Cover

Blanca Imboden – Gipfeltreffen | Wiedersehen auf dem Urmiberg – WÖRTERSEH

 

»Gipfeltreffen« ist die Fortsetzung von Blanca Imbodens 2013 erschienenem ersten Bestseller »Wandern ist doof – Ein Kreuzworträtsel mit Folgen«. Die beiden Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.

Wörterseh wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 bis 2020 unterstützt und dankt herzlich dafür.

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2017 Wörterseh, Gockhausen

Lektorat: Andrea Leuthold, Zürich
Korrektorat: Claudia Bislin, Zürich
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Holzkirchen
Foto Umschlag vorn: www.istockphoto.com
Fotos Umschlag hinten: Blick vom Urmiberg, © Blanca Imboden
Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Rolf Schöner, Buchherstellung, Aarau
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Print ISBN 978-3-03763-077-8
E-Book ISBN 978-3-03763-625-1

www.woerterseh.ch

 

Diese Geschichte und alle Personen darin sind frei erfunden. Ähnlichkeiten sind Zufall.
Einzig den Urmiberg, den gibt es.

 
»Leben ist das, was passiert, während du dabei bist, Pläne zu schmieden.«

John Lennon

 

Inhalt

Über das Buch

Über die Autorin

Eins

schwarz, englisch, 5 Buchstaben:
BLACK

Zwei

Kinderbuchfigur aus dem Eis, 5 Buchstaben:
URMEL

Drei

Rundschreiben im Internet, 8 Buchstaben:
RUNDMAIL

Vier

afrikanischer Politiker, 6 Buchstaben:
APOLLO

Fünf

sehr schlechte Nachricht, 14 Buchstaben:
HIOBSBOTSCHAFT

Sechs

Südosthang von Brunnen, Ausläufer der Rigi, 8 Buchstaben:
URMIBERG

Sieben

gemütliches Treffen, 10 Buchstaben:
KRAENZCHEN

Acht

nachtaktives Nagetier, 15 Buchstaben:
SIEBENSCHLAEFER

Neun

hinterer Tagesabschnitt zwischen Nachmittag und Mitternacht, 5 Buchstaben:
ABEND

Zehn

umgangssprachlich für wandern, 8 Buchstaben:
LATSCHEN

Elf

Verderben, Unglück, 6 Buchstaben:
UNHEIL

Zwölf

kratzbürstig, harsch, 6 Buchstaben:
BARSCH

Dreizehn

Verräter, 5 Buchstaben:
JUDAS

Vierzehn

weiblicher Vorname und altes Flächenmaß, 5 Buchstaben:
RAHEL

Fünfzehn

erster August in der Schweiz, 14 Buchstaben:
BUNDESFEIERTAG

Sechzehn

Fragespiel, 4 Buchstaben:
QUIZ

DANKE

 

Über das Buch

Was mit dem Bestseller »Wandern ist doof« seinen Anfang nahm, erfährt endlich die lang ersehnte Fortsetzung. Conny, die Frankfurter Kreuzworträtselkönigin, die sich im ersten Buch in Toni, den Innerschweizer Bergführer, verliebt, dann aber nach Deutschland zurückreist, macht einen großen Schritt: Sie kündigt ihren Job als Hotelrezeptionistin und zieht in die Schweiz. Auf dem Urmiberg, oberhalb Brunnen, führt sie – zusammen mit Toni – ein Bergrestaurant mit eigener Seilbahn und fantastischer Aussicht. Dort oben ergibt sich bei einem Tête-à-Tête die Idee, die Wandergruppe, der sie ihre Liebe zu verdanken haben, spontan zu einem einwöchigen Wiedersehen auf den Urmiberg einzuladen. Irrtümlich erreicht die E-Mail mit der frohen Botschaft nicht nur jene »Wanderfreunde«, auf die man sich freut. Was dann alles passiert, sei hier noch nicht verraten. Nur dies: Es wird diesmal nur gewandert und nicht mehr gefastet. Es gibt auch jetzt wieder ein Desaster, vor allem aber gibt es Versöhnung und Neubeginn, Natur und Geselligkeit und ein dickes Happy End.

Wie schon im Buch »Wandern ist doof« kommen die Leserinnen und Leser auch bei der hier vorliegenden Fortsetzung der Wander-Schweiz ein großes Stück näher: Den Urmiberg – auf dem Conny und Toni nun zu Hause sind – gibt es tatsächlich und die im Buch beschriebenen Wanderungen auch. Also: Rucksack packen, die Seilbahn auf den Urmiberg nehmen und dann ab in noch höhere Höhen, denn –
Wandern ist definitiv nicht doof!
 

Über die Autorin

Blanca Imboden
Foto: © Laura Vercellone

BLANCA IMBODEN, geb. 1962, war Sängerin, dann Sekretärin und Kolumnistin bei der »Neuen Schwyzer Zeitung«. Als diese wegrationalisiert wurde, arbeitete sie als Seilbahnführerin auf dem Stoos. Daneben widmete sie sich immer wieder ihrer größten Leidenschaft, dem Schreiben. Heute ist sie vollberuflich Schriftstellerin. Den Durchbruch schaffte sie mit ihrem ersten bei Wörterseh verlegten Buch: »Wandern ist doof«. Für »Gipfeltreffen« recherchierte sie auf dem Urmiberg, wo sie sich wochenlang aufhielt – oft allerdings auch nur, um abzuschalten und die tolle Aussicht zu genießen. Blanca Imboden lebt dort, wo sie geboren wurde, in Ibach SZ.

www.blancaimboden.ch

 

Eins

schwarz, englisch, 5 Buchstaben: BLACK

Ich habe ein festes Morgenritual. Meine erste Handlung, nachdem ich aus dem Bett gehüpft oder gekrochen bin – je nach Tagesform –, ist immer die gleiche: Ich öffne das Fenster, schaue hinaus und atme.

Schauen, atmen, schauen, atmen.

Nein, das ist keine besondere Art von Yoga oder Meditation. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Auch keine in teuren Kursen erlernte Atemtherapie. Mit Augenentspannungstraining hat es ebenfalls nichts zu tun.

Schauen, atmen, schauen, atmen.

Das ist meine eigens entwickelte, höchstpersönliche Methode, gut in den Tag zu starten. Ich sollte sie patentieren lassen und Bücher darüber schreiben, Kurse anbieten: »Connys Guten-Morgen-Coaching«. Allerdings funktioniert das natürlich nur hier oben.

Schauen, atmen, schauen, atmen.

Vom Urmiberg aus gibt es nämlich wirklich viel zu sehen, was das Gemüt erfreut: Ich blicke hinunter auf Brunnen, schaue über den Urnersee Richtung Bristen, grüße direkt gegenüber Seelisberg und den Niederbauen, winke dem Fronalpstock zu. Die Aussicht ist bezaubernd! Da geht mir glatt das Herz auf, jedes Mal und immer wieder. Wenn ich Glück habe, kreist ein Greifvogel am Himmel. Manchmal kann ich Wild beobachten, Rehe oder Hirsche, die sich später wieder im Wald verstecken. Auf jeden Fall singen die Vögel ein mehrstimmiges Guten-Morgen-Halleluja, und ich recke und strecke mich genüsslich zu diesem Sound. Andere legen zur Förderung ihres Wohlbefindens CDs von Walgesängen auf. So etwas brauche ich nicht. Nicht hier oben. Diese frühen Momente am Fenster geben mir die Kraft für den Tag, sie machen mich glücklich und dankbar. Meine Mundwinkel ziehen sich automatisch nach oben.

Fast immer.

Heute nicht.

Keineswegs.

Natürlich kann ich auch heute atmen, und meine Lungen jubilieren über die würzige, frische Alpenluft. Ich kann auch schauen, das schon, aber ich sehe halt nichts. Rein gar nichts. Vor mein Schlafzimmerfenster hat sich eine Wolkenwand geschoben, dicht und undurchdringlich. Das Wetter zeigt sich tendenziell widerwärtig: Regen, Wolken, Wind. Es wettert. Mich fröstelt, und ich schließe das Fenster wieder, starte dafür meinen Laptop und öffne die Seilbahn-Software. Ja, ich hatte es befürchtet: Da ist zu viel Wind auf den Masten, um irgendwelche Touristen nach oben zu holen. Vor allem auf Mast fünf sieht es gefährlich aus. Ich schreibe eine kurze Mitteilung für den Bildschirm der Talstation und für die Website.

Vorübergehend kein Seilbahnbetrieb.
Zu viel Wind.
Wir bitten um Verständnis.

Jetzt schlüpfe ich genüsslich noch einmal ins Bett. Das wird ein ruhiger Tag, ein ganz ruhiger, und das ist gut so. Nach einer umsatzstarken Woche, in der mich die Anzahl der Gäste beinahe an meine Grenzen gebracht hat, tut mir heute jeder Knochen weh, von den Füßen gar nicht zu reden. Es kamen nicht nur Wanderer, Gleitschirmflieger und Ausflügler, ich bewirtete auch zwei Geburtstagsgesellschaften; eine davon blieb bis nach Mitternacht. Ein bisschen Ruhe wird mir guttun.

Obwohl: Hat man hier oben jemals Ruhe? Es ist so viel Arbeit liegen geblieben in den letzten Tagen. Ich müsste mal wieder gründlich putzen, außerdem aufräumen; vorkochen und vorbereiten sowieso. Ans Büro mag ich gar nicht erst denken – dort türmen sich Papiere auf meinem Schreibtisch und warten hartnäckig auf ihre Bearbeitung. Auch die Steuererklärung ist überfällig. Aber dafür brauche ich Hilfe. Und den Großeinkauf in der Prodega darf ich auch nicht mehr lange aufschieben.

Ich ziehe die Bettdecke noch einmal kurz über den Kopf. Nur ein Momentchen, ein winziges, mehr liegt wirklich nicht drin – und schon bin ich wieder eingeschlafen.

Ich bin Conny aus Frankfurt, 39 Jahre alt. Vor vier Jahren kam ich erstmals in die Schweiz, weil ich mit einem Kreuzworträtsel eine Wandern-Fasten-Singlereise nach Morschach gewonnen hatte. Das Lösungswort hieß »Radieschen«, was ungewollt zu meinem Spitznamen wurde. Ich grinse heute noch übers ganze Gesicht bei den Erinnerungen an diese Reise. Rückblickend kann man ja immer über vieles lachen, auch über das, was im Moment des Erlebens nicht unbedingt erheiternd war. Der Ernst von heute ist der Witz von morgen. Schön wärs, wenn einem dieses Wissen in ernsten Zeiten irgendwie helfen könnte – tut es aber nicht.

Erst wollte ich sie ja damals gar nicht antreten, die gewonnene Reise in dieses völlig unbekannte Morschach, das Kuhdorf in der Innerschweiz, wie meine Freundin Andrea das idyllische Feriendörfchen oberhalb Brunnen respektlos nannte. Mich hätten allerdings auch weder Arosa noch Zermatt oder St. Moritz gereizt. Ich hatte nämlich gar kein Interesse an Wandern und Fasten, und von Männern hatte ich, nachdem mich Frank gerade völlig überraschend sitzen gelassen hatte, um mit einer Lehrerkollegin nach Afrika auszuwandern, erst mal genug. Die Vorstellung, mit knurrendem Magen in Gesellschaft von sehr wahrscheinlich beziehungsgestörten Männern irgendwelche hohe Berge zu erklimmen, schien mir gar nicht verlockend. Aber bekanntlich schaut man einem geschenkten Gaul nicht ins Maul, und so wagte ich das Abenteuer.

Wer hätte gedacht, dass nicht die Reise mein eigentlicher Gewinn sein würde? Das »Radieschen« brachte mir noch viel mehr Glück. Es wurde zum Passwort für mein Lebensglück: Ich habe Toni kennen und lieben gelernt. Mein Hauptgewinn war Toni, der Bergler, der Reiseleiter, der Bergführer, der Urschweizer!

Und darum bin ich jetzt hier.

Inmitten der Innerschweiz.

Auf einem Berg.

Das war irgendwie »alternativlos«, um das mal mit Frau Merkels Worten auszudrücken. Tja, Toni ließ sich nun wirklich nicht verpflanzen. Er wäre mir in einer deutschen Großstadt wie »Crocodile Dundee« vorgekommen, völlig deplatziert und verloren. Ich hingegen hatte schon mehrmals den Arbeitsort gewechselt und konnte mit meinen Qualifikationen in der Schweiz problemlos eine Stelle in der Gastronomie finden. Beruflich war das kein Abstieg. Vielleicht anfangs, als ich in Brunnen als Bardame arbeitete, wo ich doch in Frankfurt immerhin als Direktionsassistentin in einem großen Viersternehotel aufgehört hatte. Jetzt aber bin ich aufgestiegen – genau um 702 Meter – und bin Wirtin auf dem Urmiberg. Dort haben Toni und ich ein Bergrestaurant gepachtet, mit einem alten Wohnhaus und einer Bergbahn.

Wahnsinn!

Das Leben ist spannend und voller Überraschungen.

Ein altes Sprichwort sagt, dass immer, wenn jemand irgendwo Pläne mache, im Hintergrund das Schicksal lachend vom Stuhl falle. Bei mir ist das Schicksal schon häufiger vom Stuhl gefallen. Es hat schon einige blaue Flecken. Ich traue mich ja kaum mehr zu planen. Jedenfalls nicht langfristig.

Eines kann ich versichern: Ich habe mir bestimmt niemals vorgestellt, ich würde irgendwann jeden Morgen auf einem Berg oben erwachen und dort ein Bergrestaurant führen. Und eben: Wir haben ja sogar noch die Seilbahn im Pachtvertrag.

Verrückt!

Nicht in meinen wildesten Fantasien hätte ich mir ausgemalt, dass das Leben mich als deutsche Stadtfrau hierherführen würde. Niemalsnie.

Ich dachte einmal, ich würde mit Frank alt werden, und nachdem er Frankfurt mit seiner neuen Flamme Richtung Afrika verlassen hatte, beschloss ich, nicht mehr zu viele Gedanken an meine Zukunft zu verschwenden, sondern im Hier und Jetzt zu leben.

Vielleicht war ich deshalb so offen für alles? Reif für den Bergler und den Berg?

Ganz gewiss hatte ich mir den Alltag hier auf dem Berg auch ein ganz klein wenig anders vorgestellt – und das ist wirklich milde ausgedrückt.

Ich dachte, ich würde mit Toni zusammenleben und -arbeiten, stellte mir vor, wir würden miteinander auf dem Urmiberg glücklich sein, wir würden hier oben als unverwüstliches Duo Wind und Wetter trotzen, gute und schlechte Zeiten gemeinsam bewältigen, abends noch einmal in den Sternenhimmel schauen und später müde zusammen einschlafen. Ich sah uns als Hänsel und Gretel im hexenfreien Knusperhäuschen.

Ein schöner Traum!?!

Ich hatte die Rechnung ohne meinen Toni gemacht. Er ist und bleibt ein Reisender, ein unruhiger Geist, ein »Heute-hier-und-morgen-dort«. Letzte Woche war er mit einer Wandergruppe auf Teneriffa, diese Woche begleitet er eine Flussfahrt auf dem Rhein. Bald fliegt er wieder nach Mallorca. So sieht es aus.

Doch ehrlich gesagt habe ich das zu verantworten: Ich habe ihn höchstpersönlich vom Berg weggescheucht und wieder in die Welt hinausgeschickt, auch wenn mir dabei fast das Herz gebrochen ist. Aus Toni einen Gastronomen machen zu wollen, war eine blöde Idee. Natürlich kann er gut mit Menschen umgehen, ist kontaktfreudig und umgänglich. Selbstverständlich hatte er alles schnell gelernt, konnte die Seilbahn bedienen, im Service arbeiten, war überall eine große Hilfe, sogar in der Küche. Ich merkte jedoch, wie er sich veränderte, wie er zunehmend unruhig und unzufrieden wurde, manchmal richtig mürrisch und gehässig. Das tat mir weh. Manchmal beobachtete ich ihn heimlich, wie er abends auf der großen Terrasse auf und ab tigerte, hin und her, her und hin, wie ein eingesperrtes, verhaltensgestörtes Wildtier, das im zu kleinen Käfig nicht artgerecht gehalten wird.

Nein, Toni ist noch nicht so weit, sich irgendwo niederzulassen. Irgendwann wird dieser Tag kommen, und keiner sehnt ihn mehr herbei als ich. Aber im Moment ist er noch immer ein Wandervogel. Sein Rucksack ist nie ganz ausgepackt, so ist er allzeit bereit für den nächsten Trip. »Ferne Berge sind erhabener als nahe«, sagte schon Jean Paul. Und auch wenn der deutsche Schriftsteller seit bald 200 Jahren tot ist, muss mein Toni sein Seelenverwandter sein. Jedenfalls arbeitet er nun halt wieder als Wanderreiseleiter und Bergführer, führt fremde Menschen auf fernen Bergen herum.

Inzwischen komme ich hier oben auch ohne Toni zurecht. Gegen die gröbste Einsamkeit hat er mir einen West Highland White Terrier aus einem Tierheim geschenkt, der von seiner Besitzerin unter Tränen dort abgegeben worden war, weil sie unter einer schweren Hundehaarallergie litt. Das liebenswerte weiße Wuschelwesen trägt den unmöglichen Namen Blacky. Echt jetzt: So etwas ist doch schon beinahe Tiermisshandlung. Ein weißer Hund, der Blacky heißt! Ich wäre als Hund persönlich beleidigt und würde prinzipiell nicht auf diesen Namen hören. Aber nein, das weiße Energiebündel hat den abartigen Namen akzeptiert und stellt sofort seine Lauscher, wenn es »Blacky« hört. Inzwischen wissen das auch alle Stammgäste. Und ich kenne längst jede Variante von doofen Sprüchen bezüglich der Namensdiskrepanz.

»Hm, ein kleiner Englischkurs würde dem Besitzer nicht schaden.«

»Könnte man den Hund vielleicht umfärben?«

»Der müsste doch Whity heißen – wenn schon.«

»Was Farbenblindheit doch für schlimme Auswirkungen haben kann – sogar auf unschuldige Hunde!«

Ich höre solche Bemerkungen gar nicht mehr. Das ist, wie wenn einer direkt an der Bahnlinie wohnt: Irgendwann hört er die Züge nicht mehr vorbeidonnern.

Ich liebe Blacky. Ich habe mein Herz an diesen Vierbeiner verloren. Dabei hatte ich vorher nie ein Haustier.

Ach nein, das stimmt nicht.

Die Erinnerung daran ist nur ein wenig verblasst.

Als Kind hatte ich einen Wellensittich, geerbt von meinem Onkel Otto, der früh und unerwartet verstorben war. Ich liebte das Vögelchen mit dem betörenden Kobaltblau im Gefieder und nannte es Cinderella, obwohl es ein Männchen war, wie mein Vater immer wieder penetrant betonte. Das einsame Wesen mit den Knopfaugen rührte mein Kinderherz, weil es tagein, tagaus ohne irgendeine Abwechslung in dem kleinen Käfig auf dem Stängelchen hocken musste. Nur wenn mein Vater nicht da war, durfte es einen kleinen Rundflug im Wohnzimmer machen. Eines Tages, es war Frühling und die Spatzen zwitscherten in den Bäumen, die Sonne schien, da stellte ich den Käfig ans offene Fenster und öffnete das Törchen. Ich ließ Cinderella frei, einfach so, hinaus in die Stadt. Zuerst wollte der Vogel gar nicht losfliegen, hockte noch eine Weile auf dem Fenstersims, als würde er seinem Glück nicht trauen oder als würde die plötzliche, unerwartete Größe der Welt ihn erschrecken, beängstigen, einschüchtern. Aber schließlich flatterte er mutig von dannen. Ich weinte ihm ein paar Tränen hinterher, tröstete meinen Schmerz allerdings damit, mir sein Glücksgefühl und seine Dankbarkeit vorzustellen, die unbeschreiblich groß sein mussten, wie ich glaubte.

Ich bin heute noch stolz auf mich, auf diese selbstlose, großmütige Handlung, auch wenn es natürlich eine riesige Dummheit war und der Wellensittich kaum lange überlebte, vielleicht am gleichen Tag schon von einer Katze gefressen wurde oder einen anderen tragischen Tod erleiden musste. Bereits als Zehnjährige war Freiheit für mich mehr als ein Wort.

Und heute? Ja, Freiheit für alle Vögel – auch für Wandervögel … und auch wenn es schmerzt.

Allerdings habe ich die saftige Ohrfeige nicht vergessen, mit der mein Vater meine Heldentat quittierte. In unserem Haushalt waren Haustiere anschließend ein Tabuthema. »Du bist ja nicht einmal in der Lage, Verantwortung für einen mickrigen Vogel zu übernehmen«, schimpfte mein Vater. Ich schaute ihn mit meinen großen Kinderaugen an, war tief verletzt und verstand die Welt nicht mehr. Das Bild vom großartigen, liebevollen Papa, der über allem stand, als unantastbare Instanz, bekam an diesem Tag erste Risse.

Ich wache auf, weil Blacky wie verrückt unten an der Haustür bellt. Er ist ein perfekter Wächter. Natürlich könnte er keinen Bösewicht vertreiben, aber immerhin warnt er mich vor jedem Eindringling, was hier oben in der Einsamkeit viel wert ist. Und praktisch. So muss ich nicht immer die Augen überall haben, werde sofort zuverlässig darüber informiert, wenn ein neuer Gast eintrifft.

Und jetzt kommt tatsächlich ein Gast?

Es regnet, es windet, es stürmt!

Aber es wundert mich nicht wirklich. Irgendeiner ist doch immer unterwegs, selbst wenn es Katzen hagelt. Touristen ignorieren manchmal Wind und Wetter erfolgreich. Wenn sie dann im Restaurant stehen, tropfen sie mir eine Pfütze auf den Boden, verbreiten mit ihren Wanderschuhen modrigen Dreck, und es folgt zuverlässig der Satz: »Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung.« Darauf könnte ich Wetten abschließen – was ich auch schon getan habe, als Toni noch hier war. Die Gäste musterten uns jeweils irritiert, wenn wir ihren Satz mit frohem Gelächter quittierten.

Ich ziehe mich blitzschnell an und gehe hinunter. Gut, dass unser Wohnhaus direkt neben dem Restaurant steht und wir hier oben eine lockere Kleiderordnung haben. Es wird also nicht lange dauern, bis ich dem durchnässten Wanderer einen heißen Kaffee servieren kann oder was immer halt sein Herz begehrt.

Ich öffne die Haustür und erschrecke zuerst, denn der Ankömmling steht direkt davor, eine durchnässte Gestalt, mehr Regenschutz als Mensch. Doch dann erkenne ich ihn.

»Toni!«

»Conny!«

Schnell ziehe ich meinen Schatz ins Trockene und schließe die Tür hinter ihm. Wir liegen uns in den Armen, und Blacky rennt wie verrückt um uns herum, laut bellend und schwanzwedelnd.

»Was für ein Empfang!«, freut sich Toni.

Ich freue mich auch. Mein Herz ist warm, es hüpft, es schmetterlingt. Toni ist hier!

Weil ich dachte, er würde erst morgen kommen, hatte ich den Hausschlüssel von innen stecken lassen. Doch es scheint, als hätte Toni keine Kosten und Mühen gescheut, um möglichst schnell bei mir zu sein. Am Ende musste er sogar hier hochmarschieren, auf rutschigen Pfaden, über eine Stunde steil bergwärts, mitten durch diese Regen- und Wolkenwand.

Ich verbiete mir die Frage, wie lange er bleiben wird. Eigentlich hätte er jetzt eine Woche frei, aber wer weiß: Vielleicht bleibt er nur einen Tag, vielleicht drei. Wenn es dumm läuft, muss er heute Abend schon wieder weiter.

Ich habe mich damit arrangiert.

Rede ich mir zumindest ein.

Versuche ich, mir einzureden.

»Brr, du bist aber nass geworden«, sage ich schließlich voller Mitgefühl.

Toni schält sich aus dem Regenschutz.

»Radieschen, Liebes, gib mir zehn Minuten. Bitte.«

Er kann gar nicht schnell genug aus seinen nassen Kleidern schlüpfen. Ich schaue mir seinen Express-Striptease wohlwollend an. Toni ist bis auf die Knochen durchnässt und schüttelt sich gerade wie ein Hund. Sein Körper ist schön, knackig, durchtrainiert. Er ist ein Bild von einem Mann, und nach vier Jahren gelingt es ihm noch immer, mein Blut zum Kochen zu bringen.

Er hält inne und fragt treuherzig: »Kommst du mit?«

Ich weiß, dass er jetzt eine heiße Dusche nehmen will, und ich folge ihm gern. Blacky wird ausgesperrt, was ihm gar nicht passt. Er kratzt an der Badezimmertür und bellt, aber wir hören das gar nicht, denn wir genießen die Freuden einer heißen Dusche und feiern das Wiedersehen auf unsere Weise.

Später sitzen wir in unserer winzigen Gaststube, in der nur gerade zwei lange Tische stehen und wo maximal zwanzig Leute Platz haben. Ja, hier oben weiß man, dass meist nur bei schönem Wetter Gäste kommen. Auf den beiden spektakulären Terrassen haben immerhin achtzig Leute Platz. Außerdem gibt es noch ein kleines »Stübli« mit einem Schwedenofen und 25 Sitzplätzen. Das ganze Gebäude ist in den Fünfzigerjahren abenteuerlich an den Hang gebaut worden, alles sehr einfach. Manchmal schicke ich ein Stoßgebet zum Himmel, dass wir nicht eines Tages mit unserem Hab und Gut den Hang hinuntergewindet oder weggeschwemmt werden. Ohne die betörende Aussicht würde wahrscheinlich niemand hier einkehren. Doch ohne diese Aussicht wären ja auch wir nicht hier.

Zu Tonis Begrüßung verziehen sich gerade die Wolken. Es regnet zwar weiter, aber der Blick ins Tal wird frei. Die Muota spült große Mengen dreckigen Wassers in den Vierwaldstättersee. Die Schiffe fahren ihren gewohnten Zickzackkurs, die Autos kurven über die Axenstraße. Man fühlt sich sofort besser und weniger abgeschottet, wenn man ins Unterland sehen kann.

Toni hat einen ordentlichen Hunger mitgebracht. Wir essen ein spätes Frühstück. Ich schlage ihm zwei Eier in die Pfanne, frisch gelegt von Rosalie und Mathilda, unseren beiden Hühnern, die erst seit einem Monat hier bei uns wohnen. Blacky hat sich direkt auf Tonis Füße gelegt, als möchte er verhindern, dass dieser uns allzu schnell wieder verlässt. Eine interessante Taktik.

»Ich habe den Nachtzug genommen, direkt von Rotterdam in die Schweiz. Ich wollte keine Zeit verlieren. Du hast mir gefehlt.«

»Schön.«

»Ich muss aber heute trotzdem noch ein paar Stunden schlafen.«

»Sicher.«

Wir schauen uns an. Es könnte alles so schön sein. Mir entfährt ein kleiner Seufzer.

»Wie wars hier?«, fragt Toni und nimmt meine Hände in seine, versenkt seine Augen in meine.

»Oh, wir hatten eine ganz wilde Woche, einen super Umsatz zwar, aber es war anstrengend«, erzähle ich. »Großartiges Wetter, dazu zwei Gesellschaften. Eine Gruppe war wirklich lustig. Eine fröhliche Veranstaltung. Werner Wigets sechzigster Geburtstag. Nach Mitternacht sind dann alle nach und nach mit der Bahn nach unten gegondelt. Es wäre alles perfekt gewesen, hätte mir nicht am Schluss noch ein Gast in die Kabine gekotzt.«

Toni hat zwar Mitleid, lacht aber trotzdem.

»Armes Radieschen. Und hattest du immer genug Hilfe?«

»Ja. Liselotte war fast immer hier. Und Lucia und Vreni halfen aus. Giuseppe hat die Seilbahn bedient. Das Abendessen für die eine Gesellschaft wurde von einem Caterer angeliefert. So ging das alles ganz gut.«

»Da bin ich froh.«

Ja, mein Toni hat manchmal ein schlechtes Gewissen. Das kann und will ich ihm nicht nehmen. Schließlich hat er mich hierhergeholt, 420 Kilometer weit weg von Frankfurt, meiner Heimatstadt, und jetzt muss ich hier alles allein stemmen. Aber es geht – es ist machbar –, weil ich normalerweise noch Doris habe, die aus unserer Miniküche das Maximum herausholt und auch sonst unermüdlich überall hilft.

»Wann kommt Doris wieder?«, fragt Toni auch prompt.

»Morgen.«

»Das ist gut. Dann haben wir vielleicht ein wenig Zeit für uns.«

Zeit für uns.

Das klingt wie Musik.

Man möchte gleich einen Song draus machen.

Zeit für uns, für dich und mich … schubiduuu …

Ja, Doris. Sie wohnt bei uns. Doris Decker, die kleine, dicke, blonde Frau aus München, die mir damals bei meiner Ankunft am Flughafen Zürich gleich als Erste aufgefallen war, weil sie so herzlich lachen konnte. Sie gehörte zu unserer Wander-Fasten-Single-Gruppe. Wir kamen uns schnell näher. Ich konnte den Impuls unterdrücken, nach den ersten Begegnungen mit den Teilnehmern der Gruppe gleich wieder kehrtzumachen und mit den nächsten Flieger heimzudüsen, weil sie mit dabei war.

Doris war tatsächlich auf Männersuche, da konnte die Reise ja nur eine Enttäuschung werden. Alexander aus Stuttgart war einer, der ihr ganz gut gefiel. Aber der schöne Besitzer einer Edelklamotten-Kette (EE – Eschenbach Exclusive) bedrängte sie nur und beschimpfte und verspottete sie, nachdem sie ihm eine Abfuhr erteilt hatte. Er wollte gar nicht mehr damit aufhören. Ja, und dann passierte das Unfassbare: Auf einem kleinen, abschüssigen Wanderweg im Urnerland, auf dem Wildheuerpfad, gab Doris dem geschniegelten Alexander einen kleinen Schubs, und weg war er. Er hatte sich gerade wieder einmal gestritten, diesmal mit Tabea, davor Doris noch einmal aufs Übelste beleidigt und verletzt. Als er dann direkt vor Doris ins Wanken geriet, half sie bloß ein ganz klein wenig nach, und der Mann stürzte in die Schlucht.

Ja, ja, ich weiß: Ich sollte das nicht beschönigen oder verniedlichen. Es war versuchte vorsätzliche Tötung, und so was geht natürlich gar nicht. Überhaupt nicht. Auch nach meinem persönlichen Rechtsempfinden nicht. Und trotzdem: Die ganze Reisegruppe stellte sich hinter Doris. Nicht einer von uns wollte sie für ihre Tat wirklich verurteilen, und immerhin hatte Alexander ja überlebt. Dazu kommt: Wenn sich Doris nicht selber gestellt hätte, wäre nie herausgekommen, was passiert war. Einige haben sich bei ihr im Knast gemeldet, schrieben Briefe, schickten Bücher und Geschenke. Ich glaube kaum, dass Alexander, der einen Schädelbruch erlitten hatte, also schwer verletzt im Krankenhaus lag, auch Zuwendung von einem Mitglied der Reisegruppe bekommen hatte. Das sagt doch alles. Es ist nicht immer alles schwarz oder weiß. Täter und Opfer sind nicht immer so klar zu definieren, wie es das Gesetz tut – natürlich tun muss.

Doris hat in der Frauenstrafanstalt Hindelbank eine Anlehre zur Köchin gemacht, sogar mit einer Zusatzausbildung in der Delikatessenschmiede. Es war ja abzusehen, dass sie als Vorbestrafte nicht mehr in ihrem alten Beruf als Lehrerin würde arbeiten können.

Und so bot es sich einfach an, Doris zu mir auf den Berg zu holen, sobald ich merkte, dass Toni mich nicht mehr unterstützen würde. Er war zuerst gar nicht begeistert.

»Wer weiß, was der Knast aus ihr gemacht hat? Viele Leute werden im Gefängnis nicht geläutert, sondern erst richtig kriminell. Wer weiß, was die dann für Leute hier anschleppt?«, zweifelte Toni.

Aber ich war kompromisslos. Er bekam seine Freiheit und ich Doris. Fertig.

Diese Entscheidung habe ich noch keine einzige Sekunde bereut. Das Leben auf dem Berg wäre mir sonst viel zu einsam geworden, und ohne eine Festangestellte könnte ich die Arbeit niemals schaffen. Diese auch noch als Freundin zu haben, ist der Idealfall, ein richtiges Geschenk.

»Ist Leonie wieder aufgetaucht?«, fragt mein Schatz, und es tut mir leid, dass ich ihm keine gute Nachricht liefern kann.

Seine Katze wohnt natürlich auch bei uns. Sie schien sich durchaus wohlzufühlen auf dem Berg, wohler als mitten in Luzern, wo Toni früher wohnte und wo sie ihn jeweils auf dem Balkon seiner Wohnung besuchte. Weil sie niemandem zu gehören schien, hat er sie schließlich mit zu uns auf den Berg genommen. Doch hier dauerten ihre Streifzüge schon bald immer länger, und sie kam immer öfter nicht heim. Jetzt vermissen wir sie seit sechs Wochen. Das klingt nicht gut. Trotzdem hoffen wir, dass sie irgendwann den Weg zu uns wiederfindet.

Kaum habe ich Toni über Leonies Fernbleiben informiert, kommt ein Gast: ein nasser Wanderer mit nassem Schäferhund. Beide schütteln sich in der Gaststube, verbreiten Dreck und Nässe, und dann kommt er, der Spruch: »Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung.«

Toni und ich schauen uns an und prusten los. Wir steigern uns in einen richtigen Lachanfall hinein, ziemlich unhöflich. Toni rinnt vor lauter Lachen etwas Kaffee seitlich aus dem Mund. Als wir uns erholt haben, erklären wir dem Wanderer unser Gelächter. Er versteht uns zwar nicht, scheint aber ein sonniges Gemüt zu haben. Jedenfalls lacht er ein wenig mit und verzeiht uns.

Toni geht eine Runde schlafen.

Während ich mit unserem Gast einen Tee trinke, toben die beiden Hunde durchs Restaurant. Hunde sind bei mir immer willkommen, sofern sie sich mit Blacky verstehen – was fast immer gelingt – und wenn sie meine Hühner in Ruhe lassen. Der Wanderer heißt Beny und kommt aus Brunnen, er ist bereits 77-jährig und extrem rüstig. Er wandert oft mit seinem Hund Hannibal den Weg hier nach oben, aber meist bei schönem Wetter. Deshalb hatte ich noch nie Zeit, mich näher mit ihm zu unterhalten. Das genießt er jetzt.

»Vielleicht komme ich nun öfter mal bei schlechtem Wetter, ich muss ja eh mit Hannibal raus«, erklärt er gut gelaunt, und noch bevor der Mann richtig trocknen konnte – das hätte wohl ohnehin den ganzen Tag gedauert –, macht er sich auf den Rückweg ins Dorf.