einzelnen Statistiken zum Asylgeschehen in Deutschland.

Inhaltlich ist die Arbeit in zwei Teile gegliedert. In TEIL A werden die Grundlagen für die Soziale Arbeit mit minderjährigen Flüchtlingen dargestellt. Hierfür brauchen Sozialpädagogen4 Informationen über den Fluchtprozess und seine Abgrenzung zu anderen Migrationsformen, wie sie in Kapitel 2 dargestellt werden. Im dritten Kapitel geht es um die Charakteristika der Zielgruppe, die in sich heterogen ist. Ein wichtiges Anliegen ist es deshalb, immer wieder auf die Unterschiede zwischen den begleiteten und unbegleiteten Flüchtlingskindern hinzuweisen. Erstere werden im Zuge der allgemeinen Arbeit mit den Eltern häufig vergessen bzw. »nebenbei« im Rahmen der Beratung ihrer Sorgeberechtigten mitversorgt. Explizite sozialpädagogische und psychologische Angebote fehlen oftmals oder werden nicht wahrgenommen. Selbst in der Fachliteratur liegt der Fokus auf den unbegleiteten Minderjährigen. Begleitete Kinder und Jugendliche müssen deshalb stärker in die sozialpädagogische Arbeit mit einbezogen werden.

Zur Veranschaulichung der allgemeinen theoretischen Erläuterungen in TEIL A dient das Kapitel 4 über das Kriegs- und Krisengebiet des Kosovo. Es steht als Beispiel für andere Länder, in denen ebenfalls gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Ethnien herrschen. Charakteristisch für derartige Staaten ist außerdem, dass selbst nach offiziellem Kriegsende keine Stabilisierung eintritt, sondern die Konflikte fortbestehen. Für die geflüchteten Minderjährigen bedeutet dies einen dauerhaften Schwebezustand zwischen der Hoffnung, in Deutschland bleiben zu können, und der Angst, wieder in das Herkunftsland zurückkehren zu müssen. Ihre Aufenthaltssituation ist in den meisten Fällen unsicher, obwohl sie eine lange Zeit ihrer Kindheit in der Bundesrepublik verbracht haben. Zurückkehren können und wollen die meisten nicht, da sie in ihrer Heimat wieder mit ihren Erinnerungen an die grausamen Ereignissen konfrontiert wären.

Die psychischen Auswirkungen der damaligen Kriegs- und Fluchterlebnisse bilden zusammen mit den sozialpädagogischen Handlungsmöglichkeiten in TEIL B den Schwerpunkt der Arbeit. Kriegs- und Fluchterfahrungen stellen einschneidende Erfahrungen im Leben von Kindern und Jugendlichen dar. Den Geschehnissen in ihrer Heimat stehen sie meist schutz- und wehrlos gegenüber, teilweise werden sie für ideologische Zwecke der Kriegsparteien missbraucht. Für die Minderjährigen besteht deshalb ein hohes Risiko, langfristige Folgen davonzutragen. Insbesondere die psychischen Belastungen beeinträchtigen die Kinder und Jugendlichen. Sie leiden unter den Fluchtereignissen, nicht selten mischen sich Schuldgefühle und Sehnsucht nach verlorenen Familienmitgliedern darunter. Für die Verarbeitung der Täter- oder Opferrolle haben die Flüchtlingskinder aufgrund ihres Alters keine oder noch nicht ausreichende Bewältigungsmöglichkeiten entwickelt. Als Reaktion zeigen sich häufig Verhaltensauffälligkeiten oder (schwere) psychische Störungen wie Traumata, Depressionen oder eine Posttraumatische Belastungsreaktion. Da sich die negativen Auswirkungen meist erst nach Ende der Flucht äußern, d.h. ab dem Zeitpunkt der Einreise in die Bundesrepublik, muss Soziale Arbeit hier unmittelbar ansetzen und bei der Bewältigung der seelischen Belastungen unterstützen.

Nicht alle minderjährigen Kriegsflüchtlinge sind gleich stark betroffen; Schutzfaktoren und individuelle Ressourcen spielen eine wichtige Rolle bei der Bewältigung. Aus diesem Grund konzentriert sich das sechste Kapitel auf die Konzepte des Empowerments und der Traumapädagogik. Letztere wird bisher lediglich in wenigen Einrichtungen der Jugendhilfe umgesetzt, die jedoch nicht ausschließlich auf minderjährige Flüchtlinge spezialisiert sind. Wie in anderen sozialen Einrichtungen traumabasiert gearbeitet werden kann, ist dort nicht explizit ausgewiesen. Flüchtlingssozialarbeiter in Beratungseinrichtungen oder den Gemeinschaftsunterkünften für Asylbewerber sind weitgehend auf sich allein gestellt. Intention der Arbeit ist deshalb eine möglichst praxisnahe Erläuterung, in der konkrete Maßnahmen für die methodische Arbeit mit den traumatisierten Minderjährigen aufgezeigt werden.

Nur wenn in der sozialpädagogischen Praxis eine ganzheitliche Unterstützung und Begleitung der Minderjährigen geschieht, können verbesserte Lebensbedingungen für die jungen Flüchtlinge in Deutschland geschaffen werden. Das schließt auch die politische Lobbyarbeit für diese Zielgruppe mit ein, da gerade die rechtlichen Rahmenbedingungen eine erfolgreiche Einfindung in die deutsche Gesellschaft behindern. In der aktuellen Fachliteratur und der sozialpädagogischen Praxis findet deshalb eine starke Konzentration auf die asyl- und aufenthaltsrechtliche Problematik statt. Soziale Lebensumstände werden ebenfalls thematisiert, aber kaum Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt. Zudem wird selten zwischen unbegleiteten und begleiteten Kinderflüchtlingen unterschieden. Viele Angebote der Unterstützung und Beratung richten sich an die allein eingereisten Flüchtlinge. Doch gerade die begleiteten Minderjährigen stehen in der Gefahr, aufgrund ihres Familienbezuges als nicht hilfebedürftig eingestuft und »übersehen« zu werden. Für eine ganzheitliche Betrachtung dürfen jedoch die seelischen Auswirkungen der Kriegs- und Fluchterlebnisse nicht ausgeblendet werden. Sie beeinflussen die sozialpädagogische Arbeit sehr stark. Frühzeitige Unterstützung und kinder- bzw. jugendspezifische Leistungen sind daher erforderlich.

1Soziale Arbeit umfasst Sozialpädagogik und Sozialarbeit.

2Zur Geschichte der Migrationssozialarbeit siehe FILTZINGER/HÄRING 1993.

3Sie bilden seit 1997 die »Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAFF)«. Siehe www.baff-zentren.org.

4In dieser Arbeit wird die männliche Berufsbezeichnung verwendet; mit ihr sind auch die weiblichen Berufsangehörigen angesprochen.

2 MENSCHEN AUF DER
FLUCHT NACH DEUTSCHLAND

Seit den 50er Jahren haben ausländische Flüchtlinge verstärkt Schutz in Deutschland gesucht. Durch die beschriebene Zunahme an gewaltsamen Konflikten und Kriegen erreichen nicht mehr nur erwachsene Asylbewerber die Bundesrepublik, sondern bei einem Großteil der Flüchtlinge handelt es sich um Minderjährige mit und ohne Begleitung (Kap.3). Im nachfolgenden Kapitel geht es um das Phänomen der Fluchtmigration an sich sowie um die Ausmaße von Flüchtlingsströmen (Kap.2.1). Für die Betroffenen ist es nach ihrer Ankunft im Aufnahmeland Deutschland wesentlich, ob ihnen der Flüchtlingsstatus zuerkannt wird. Er wird deshalb ausführlich in seiner Bedeutung erläutert (Kap.2.2). In diesem Kontext interessieren auch die Ursachen für eine Flucht, wobei zusätzlich kinderspezifische Gründe und der Verlauf einer Flucht angeführt werden (Kap.2.3).

2.1 (Flucht-)Migration und ihre Dimension

Das Wort »Flucht« leitet sich vom lateinischen »fuga« ab und bedeutet Verbannung oder das schnelle, überstürzte Verlassen eines Ortes.5 Letzteres geht mit einer akuten Gefahrensituation für die Betroffenen einher, wie z.B. einem Krieg. Die Auslöser dafür können sowohl von Menschen als auch durch Umwelteinflüsse herbeigeführt werden (siehe Kap.4 und 5). Eine Flucht ist folglich durch externe Faktoren mitbedingt.

Im wissenschaftlichen Kontext besteht Uneinigkeit darüber, ob Flucht als eigenständiges Phänomen oder nur als eine Unterkategorie von »Migration« angesehen werden soll. Die Betonung der Eigenständigkeit beruht darauf, dass mit einer Flucht besondere Merkmale verbunden sind, denen Rechnung getragen werden muss. TREIBEL weist z.B. auf die unterschiedlichen Akteure hin, die am Fluchtprozess beteiligt sind, wie Menschenrechtsgruppen, Hilfsorganisationen und die internationale Politik (vgl. 2003, S.158). Trotzdem stützt sich die vorliegende Arbeit auf die zweite Variante und folgt damit HAMBURGERs Definition des Begriffes »Migration«. Er versteht darunter »eine allgemeine Sammelbezeichnung für den Umstand, dass Personen für einen längeren oder unbegrenzten Zeitraum einen früheren Wohnort verlassen haben und in der Gegenwart in einem anderen Land als ihrem Herkunftsland leben« (HAMBURGER 2005, S.1212). Die Wanderung innerhalb eines Landes (sog. Binnenmigration) ist hierdurch ausgeschlossen. Allerdings wird über die Motive der einzelnen Migranten keine Aussage getroffen, d.h. es können auch Flüchtlinge zu den Migranten gezählt werden.

Um die in sich sehr heterogene Gruppe von hochqualifizierten Fachkräften, Saison- und Gastarbeitern, ausländischen Studenten, Asylbewerbern und eben auch Flüchtlingen genauer voneinander abzugrenzen, sind deshalb Einschränkungen notwendig. Zwei wichtige Kriterien bilden dabei die Freiwilligkeit und die Dauer des Aufenthaltes. Arbeitsmigranten und Menschen, die zum Zweck der Ausbildung einreisen, begeben sich freiwillig und meistens für einen vorher festgelegten Zeitraum (Studiendauer, befristetes Arbeitsverhältnis, Saisonvertrag) nach Deutschland. Flüchtlinge und Asylbewerber immigrieren dagegen fast immer unfreiwillig, weil äußere Lebensumstände bzw. direkte (Gewalt-)Einwirkungen sie dazu zwingen. Charakteristisch für die Betroffenen ist, dass sie in der Regel nicht wissen, wie lange sie sich in der Bundesrepublik aufhalten dürfen bzw. ob sie jemals wieder in ihre Heimat zurückkehren können.

Wie viele Menschen sich aktuell weltweit auf der Flucht befinden, kann nur geschätzt werden. In den Statistiken findet oftmals keine eindeutige Differenzierung zwischen Flüchtlingen und anderen Migrantengruppen, wie z.B. den Vertriebenen (displaced persons), statt. Zudem können nur diejenigen Geflüchteten registriert werden, die auf irgendeine Weise mit Behörden oder Hilfsorganisationen in Berührung kommen. Menschen, die nach Verlassen ihrer Heimat in die Illegalität abtauchen, müssen als Dunkelziffer addiert werden.

Wer als Flüchtling Aufnahme in Deutschland begehrt, stellt in der Regel einen Asylantrag. Entsprechend lassen sich aus den Zahlen der Asylerstanträge Rückschlüsse auf die ungefähre Anzahl an Flüchtlingen für die BRD ableiten. Im Jahr 1998 waren es 98.644 Erstanträge, bis zum Jahr 2007 ging ihre Zahl auf 19.164 zurück, ehe in den Folgejahren wieder ein leichter Anstieg zu verzeichnen war (vgl. BAMF 2016, S.4). Doch erst ab 2012, u.a. bedingt durch den Bürgerkrieg in Syrien und die Flüchtlingsproblematik in den Nachbarländern, erreichten die Antragszahlen wieder die 100.000er Marke; im Jahr 2015 waren es sogar mehr als vor dem Asylkompromiss, nämlich 441.899. Für 2016 zeichnet sich schon jetzt eine noch größere Antragstellerzahl ab (vgl. ebd., S.4). Zusätzlich müsste eine Dunkelziffer an nicht erfassten Flüchtlingen addiert werden, ihre Höhe ist schwer festzumachen. Hingegen lassen sich durch die gestellten Asylerstanträge klare Aussagen zu den Herkunftsländern machen (vgl. Tab. 1a und 1b). Im Verlauf der Jahre 1998 bis 2007 hat sich an der Aufzählung der zugangsstärksten Staaten wenig geändert:

Tabelle 1a: Herkunftsländer bei Asylerstanträgen (1998 bis 2002)

Rang

1998

1999

2000

2001

2002

1

Serbien u. Montenegro

Serbien u. Montenegro

Irak

Irak

Irak

2

Türkei

Türkei

Serbien u. Montenegro

Türkei

Türkei

3

Irak

Irak

Türkei

Serbien u. Montenegro

Serbien u. Montenegro

4

Afghanistan

Afghanistan

Afghanistan

Afghanistan

Russische Föderation

5

Vietnam

Iran

Iran

Russische Föderation

Afghanistan

(Vgl. ASYL IN ZAHLEN 2007, S.15.)

Tabelle 1b: Herkunftsländer bei Asylerstanträgen 2003 bis 2007

Rang

2003

2004

2005

2006

2007

1

Türkei

Türkei

Serbien u. Montenegro

Irak

Irak

2

Serbien u. Montenegro

Serbien u. Montenegro

Türkei

Türkei

Serbien

3

Irak

Russische Föderation

Irak

Serbien u. Montenegro*

Türkei

4

Russische Föderation

Vietnam

Russische Föderation

Serbien**

Vietnam

5

China

Iran

Vietnam

Russische Föderation

Russische

Föderation

* Bis zum 31.07.2006 Serbien und Montenegro.

** Ab dem 01.08.2006 nur Serbien (vgl. ASYL IN ZAHLEN 2007, S.15).

Auffallend ist zunächst, dass die ersten drei Plätze in jedem Jahr von der Türkei, dem Irak oder Serbien und Montenegro belegt sind. Eine mögliche Erklärung für die starke Präsenz der drei Nationen ist der jeweilige Kriegsausbruch im Land und dessen Nachwirkungen. Selbst nach offizieller Beendigung der Ausschreitungen ist die Situation für die Zivilbevölkerung in vielen Regionen weiterhin kritisch, da z.B. die Infrastruktur (Zugang zu Trinkwasser, Verkehrswege, Gebäude) noch zerstört ist.

In Afghanistan bewirkten das Taliban-Regime und der damit verbundene Afghanistankrieg bis etwa 2001 einen hohen Anteil an afghanischen Asylbewerbern in Deutschland. Serbien und Montenegro sind durch die Auflösung des ehemaligen Jugoslawiens ab Beginn der 1990er Jahre und durch die Unabhängigkeitsbestrebungen seiner Mitgliedsstaaten – insbesondere der Region Kosovo – von ethnischen Konflikten geprägt. Für die hohe Anzahl an Erstanträgen aus dem Irak kann zum einen der Irakkrieg im Jahr 2003 als Ursache gelten, zum anderen leben im Norden des Iraks Kurden, die als Minderheit verfolgt und unterdrückt werden. Fast 46% aller irakischen Asylanträge für 2007 stammten von Kurden; bei den türkischen Flüchtlingen waren es rund 80% (vgl. ASYL IN ZAHLEN 2007, S.24f.). Ähnlich hohe Quoten können auch für Syrien und den Iran angenommen werden, da im Osten bzw. Westen der Länder kurdische Siedlungsgebiete liegen.

(Ushtria Çlirimtare e Kosovës = Befreiungsarmee des Kosovo)(Partiya Karkerên Kurdistan = Arbeiterpartei Kurdistans).