IMPRESSUM
Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ) | Jahrgang 70/06 | 2015
ISBN 978-3-99012-219-8
Gegründet 1946 von Peter Lafite und bis Ende des 65. Jahrgangs herausgegeben von Marion Diederichs-Lafite
Erscheinungsweise: zweimonatlich
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Liebe Leserinnen und Leser,
2015 hat sich Europa sichtbarer und spürbarer verändert als je in den letzten Jahrzehnten. Während wir die Texte dieses Heftes Korrektur lesen, nimmt an der Südgrenze das »Türl mit Seitenteilen« festere Konturen an. Der österreichische Kanzler, der noch kurz zuvor Viktor Orbán wegen dessen gravierenden Mängeln bei der »Willkommenskultur« scharf rügte, lässt mitteilen, auch unser Land brauche nun »eine technische Sicherungsmaßnahme«. Die Rechtspopulisten feixen. Während eine Minderheit aufreibende tätige Hilfe leistet, hält die vorherrschende Ratlosigkeit hinsichtlich Lösungen für die immensen Herausforderungen an.
In dieser Situation müht sich der größte Teil der für die Büchermärkte produzierten Literatur, unterhaltsam und dadurch marktgängig zu sein. Dennoch hält sich der Glaube, sie sei auch Indikator gesellschaftlicher Zu- und Miss-Stände – zumindest ein halbwegs zuverlässiges Fähnlein im Wind. Und was zeigt das im Herbst 2015 an? Der Trend zum leicht Konsumierbaren, TV-Prominenten und Esoterischen hat sich noch verstärkt. Stattliche Batterien von Büchern versprechen Starthilfe beim Rennen nach dem Glück (das Glück rennt hintendrein). »Neu ist die tiefe Zuneigung für überkonfessionelle Esoterik (Rhonda Byrne, Dalai Lama), sie löst die theologischen Schlachten der Vergangenheit (Küng gegen Ratzinger) ab«, resümiert Hannes Hintermeier (FAZ 14.10.2015).
Mit der Musik und dem Musiktheater verhält es sich grundsätzlich nicht viel anders als mit der Belletristik. Der Unterschied besteht darin, dass die Tonkünste und die von jahrelangen Vorlaufzeiten abhängigen größeren Musiktheaterbetriebe nicht so schnell auf die virulenten Themen Islam, Flüchtlinge und Integration reagieren (können) – die »kleineren Formate« (ÖMZ 5/2015, S. 88f.) und verschiedene Genres der populären Musik jedoch durchaus. In den Hauptfeldern reagiert der Musikbetrieb durch verstärktes Angebot von Wohlfühlmusik und durch die Ausweitung der Seichtgebiete bei der Moderation von Musik.
Je komplizierter die Gegenwart empfunden wird, desto größer erweist sich offensichtlich das Bedürfnis nach »geistlichem Halt«, nach tönender Seelenwärme und nicht zuletzt überkonfessionell klingender Esoterik. Dass eine Mehrheit der Produzenten und Konsumenten von Musik des verschiedensten Zuschnitts nicht ohne (individuell höchst unterschiedlich definierte!) Spiritualität auskommt und dass gerade auch im Musik(theater)leben deren Anschwellen spürbar ist, durchzieht die Texte des Thementeils in diesem Heft. Die Geister von Musik(auffassungen), die neue Balancen herzustellen trachten für ein »Leben im Ungleichgewicht«, scheinen – in der Regel eher unauffällig – auf dem Vormarsch. Unter ästhetischen Auspizien kommt es ebenso auf die Dosierungen und Intensitätsgrade wie auf die Formen und Intonationen an. Ein Wiener Komponist und Dirigent gibt in diesem Kontext zu bedenken, dass »Spiritualität in dem Moment, da man sie zum kommerziellen und kommunizierbaren Allgemeingut erhebt, nicht mehr existiert« (s.S. 20). › Das Team der ÖMZ
Spiritualität als Gnade und Zumutung
Johannes Prominczel: Adolf Holl über Spiritualität und Heilige Geister
Elisabeth Merklein: Wie Buddha in den Baumarkt kam Neue spirituelle Bewegungen und ihre Musiken
Ein Fenster ins Reich des Unbewussten Johannes Kalitzke im Gespräch mit Judith Kemp
Maria Helfgott: Die Zustände der Kirchenmusik in Österreich
Frieder Reininghaus: Mancherlei Opernmirakel Schein der Heiligkeit und neue Glaubensbotschaften
Johannes Prominczel: Alte Spiritualität Frömmigkeit im barocken Wien
Statements von:
Brigitta Muntendorf
Peter Paul Kaspar
Thomas Daniel Schlee
Hannes Heher
Samy Moussa
Franz Thürauer
Christoph Schönborn
Hermann Nitsch
Hermann Platzer
Dieter Schnebel
Moritz Eggert
Neue Musik im Diskurs
Doris Weberberger: Paradoxe Autonomie Der Erste-Bank-Kompositionspreisträger Peter Jakober im Porträt
Fokus Wissenschaft
Judith Kemp: Die Auferstehung eines Chores Viktor Veleks Monographie über den tschechischen Chor Lumír in Wien
Extra
Zum aktuellen Zustand des freien (Musik-)Theaters in Österreich Markus Kupferblum im Gespräch mit Magdalena Pichler
Davids Dilemma Gesine Schröder, Boris von Haken, Frieder Reininghaus und Peter Tiefengraber im Gespräch über Johann Nepomuk David (1895–1977)
Berichte Großes Theater
Ältere religiöse Bräuche – vier ausgewählte Premieren zum Auftakt der Opernsaison 2015/16: Schönbergs Moses und Aron in Paris, Spontinis La Vestale in Brüssel, Henzes Die Bassariden in Mannheim, Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern in Frankfurt (Frieder Reininghaus)
Donaueschinger Musiktage (Max Nyffeler)
Schrekers Der ferne Klang in Graz (Ulrike Aringer-Grau)
Aus Österreichs Hain und Flur
Musikprotokoll im Steirischen Herbst (Philipp Röggla)
Klangspuren Schwaz (Ursula Strohal)
Udo Zimmermanns Weiße Rose in Linz (Irene Suchy)
Symposion: Polemische Arien in Salzburg (Susanne Kogler)
Kleines Format
Schostakowitschs Die Nase in Wien (Judith Kemp)
Unterpertingers judith/schnitt_blende in Wien (Juri Giannini)
Kats-Chernins Schneewittchen und die 77 Zwerge in Berlin (Katrin Gann)
Rezensionen
Bücher
CDs
Das andere Lexikon
Sacropop (Christiane Florin)
News
Wintermärchen
Zu guter Letzt
Krisenmanagement (Frieder Reinginhaus)
Vorschau
Adolf Holl ist nicht nur Theologe, ehemaliger katholischer Priester und als Kirchenkritiker ein bekannter gläubiger Querdenker, sondern als Publizist Ghostwriter des weithin unterbelichteten dritten Teils der Trinität: Die Linke Hand Gottes, Biographie des Heiligen Geistes (1997) war wohl sein größter Erfolg. Das Werk erwies sich im deutschen Sprachraum als erfolgreich, wurde ins Englische übersetzt und über den Book of the Month Club in den USA mehr als 40.000 Mal verkauft. Holl wurde 1954 zum Priester geweiht und promovierte ein Jahr später in Theologie an der Universität Wien. Später wurde er Dozent an der Theologischen Fakultät, verlor allerdings im Zuge der Veröffentlichung seines Buchs Jesus in schlechter Gesellschaft (1971) die Lehrbefugnis und wurde einige Jahre später vom Priesteramt suspendiert. Er fungierte in der ORF-Sendung Club 2 als Diskussionsleiter und schrieb mehr als dreißig Bücher. Noch heute gehört der Vormittag des mittlerweile 85-Jährigen der Arbeit, nicht zuletzt an seinem nächsten publizistischen Werk.
»Der Heilige Geist, das ist eine sehr alte Formulierung, die sich schon im Alten Testament – etwa im Buch Jesaja – findet«, erklärt Holl. Die Trinität des Kreuzzeichens wird im Matthäusevangelium erstmals erwähnt. Vater und Sohn sind leicht verständlich, aber was soll der Heilige Geist sein? Eine Taube? – »Möglicherweise ein Übersetzungsfehler«, mutmaßt er. Das hebräische Ruach lässt sich vielleicht am besten mit »Luft in Bewegung« übersetzen, griechisch nennt man den Heiligen Geist Pneuma Hagion, im Lateinischen Spiritus Sanctus.
Dieser »Spiritus« ist auch Namensgeber für den Spiritual in der Priesterausbildung: Der geistliche Begleiter sei zuständig für die Betrachtungsübungen, Belehrungen und die Beichte, so auch in Holls eigener Zeit im Priesterseminar. Von den neunzig jungen Männern, die mit ihm kurz nach dem Krieg das Priesterseminar besucht hatten, habe sich keiner an dem Wort »Spiritual« gestoßen, »wir haben uns höchstens über unseren Spiritual lustig gemacht, weil sein Talar etwas zu kurz und sein Scheitel etwas zu glatt gezogen war.«
Vor vielleicht dreißig oder vierzig Jahren bemerkte Holl das vermehrte Auftreten des Wortes »Spiritualität« in Zeitungsartikeln, Vorträgen und Büchern. Die Öffentlichkeit habe geradezu versucht, das Wort »Religion« zu vermeiden und durch die »Spiritualität« zu ersetzen. »Wenn ich ›Religion‹ sage, sage ich notwendigerweise ›Kirche‹, denn eine Religion ohne Kirche muss erst erfunden werden. Und damit gehen unangenehme Assoziationen einher.« Hier nennt er das Versäumnis der großen abendländischen Kirche (Singular!), der evangelischen und der katholischen, Hitler flächendeckend Widerstand zu leisten, aber auch Inquisition, Kreuzzüge und in jüngerer Zeit publik gewordene Missbrauchsfälle. Kirche und Religion waren unmodern geworden, wozu auch fernöstliche spirituelle Strömungen, die in den 1960er-Jahren im Zuge der Hippiebewegung an Einfluss gewannen, beigetragen haben könnten.
»Spirituelle Suchbewegungen waren auch eine Folge des Linkstrends der Jahre davor – Stichwort 1968er-Bewegung«, meint Holl. Etwa wäre er einmal von Betreibern einer linken Buchhandlung kontaktiert worden. Ihnen sei bewusst geworden, dass ihr politisches Engagement ihnen zu wenig sei, weshalb sie ihn für einen Vortrag einluden. Zu dem Vortrag kamen dann hundert Zuhörer – Linke, die nach Alternativen suchten.
Durch die vielleicht vorschnelle Loslösung von religiösen Strukturen war ein Vakuum entstanden, das man zu füllen trachtete.
Heute, erzählt Holl, sei Spiritualität, wie sie in der Gesellschaft gang und gäbe ist, zu einem Wellnessphänomen geworden, etwas Leichtem, Gemütlichem, Angenehmem. Der von seinem Arbeitsalltag überforderte Manager begibt sich in ein Wellness-Hotel und findet dort einen schön eingerichteten Raum, in dem Meditationsmusik gespielt wird und Räucherstäbchen brennen. Und er legt sich auf den Rücken, starrt in die Luft und ist seiner Meinung nach spirituell unterwegs. Tatsächlich hat er nichts riskiert. Denn dieses sogenannte spirituelle Erlebnis hat kaum Auswirkungen auf seinen Alltag.
Im Gegensatz dazu ist in Holls Auffassung als Theologe und Religionswissenschaftler die Begegnung mit dem Heiligen Geist mit riskanten, vielleicht auch gesellschaftlich verändernden Vorkommnissen verbunden. Er verweist dabei zum einen auf die Weggefährten des Franz von Assisi – ebenfalls Spiritualen genannt –, die für ihre Überzeugung auf dem Scheiterhaufen endeten. Zum anderen nennt er sein Buch Jesus in schlechter Gesellschaft, das seinen Ruf als Außenseiter, Störenfried und Kirchenkritiker begründete und ihm schließlich den Verlust des Priesteramtes brachte. Er bringt die Reflexion des Verlusts auf die scharf sitzende Pointe: »Die Kraft des Heiligen Geistes kennt kein Pardon.«
Die heute am kräftigsten wachsende christliche Bewegung sind die Pfingstgemeinden, die Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA gegründet wurden, erzählt Holl. Die Mitglieder beginnen in einer durch Trance induzierten Form wirr zu reden, vielleicht eineinhalb bis zwei Minuten lang, verdrehen die Augen, haben Schaum vor dem Mund. Es werden Heilungsrituale zelebriert. In der ganzen Welt, vor allem in Asien und in Lateinamerika, aber auch bei uns, gibt es solche Gemeinden. Besonders sozial benachteiligte Schichten, arme Bevölkerungsgruppen werden davon angesprochen, da sie sehr gute Gründe haben, mindestens einmal in der Woche dem »inneren Monolog« zu entfliehen. Und genau die Entlastung dieses inneren Monologs sei ein wesentlicher Aspekt all dieser Suchbewegungen. Eine Möglichkeit liege darin, Stille zu suchen, »was genauso gut in einer leeren Kirche möglich ist, wie bei einer Wanderung auf den Schneeberg.«
Man finde in der heutigen Gesellschaft wenige Anleitungen, wie man schwierige Situationen, etwa Scheidung oder Krankheit, bewältigt. Natürlich könne man spirituelle »How-to-Ratgeber« in der Buchhandlung kaufen, aber letztlich bliebe man mit dem Problem allein.
Der Test für die Ernsthaftigkeit einer Suchbewegung ist, so Holl, das Eingreifen in die Lebensführung – ein Anspruch, den auch die Religion erhebt. Und natürlich passiert es häufig, dass diese Ansprüche für den einzelnen so fordernd sind, dass er lieber eine angenehmere Version wählt. Ein Wellness-Programm gibt es nämlich auch in der Kirche.
Spiritualität hat viele Gesichter – und immer weniger Menschen finden sie in der Kirche. Dass die modernen Lebenswirklichkeiten nicht mehr mit den Weltbildern der etablierten geistlichen Institutionen übereinstimmen, wurde bereits in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren deutlich empfunden, und dieses Unbehagen hält bis heute an. Die existenziellen Fragen jedoch, die früher von den Religionen beantwortet wurden, sind geblieben; und mit einem rein rationalen, wissenschaftlichen Ansatz allein, der eben immer nur das Wie, aber nie das Warum klärt, scheint ihnen nicht beizukommen zu sein.1 Mit dem Einsetzen dieses Paradigmenwechsels in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann auch im Bereich der Musik eine groß angelegte Suche nach spirituellen Alternativen, die unzählige Schätze in Hoch- und Popkultur hervorgebracht hat. Handelt es sich hierbei nun um authentische Ausdrucksformen einer tiefen Sehnsucht nach dem Göttlichen, oder doch nur um einen bequemen, oberflächlichen Eklektizismus mit einer würzigen Prise Exotik?
So erfüllend und klar eine spirituelle Ausprägung für den einen sein kann, so fremd und kurios mag sie dem anderen erscheinen. Die dazugehörigen musikalischen Phänomene, die im Folgenden beleuchtet werden, können jedoch einen Weg in entfernte Glaubenswelten eröffnen – oder ihrerseits komisches Potenzial entwickeln.
In Astrologen- und Esoterikerkreisen wurde die bekannte These des verheißungsvollen »Wassermannzeitalters« geprägt, in dem wir uns seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts befänden. Sie besagt, dass zu dieser Zeit der Frühlingspunkt, nachdem er 2.000 Jahre im Sternbild der Fische gestanden sei, seine Wanderung in das Sternbild des Wassermanns fortgesetzt und so das »New Age« eingeleitet habe, das der Menschheit die Chance biete, eine höhere Bewusstseinsstufe zu erlangen.
Als Hymne des neuen Zeitalters empfahl sich der Song Aquarius aus dem Musical Hair (1967), am bekanntesten in der Version der Popgruppe Fifth Dimension (1969), der durch seine kirchentonale Färbung besonders mystisch wirkt und die Segnungen preist, die der Wassermann mit sich bringen soll: »Harmony and understanding / Sympathy and trust abounding / No more falsehoods or derisions / Golden living dreams of visions / Mystic crystal revelation / And the mind’s true liberation«. Die Hoffnungen auf die Sterne waren also groß – und inzwischen konnte man sogar buchstäblich nach ihnen greifen.
Dass der Himmel und seine Gestirne eine besondere Rolle für die Spiritualität des Menschen spielen, ist nichts Neues – doch mit dem Beginn der bemannten Raumfahrt in den Sechzigerjahren und den Mondlandungen zwischen 1969 und 1972 bekommen sie eine neuartige Science-Fiction-Qualität: Der Glaube an die Existenz von außerirdischer Intelligenz, die dem Menschen nicht nur weit überlegen ist, sondern auch sein Leben auf der Erde maßgeblich beeinflusst, gewann an Bedeutung; UFO-Religionen wie der Raelismus oder auch Scientology wurden gegründet bzw. erhielten regen Zulauf.
Musikalisch spürt der Space Rock mit experimentellen E-Gitarren-Riffs und Synthesizern dem Schritt in den Weltraum nach, so zum Beispiel Hawkwind in Master of the Universe (1973) oder Pink Floyd, die in Let There Be More Light (1968) eine außerirdische Kontaktaufnahme beschreiben. Ein echter Fachmann für extraterrestrische Angelegenheiten war jedoch Karlheinz Stockhausen – denn der war schließlich selbst gewissermaßen ein Alien: Seine wahre Heimat verortete er bekanntlich auf dem fernen Doppelsternsystem Sirius,2 in dem er eine Art Musikparadies sah, wo alle Kompositionen mit den Rhythmen des Kosmos in Einklang stünden. Seinen interstellaren Patriotismus brachte er besonders deutlich in dem Mysterienspiel Sirius (1977) für elektronische Musik, Sopran und Bass sowie Trompete und Bassklarinette zum Ausdruck, in dem vier Sirianer mit ihren Raumschiffen auf der Erde landen und feierlich ihre Botschaft an die Menschheit überbringen.
Doch was für den einen die wunderbare Welt des Fortschritts ist, bedeutet für den anderen einfach nur mangelnde Bodenhaftung: Parallel zur Technisierung der Welt wuchs auch die Sehnsucht nach einem Leben im Einklang mit der Natur, die sich nicht nur in handfesten Umweltbewegungen äußerte, sondern auch in der ökofeministisch-spirituellen Neuinterpretation der Gaia-Hypothese aus den Sechzigerjahren, wonach die Erde als ein lebendes Wesen aufgefasst wird. In diesem Kontext erfuhren viele vorchristliche Religionen, in denen auch die Vorstellung einer Erdmutter eine Rolle spielt, ein Revival.
Natürlich entstanden auch hierzu passende Soundtracks, zum Beispiel von Alan Stivell, der mit seiner Harfe versuchte, die keltische Kultur wiederzubeleben und sich dabei u.a. von irischen, schottischen und bretonischen Folk-Traditionen inspirieren ließ, um sie mit Rock- und Pop-Elementen zu vermischen. Und in Philip Glass’ Musik zum Film Koyaanisqatsi (1982), der in wortlosen Bildsequenzen die technoide Zivilisation des 20. Jahrhunderts reflektiert und sie der naturverbundenen Lebensweise der indigenen Völker Amerikas gegenüberstellt, chanten [singen meditativ, Amn. d. Red.] tiefe Männerstimmen den Filmtitel aus der Sprache der Hopi-Indianer: »Leben im Ungleichgewicht«.
Obwohl sich viele der neopaganen und neoschamanistischen Strömungen oft in bewusster Opposition zum Christentum positionieren, hat auch dieses seine Anziehungskraft keineswegs verloren, allerdings sucht man unkonventionelle Pfade, um sich ihm zu nähern: so auch die in den 1960er-Jahren aus der Hippie-Bewegung hervorgegangene Gruppierung der Jesus People, die sich auf ein einfaches Leben im Sinne des Urchristentums rückbesinnen wollten, dabei aber ihre musikalischen Vorlieben beibehielten. Durch sie erblickte die christliche Pop- und Rockmusik das Licht der Welt – ganz im Sinne von Larry Normans Why Should the Devil Have All the Good Music (1972). Ein Höhepunkt dieses Genres ist das Musical Jesus Christ Superstar (1971) von Andrew Lloyd Webber und Tim Rice, das die Passionsgeschichte aus der Perspektive des »Outsiders« Judas erzählt und dadurch eine positive Sicht auf diese Figur eröffnet.
Auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs erfuhr dagegen das traditionelle Christentum eine neue Hinwendung, da es zugleich als Ausdrucksmittel des Protests gegen den areligiösen Kommunismus verstanden werden konnte – ganz besonders natürlich in Polen, dem Heimatland von Karol Wojtyła. So ist etwa Henryk Góreckis Totus Tuus (1987), eine Vertonung des Wahlspruchs von Papst Johannes Paul II., hinsichtlich des Sujets, der Form des Chorals und der lateinischen Sprache theologisch wie musikalisch äußerst orthodox.
Einen völlig anderen Weg wählte hingegen Peter Gabriel mit seiner Filmmusik zu The Last Temptation of Christ (1988), die zahlreiche Elemente nahöstlicher Musik aufgreift – also direkt vom Ort des Geschehens.
Peter Gabriel war es schließlich auch, der als treibende Kraft den Aufschwung der sogenannten Weltmusik in den Achtzigerjahren organisierte und die westliche populäre Musik mit traditionellen außereuropäischen Stilen fusionierte. Doch war das Interesse an anderen und vor allem den asiatischen Musikkulturen auch vorher schon groß – und ging sehr oft mit einer spirituellen Neugier Hand in Hand.
So gibt es wohl kaum einen Komponisten in dieser Zeit, der nicht das eine oder andere »exotische« Element in seine musikalische Sprache integrierte und daraus wiederum Neues entstehen ließ: Sei es der sich selbst als »Jewish-Taoist-Hindu-Toltec-Buddhist«3 bezeichnende Philip Glass, Stockhausen, der zwischenzeitlich den indischen Guru Sri Aurobindo für sich entdeckte, oder auch der buddhistisch geprägte Giacinto Scelsi, der bereits in den Fünfzigerjahren durch ausgedehnte Reisen in fernöstliche Länder inspiriert wurde. Geradezu legendär ist die Zusammenarbeit des Beatles-Gitarristen und konvertierten Hindus George Harrison mit dem indischen Sitar-Meister Ravi Shankar, die Songs wie Norwegian Wood (1965) und Within You Without You (1967) zur Folge hatte, oder auch die LP West Meets East (1967), die Yehudi Menuhin mit Shankar einspielte. Dabei entstanden nicht nur vielfältige musikalische Synthesen, sondern immer wieder auch neue synkretistische Systeme und Weltbilder.
Ob der indianische Traumfänger über dem Bett, die Kekse in Schutzengel-Form, der keltische Kettenanhänger oder die Ganesha-Figur im Wellnessbereich: Die Manifestationen des großen spirituellen Suchens sind mittlerweile alltäglich geworden und ihr Anblick ist uns so vertraut, dass sie gar nicht mehr unbedingt als spirituell wahrgenommen werden, sondern eher als mehr oder weniger eigentümliche Details einer in ihren Wahlmöglichkeiten oftmals verwirrenden Welt. Wo oder worin wir letztlich Spiritualität finden, liegt an uns. Die Musik aber kann in jedem Fall dabei behilflich sein, uns eine Brücke ins Reich der Transzendenz bauen – vielleicht auch das neue Progressive-Rock-Album von Papst Franziskus?
1 Gottfried Küenzlen, »Das Unbehagen an der Moderne: Der kulturelle und gesellschaftliche Hintergrund der New Age-Bewegung«, in: Hansjörg Hemminger (Hg.), Die Rückkehr der Zauberer. New Age. Eine Kritik, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 187–222.
2 Sebastian Reier, Im Rhythmus der Sterne. Nachruf, 16.10.2009, http://www.zeit.de/online/2007/50/stockhausen-nachruf/komplettansicht (Stand: 10.10.2015).
3 Jeff Gordinier, Q&A With Philip Glass, http://www.details.com/story/wiseguy-legendary-composer-philip-glass (Stand: 10.10.2015).
Herr Kalitzke, ist Gott tot?
Ich kann mit dieser Frage wenig anfangen, weil man da an ein Wesen denkt, das mit Rauschebart irgendwo im 28.000. Stock wohnt und an den Reglern dreht – es handelt sich dabei um ein eher kindliches, weil personalisiertes Bild, um ein atavistisches Gottesverständnis. Wenn man dagegen davon ausgeht, dass Gott in allem Irdischen substantiell enthalten ist, kann er nicht tot sein, sonst wäre es alles andere auch.