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Herausgegeben von der Europäischen Musikforschungsvereinigung Wien Jahrgang 70/2015 Heft 3 - Die Dirigentin - Geschlechterkampf im Orchestergraben?

Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ) | Jahrgang 70/03 | 2015

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von

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Anu Tali Foto: Kadri Tali

Liebe Leserinnen und Leser,

in periodischen Abständen besinnt sich die Musikpublizistik auf Mozarts Frauen, Beethoven und die Frauen oder die Frauen um Felix Mendelssohn Bartholdy – um nur einige Buchveröffentlichungen der letzten Jahre zu nennen. Bringen AutorInnen (beiderlei Geschlechts) im musikalischen Kontext »Frauen« ins Spiel, kann leicht der Eindruck entstehen, es sei von exotischen Wesen die Rede. Quer durch die Musikgeschichte erscheinen sie als Komparsinnen, Musen, erotische Objekte – und in Ausnahmefällen auch als Subjekte.

Im real existierenden Musikleben ist der weibliche Anspruch auf Repräsentation, auf »Quote«, dagegen in weiten Bereichen erfüllt: Von notorischen Männerbünden wie den Wiener Philharmonikern einmal abgesehen, sind in vielen Berufsorchestern mittlerweile mehr Frauen als Männer vertreten. Anders in den Zonen der leitenden Funktionen und Tätigkeiten. Kommt, so Anke Steinbeck in dem Buch Jenseits vom Mythos Maestro, »das exponierte Thema ›Führung‹« ins Spiel, so erscheint die Verteilung und die Wahrnehmung der Geschlechter weiterhin asymmetrisch. Beispielhaft lässt sich dies an der Figur des Dirigenten aufzeigen, über dessen Tätigkeit Elias Canetti 1960 schrieb: »Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck der Macht« – einer Macht, die nicht nur Theodor W. Adorno auf militärische Ursprünge zurückführte. Auch heute noch werden Dirigenten überwiegend mit männlich konnotierten Adjektiven wie »autoritär, charismatisch, überlegen, sicher, mächtig, …« beschrieben, wie Annkatrin Babbe in ihrem Beitrag zur aktuellen beruflichen Situation von Dirigentinnen schreibt (S. 11). Auch wenn mehr und mehr Frauen der »gläsernen Decke« trotzen, kämpfen die wenigen Dirigentinnen an der Spitze nach wie vor mit Vorurteilen. Auf der anderen Seite des Spektrums geschlechtlicher Stereotype erscheint eine Figur wie die Diva mit ihrer Aura von Sinnlichkeit, Extravaganz und lasziver Erotik als Verkörperung »weiblicher« Eigenschaften par excellence. Diese Zuschreibungen stehen emblematisch für das Rollendenken, das in manchen Teilen des Musikbetriebs ein längeres Haltbarkeitsdatum aufweist als in weniger geschützten Sphären.

Immerhin lassen die Äußerungen von Dirigentinnen in diesem Heft vermuten, dass das Kämpferische vielfach in den Hintergrund getreten ist und einem neuen Pragmatismus Platz gemacht hat – ein Indiz dafür, dass die Kategorie ›Geschlecht‹ auch in den exponierteren Bereiche des Musikbetriebes langsam, aber sicher an Bedeutung verliert. Doch es geht um mehr als eine gerechte Verteilung des Kuchens, die sich in Zahlen und Quoten fassen ließe. ›Performance‹ beginnt in der Musik nicht erst mit dem Heben des Taktstocks oder dem Erklingen des ersten Tones – sie umfasst auch die Rolle, die DirigentInnen und Diven beiderlei Geschlechts über die Aufführung hinaus spielen (müssen?). Weiter gehend als bei bisherigen Heften verlässt der Thementeil dieses Hefts die distanziert diagnostizierende Position und positioniert sich in einem umstrittenen Terrain überwiegend in eindeutiger und daher anfechtbarer Weise. Wir hoffen, dass die Pointierung die Diskussionen befördert. › Das Team der ÖMZ

Inhalt

Die Dirigentin Geschlechterkampf im Orchestergraben?

Annkatrin Babbe: Den »Titel ›Dirigentin‹ – also: Frau am Pult – zu überwinden« Zur Situation von Dirigentinnen im deutschsprachigen Raum

Eva Rieger: Dompteuse mit zarter Hand? Die Dirigentin gestern und heute

»Es steckt viel Mythos in diesem Beruf.« Simone Young im Gespräch mit Lena Dražić

Freia Hoffmann: Vom Taktstock-Diktator zum primus inter pares

Angelika Silberbauer: Die Körper der Diva

Extra: Der hohe Ton der Sängerin

Andrea Ellmeier und Doris Ingrisch: Genie und Diva

Statements, Kurzporträts und ein Kontrapunkt von

Lena-Lisa Wüstendörfer

Elisabeth Attl

Mirga Gražinytė-Tyla

Frieder Reininghaus

Nazanin Aghakhani

Bettina Schmitt

Anke Steinbeck

Marin Alsop

Elisabeth Fuchs

Elisa Gogou

Angela Gehann-Dernbach

Neue Musik im Diskurs

»Bei jeder Note dachte ich an die Person, die sie singen wird.« Joanna Woźny im Gespräch mit Lena Dražić

Berichte Oper in Österreich

Possierliche Vogelfänger: Gassmanns Uccellatori an der Wiener Kammeroper (Christoph Irrgeher)

Die Ferne – anheimelnd nah: Saariahos L’amour de loin in Linz (Frieder Reininghaus)

Wenn der Paternoster Leichen befördert: Elektra an der Wiener Staatsoper (Jörn Florian Fuchs)

Psychoanalyse mit der Brechstange: Le nozze di Figaro im Theater an der Wien (Johannes Prominczel)

Berichte Oper in Europa

Christian Josts Rote Laterne und Alvis Hermanis’ Schönste Sterbeszenen in Zürich, Pascal Dusapins Penthesilea in Brüssel, Arrigo Boitos Mefistofele in Prag, Verdis Macbeth in Amsterdam (Frieder Reininghaus)

Berichte Festivals

MaerzMusik (Magdalena Pichler)

Osterfestspiele Salzburg und Osterfestival Tirol (Walter Weidringer)

Berichte Konzerte in Wien

Klavierduo GrauSchumacher, Ensemble Phace (Jonas Pfohl)

Johannes Fischer, Klangforum Wien (Luise Adler, Lena Dražić)

Porträt Clemens Nachtmann (Philip Röggla)

Berichte Symposien

Historiography on Display (Julia Jaklin)

Florian Leopold Gassmann: Gli uccellatori (Anna-Maria Pudziow)

Rezensionen

Bücher

CDs und DVDs

Das andere Lexikon

Hexenmusik (Lena Dražić)

News

Gepriesen sei das Preisen

Zu guter Letzt

Deutungshoheit in der Aufmerksamkeitskultur

Autorinnen dieser Ausgabe, Vorschau

THEMA

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Den »Titel ›Dirigentin‹ – also: Frau am Pult – zu überwinden«
Zur Situation von Dirigentinnen im deutschsprachigen Raum

Annkatrin Babbe

Nach steinigen Anfängen sind Dirigentinnen heute so präsent wie nie zuvor. Dennoch müssen sich Frauen am Pult großer Orchester weiterhin gegen hartnäckige Vorurteile behaupten. Allenthalben werden ihnen von männlichen Rivalen mangelndes Führungsvermögen oder störende »sexuelle Energie« angelastet. Der vorliegende Beitrag skizziert die gegenwärtige Situation von Dirigentinnen im deutschsprachigen Raum und versucht mögliche Ursachen für die weiterhin bestehende Unterrepräsentanz von Frauen in dieser Berufsgruppe zu benennen.

»Ich als Frau, Dirigentin und Kollegin [fordere] Sie zu einem Konzert-Duell in Oslo heraus, bei dem wir beide mit dem gleichen Orchester abwechselnd die gleichen Stücke aufführen. Wir stammen beide aus Russland, haben beide Familie und ein Kind, sind beide im gleichen Alter. Das einzige, was uns unterscheidet, ist das Geschlecht«1. Zu demonstrieren, dass zwischen Dirigentinnen und Dirigenten vor allem bezüglich Fach- und Führungskompetenz kein Unterschied besteht – das intendierte Anna Skryleva, 1. Kapellmeisterin am Staatstheater Darmstadt, mit ihrer Aufforderung an den Dirigenten der Filharmonien Oslo, Vasily Petrenko. Dieser hatte zuvor der Zeitung Aftenposten gegenüber geäußert, dass Frauen für den DirigentInnenjob weniger geeignet seien als Männer. Durch eine Dirigentin würden die Musiker – ob der »sexuellen Energie« der Frau – abgelenkt und daher unkonzentrierter spielen.2 Zudem seien für Frauen durch etwaige familiäre Verpflichtungen größere Schwierigkeiten mit dem Beruf verbunden. In ihrem offenen Brief vom 4.9.2013 wandte sich Skryleva an Petrenko, auch um mit solch hartnäckigen Gemeinplätzen aufzuräumen und außerdem klarzustellen: Es ist nichts Anderes, nichts Außergewöhnliches, wenn Frauen am Pult stehen.

Vor allem ist es auch nichts Neues: Dirigentinnen gibt es seit Jahrhunderten. Bereits vor und um 1800 übernahmen Frauen im europäischen Raum die Leitung von Orchestern. Vom Tasteninstrument aus »dirigierten sie zumindest Liebhaberkonzerte, halböffentliche und häusliche Aufführungen«3, in anderen Fällen leiteten Frauen auch öffentliche Konzerte von der Geige aus. Die Loslösung des Dirigierens vom Instrument und die Herausbildung des neuen Berufsbildes im 19. Jahrhundert implizierte einen »Zuwachs an Autorität« sowie den »Nimbus eines kongenial nachempfindenden Interpreten«4. Als »Inbegriff ›musikalischer Macht‹ und verklärender Genieästhetik«5 blieb damit gerade Dirigieren den Männern vorbehalten, schließlich stand die Tätigkeit mit dem Idealbild der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft in Konflikt. Dennoch traten einige Frauen weiterhin vor Orchester.

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Auch im 19. Jahrhundert traten einige Frauen vor Orchester, darunter Fanny Hensel (geb. Mendelssohn; 1805–1847). Ölbildnis von Moritz Daniel Oppenheim, 1842.

Im 19. Jahrhundert waren dies unter anderem Fanny Hensel und Nina Stollewerk, außerdem Josephine Amman-Weinlich, die nicht nur das Erste Europäische Damenorchester gegründet und geleitet, sondern später auch Lissaboner Berufsorchester dirigiert hat, und Juliette Folville, die sich 1890 als erste Dirigentin vor das Concertgebouw Orchester in Amsterdam gestellt hat. Im 20. Jahrhundert erlangten Ethel Leginska, Nadia Boulanger und Antonia Brico ansehnliches Renommee. Später, Mitte der 1970er-Jahre, machten sich Dirigentinnen wie Sylvia Caduff, bekannt als eine der ersten Frauen am Pult der Berliner Philharmoniker, und Jane Glover einen Namen. Ihnen folgten Dirigentinnen wie Marie-Jeanne Dufour, Romely Pfund, Alicja Mounk, Marin Alsop und Sian Edwards. Heute sind es Namen wie jene von Simone Young, Julia Jones, Karen Kamensek, Susanna Mälkki, Anu Tali, Joana Mallwitz und Xian Zhang, die in der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen.

Basierend auf schriftlichen Interviews mit Dirigentinnen6 sowie Umfragen zur Ausbildung an Musikhochschulen und Konservatorien an deutschen, österreichischen und schweizerischen Institutionen, außerdem auf der Kenntnisnahme bisheriger Forschungsergebnisse, soll der vorliegende Beitrag die gegenwärtige Situation von Dirigentinnen im deutschsprachigen Raum skizzieren und darüber hinaus einige mögliche Ursachen für die weiterhin bestehende Unterrepräsentanz von Dirigentinnen zu benennen versuchen.

Dirigentinnen heute

An vielen Orchesterinstrumenten sind Musikerinnen längst etabliert. Geigerinnen belegen mittlerweile in einigen Orchestern des deutschsprachigen Raums die meisten Plätze innerhalb der Instrumentengruppe. Flötistinnen hatten die männlichen Kollegen schon kurz nach der Jahrtausendwende quantitativ überrundet.7 Lediglich Kontrabassistinnen, Blechbläserinnen und Perkussionistinnen werden noch immer als Ausnahmen unter den InstrumentalistInnen hervorgehoben. Auch Dirigentinnen gelten noch nicht als selbstverständlich.

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Zwei der wenigen Dirigentinnen, die gelegentlich vor österreichischen Berufsorchestern stehen: Julia Jones und Eun Sun Kim (rechte Seite). Foto: Maurice Korbel

Während in den elf vom Deutschen Musikinformationszentrum (MIZ) aufgeführten Rundfunkorchestern in der aktuellen Spielzeit (2014/2015) keine Dirigentinnen beschäftigt sind, haben in den 111 Konzert- und Theaterorchestern Deutschlands, die das MIZ unter dieser Rubrik auflistet, derzeit siebzehn Musikerinnen als Dirigentinnen im weiteren Sinne eine Anstellung gefunden.8 Drei Generalmusikdirektorinnen befinden sich unter ihnen: Joana Mallwitz, Simone Young und Karen Kamensek. Als 1. Kapellmeisterin sind in deutschen Orchestern zwei Musikerinnen engagiert, als 2. Kapellmeisterin drei. Eine Musikerin ist außerdem als Kapellmeisterin aufgeführt, eine weitere als Dirigentin eines Opernorchesters sowie zwei als Dirigentinnen von Philharmonischen Orchestern. Fünf haben darüber hinaus eine Anstellung als Korrepetitorin mit Dirigierverpflichtung. Nicht unbeachtet bleiben sollen außerdem die Korrepetitorinnen, deren Zahl sich auf 23 (darunter vier Studienleiterinnen) beläuft. Längst nehmen KorrepetitorInnenstellen nicht mehr denselben Stellenwert als Vorstufe für die Laufbahn als KapellmeisterIn oder DirigentIn ein wie noch im 19. und 20. Jahrhundert. Dennoch besteht diese Möglichkeit weiterhin, wie auch an der Verknüpfung der Aufgaben von KorrepetitorIn und KapellmeisterIn an einigen Häusern deutlich wird.

Nur wenige Dirigentinnen sind in der österreichischen Berufsorchester-Landschaft anzutreffen. Festanstellungen gibt es hier offenbar nicht. Lediglich bei zwei Orchestern übernehmen in der derzeitigen Spielzeit Dirigentinnen als Gäste die musikalische Leitung von Musiktheaterproduktionen. Mit Simone Young an der Wiener Staatsoper und Julia Jones, Eun Sun Kim sowie Kristiina Poska an der Wiener Volksoper ist die Zahl der Dirigentinnen nicht nur überschaubar, sondern auch die Namen der Musikerinnen sind bereits bekannt, haben doch drei von ihnen bereits Anstellungen in Deutschland: Simone Young bekleidet das Amt der Generalmusikdirektorin in Hamburg und hat schon zuvor mit den Wiener Philharmonikern gearbeitet, Kristiina Poska ist als Kapellmeisterin in Berlin tätig und Eun Sun Kim an der Oper Frankfurt. Auch Julia Jones, mittlerweile freischaffend tätig, ist längst etabliert.

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Die Grünen Frauen Wien zeigen sich anlässlich dieser Situation alarmiert und fordern im Zuge von Gleichstellung und der Beseitigung von Diskriminierung im künstlerischen und kulturellen Leben unter anderem »auch das regelmäßige Engagement von Dirigentinnen ans Pult der Wiener Philharmoniker (und anderer hoch subventionierter Klangkörper in Österreich)«9.

Ähnlich wie in Österreich gestaltet sich auch die Situation von Dirigentinnen in Schweizer Berufsorchestern.10 Mit Mirga Gražinytė-Tyla als 1. Kapellmeisterin am Theater Bern ist zumindest eine Festanstellung zu verzeichnen. Darüber hinaus sind in den dreizehn Berufsorchestern keine weiteren Dirigentinnen zu finden.

Ausbildung

Seit Beginn der 1990er-Jahre kann neben einem steten Anstieg der Studierendenzahlen in den Fächern Dirigieren bzw. Orchesterleitung an deutschen Musikhochschulen und Konservatorien auch eine Zunahme des Anteils von Studentinnen in diesen Fächern verzeichnet werden. Waren im Wintersemester 1992/1993 noch 210 Studierende für die entsprechenden Fächer immatrikuliert, stieg ihre Zahl bis 2013/2014 mit einigen Schwankungen (meist einhergehend mit der Gesamtzahl der Musikstudierenden) auf 305 an.11 Der Anteil der Studentinnen betrug 1992/1993 20 Prozent, im Wintersemester 2013/2014 waren 35 Prozent der Studierenden weiblich.12 Auch die Zahl der Absolventinnen steigt tendenziell weiter.

Der geringe Rücklauf der an die deutschen, österreichischen und schweizerischen Hochschulen gerichteten Anfragen nach Studierendenzahlen13 in den Dirigierklassen erlaubt keine repräsentativen Aussagen über die gegenwärtige Ausbildungssituation von DirigentInnen. Insgesamt zeichnen sich aber grundlegende Unterschiede zwischen den Hochschulen ab: Während an einigen Musikhochschulen und Konservatorien gar keine Studentinnen in den Fächern Orchesterleitung bzw. Dirigieren zu finden sind, bewegt sich ihr Anteil an anderen Institutionen in den Klassen gegenwärtig (Wintersemester 2014/2015) zwischen 10 und 75 Prozent. Als ein Grund für die in den meisten Fällen geringen Studentinnenzahlen werden seitens einiger Hochschulen auffallend geringe Bewerberinnenzahlen genannt. Wiederholt wird auch darauf verwiesen, dass der Frauenanteil im Fach Orchesterdirigieren auffallend gering ist, sich die Geschlechterverhältnisse über das Chordirigieren hin zum Fach Kinder- und Jugendchorleitung dagegen umkehren.

So offensichtlich die quantitative Unterlegenheit von Studentinnen in den Fächern Dirigieren bzw. Orchesterleitung in den Statistiken ist, so wenig scheint sich dies im Studienalltag bemerkbar zu machen. Unterstützung, berichtet eine der befragten Dirigentinnen, habe es für »alle Studentinnen und Studenten in jeglicher Hinsicht« (D10) gegeben. Dass sie nach dem Studium, unabhängig vom Geschlecht, »mit etwas Engagement alles erreichen könn[t]en« (D10), dieses Gefühl haben auch weitere Dirigentinnen gehabt: »Während der Ausbildung«, berichtet eine der Befragten, »gab es keine einzige Bemerkung zum Thema ›Frau als Dirigentin‹, was sehr löblich, aber doch überdenkenswert ist, weil ich in keinster Weise auf dieses Thema in der Praxis vorbereitet war. Es war mir tatsächlich nicht bewusst. Für mich war alles ganz natürlich und normal! […] Bis die WELT VON AUSSEN auf mich zukam … beim ersten Engagement« (D4).

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Dirigenten wie Paavo Järvi tragen zur Dekonstruktion des Mythos Maestro bei. Foto: Julia Baier

Suche nach Gründen

Eigentlich scheinen die Weichen richtig gestellt. Einige Musikhochschulen bzw. Konservatorien geben an, sich explizit um die Aufnahme von Frauen für die Fächer Dirigieren bzw. Orchesterleitung zu bemühen. Die Zahl der Studentinnen nimmt weiter zu. Im Rahmen der Ausbildung scheint es keine auf das Geschlecht bezogenen Vor- oder Nachteile für die Studierenden zu geben und auch die OrchestermusikerInnen zeigen sich Dirigentinnen gegenüber größtenteils aufgeschlossen. Von einer »Zementierung ihres Ausnahmestatus«14 kann keine Rede mehr sein, das verbietet allein die erfolgreiche Tätigkeit von Dirigentinnen im gegenwärtigen Musikleben. Dennoch bleibt ihre Zahl gerade in dem geographischen Raum mit der größten Orchesterdichte weiterhin gering.

OrchestermusikerInnen nannten, 2008 in einer Studie von Anke Steinbeck nach möglichen Ursachen für die Unterrepräsentanz von Dirigentinnen gefragt, in erster Linie die männliche Konnotation des Berufsbildes. Das überrascht nicht: Sabine Boerner und Diana E. Krause befragten um die Jahrtausendwende OrchestermusikerInnen nach jenen Eigenschaften, durch die Dirigenten überzeugen würden. Aus Sicht der MusikerInnen in den Orchestern sämtlicher Tarifgruppen sind dies in erster Linie künstlerische Kompetenz, Konzentration und klare, deutliche Ansagen. In den hoch vergüteten deutschen Orchestern der Tarifklassen A/F1 und A nannten die MusikerInnen mit »autoritär, charismatisch, überlegen, sicher, mächtig, zuverlässig, vertrauenserweckend, distanziert und weniger einfühlsam«15 zudem gerade solche Attribute, die noch heute vornehmlich männlich belegt sind. Mit dem Auftreten einer neuen Generation von Dirigenten, beispielhaft sei auf Sir Simon Rattle, Paavo Järvi und Kent Nagano verwiesen, ist ein grundlegender Wandel zu bemerken. Sie dekonstruieren den Mythos Maestro mit ihrem Auftreten und ihrem Selbstverständnis, indem sie Kommunikation und Kooperation – und damit Handlungsweisen, die nicht allein männlich konnotiert sind – in den Fokus der Arbeit rücken.

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Lassen die »gläserne Decke« rissig werden: Generalmusikdirektorinnen wie Joana Mallwitz (Erfurt). Foto: Nikolaj Lund

Dass OrchestermusikerInnen – vor allem die jüngeren – sich bereits zum Großteil aufgeschlossen gegenüber Dirigentinnen zeigen, dass sie ihnen im gleichen Maße wie ihren Kollegen die nötige fachliche Kompetenz und Führungsqualität zutrauen, spielt hier positiv mit hinein. Der Vergangenheit gehört die Zuschreibung geschlechterstereotyper Attribute damit jedoch nicht an. Noch 2008 war, das stellt Anke Steinbeck fest, »die Zahl der MusikerInnen, die (versteckt oder offen) Vorbehalte gegenüber Dirigentinnen äußerten oder in ihrem Orchester feststellten, doch überraschend groß«.16 Auf Vorbehalte verweisen auch einige der befragten Dirigentinnen. Dass »gerade auch von Musikerinnen so etwas wie Konkurrenz ausgeht oder dass einem nicht von vornherein so viel Vertrauen entgegengebracht wird wie männlichen Kollegen« (D10), berichtet eine der befragten Dirigentinnen, »da ist häufig so eine Barriere zwischen Dirigentin und OrchestermusikerInnen.« Unmittelbarer war eine diesbezügliche Erfahrung einer Kollegin: »Ein Musiker sagte mir knallhart, dass er unter der Leitung einer Frau unfähig sei zu musizieren.« Dass grundsätzlich aber bei der Arbeit mit dem Orchester das Geschlecht kaum mehr eine Rolle spiele, darin stimmen die meisten der befragten Dirigentinnen überein. So zähle vor allem »das fachliche Wissen, die Motivation und Inspiration« (D3).

Ablehnende Haltungen erfuhren einige Dirigentinnen auch aus Richtung der Künstlerischen Leitung sowie seitens der Künstleragenturen. Folgt man den Bemerkungen, so scheint die »gläserne Decke« zwar porös, aber noch immer existent zu sein: »Wenn (männliche) Generalmusikdirektoren, die für die Vorauswahl verantwortlich zeichnen, nur Männer einladen, ist klar, dass die Posten nicht an Frauen vergeben werden können« (D7). Nicht von der Hand zu weisen ist jedenfalls die Tatsache, dass Frauen gerade auch an solchen Häusern als Dirigentinnen angestellt werden, an denen eine Frau den GeneralmusikdirektorInnenposten innehat. Karen Kamensek war unter Simone Young stellvertretende GMD in Hamburg, sie selbst arbeitet in Hannover mit Anja Bihlmaier als 2. Kapellmeisterin und Kaling Khouw als Korrepetitorin mit Dirigierverpflichtung, und in Erfurt ist bei der GMD Joana Mallwitz Zoi Tsokanou als 2. Kapellmeisterin tätig. (Damit sind in Deutschland zwei der drei 2. Kapellmeisterinnen an Häusern mit Generalmusikdirektorinnen angestellt).

Diskriminierend seien des Weiteren auch die Reaktionen von Orchester- bzw. Theaterleitungen auf Frauen mit familiären Verpflichtungen. Wiederholt wird jenen Dirigentinnen »unterstellt, dass sie nicht so belastbar und flexibel und damit für den Beruf nicht so geeignet seien wie die männlichen Kollegen« (D3). Mittlerweile mutet ein solches Argument vor dem Hintergrund des Rechts auf Elternzeit für beide Elternteile, ganztägiger Kinderbetreuung etc. anachronistisch an, selbst für einen Bereich, der mit Arbeitszeiten in den Abendstunden und Reisetätigkeit per se nicht zu den familienfreundlichsten zählt.

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In manchen Instrumentengruppen gelten Frauen bis heute nicht als selbstverständlich: die Kontrabassistin Clara Gervais. Foto: Susanna Drescher

Das Feuilleton als Träger öffentlicher Meinung transportierte über lange Zeit mit großer Beharrlichkeit die Außergewöhnlichkeit von Dirigentinnen. Von eindeutig sexistischen Bemerkungen bis hin zu leisen Andeutungen auf das Geschlecht reichen die Aussprüche, die die Wahrnehmung der Dirigentinnen als Ausnahmen weiter perpetuiert haben. Vor allem bei Dirigentinnen, die Spitzenpositionen besetzen bzw. besetzt haben, scheint der Fokus mittlerweile aber deutlich verschoben: Vom Äußeren auf das Fachliche. Der von Elke Mascha Blankenburg als zementiert angesehene »sexistische Blick auf eine schöne und junge Frau am Pult«17 ist schon längst nicht mehr mit der Vehemenz und Beharrlichkeit wie noch vor einigen Jahrzehnten festzustellen. Hinweise auf das Geschlecht und die Andersartigkeit der Dirigentinnen scheinen in den Konzertrezensionen weiter in den Hintergrund zu rücken, künstlerische Aspekte dagegen an Bedeutung zu gewinnen.

Die Präsenz von Dirigentinnen wird immer selbstverständlicher, wenngleich ihnen gegenwärtig noch immer die Etikettierung der Exklusivität anhaftet. Bedingt wird dies durch ein Konglomerat aus Ursachen. Es allein mit dem Erheben männlicher Konkurrenz über weibliche Tätigkeit zu erklären, wäre viel zu kurz gegriffen. Stattdessen sind es die – wenn auch immer seltener anzutreffenden – Vorbehalte der OrchestermusikerInnen und Künstlerischen Leitungen an den Häusern, es sind auch die durch RezensentInnen fortgetragen Bilder, mit denen eine knackige Aussage, ein Blickfang für die LeserInnen gelingen soll.