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Wolfgang und Heike Hohlbein

sind die erfolgreichsten und meistgelesenen Fantasy-Autoren im deutschsprachigen Raum. Seit ihrem Überraschungserfolg »Märchenmond« konnte sich die wachsende Fangemeinde über zahlreiche weitere Bestseller freuen. Ein besonderes Anliegen ist den Autoren die Nachwuchsförderung, wie z. B. die Verleihung des Hohlbein-Preises in Zusammenarbeit mit dem Verlag Carl Ueberreuter.

Von Wolfgang und Heike Hohlbein bereits erschienen (Auswahl):

Märchenmond

Märchenmonds Kinder

Märchenmonds Erben

Die Zauberin von Märchenmond

Elfentanz

Midgard

Drachenfeuer

Der Greif

Die Bedrohung

Dreizehn

Katzenwinter

Krieg der Engel

Schattenjagd

Spiegelzeit

Unterland

Die Prophezeiung

Das Märchen von Märchenmond

Die Legende von Camelot I – Gralszauber

Die Legende von Camelot II – Elbenschwert

Die Legende von Camelot III – Runenschild

Das Buch

Anders 1 – Die tote Stadt

Anders 2 – Im dunklen Land

Anders 3 – Der Thron von Tiernan

Anders 4 – Der Gott der Elder

Genesis 1 – Eis

Genesis 2 – Stein

Genesis 3 – Diamant

WASP

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Über das Buch

Für die aufmüpfige 14jährige Samiha fühlt es sich an wie ein Gefängnis – dabei ist sie nur in einem Internat gelandet. Aber in einem ganz besonderen: "Unicorn Heights" ist ein Pferdeinternat und für Samiha die letzte Chance, ihren Schulabschluss zu schaffen. Doch bald kommt es zu unerklärlichen Ereignissen und als Samiha als Einzige erkennt, dass der Schimmelhengst Star in Wirklichkeit Silberhorn und das letzte Einhorn seiner Welt ist, steht sie vor dem größten Abenteuer ihres Lebens.

Der Schimmel stand zwischen einem braunen und einem kleinen, dafür aber umso stämmigeren Schecken, hatte einen seidig weißen, bis auf den Boden fallenden Schweif, eine ebensolche Mähne und ein fast armlanges gedrehtes Horn, das mitten aus seiner Stirn wuchs. Die Luft um ihn herum schien ganz leicht zu flimmern, wie sie es im Sommer über heißem Asphalt tat, oder man es von Bildern und Fernsehberichten aus der Wüste kannte, sodass seine Umrisse leicht verschwommen wirkten.

Samiha blinzelte, und als sie die Augen wieder aufmachte, war das Flimmern verschwunden.

Genauso wie das Horn.

»…nzer Stolz«, sagte eine Stimme neben ihr.

Obwohl sie nicht einmal die beiden letzten Worte richtig verstanden hatte, beeilte sie sich, ein angemessen beeindrucktes Gesicht zu machen und hektisch zu nicken. »Aha«, sagte sie. Immerhin.

Focks – um genau zu sein: Direktor Oliver Focks – runzelte leicht die Stirn und wiederholte sowohl seine deutende Geste als auch die dazu passenden Worte auf eine Art, die klarmachte, dass er es normalerweise nicht gewohnt war, irgendetwas zu wiederholen. Und es auch nicht schätzte.

»Das hier ist also unser Reitstall«, sagte er. »Unser erster Reitstall. Nicht unbedingt unser ganzer Stolz, aber damit hat es angefangen.« Er lächelte, doch es wirkte ein bisschen gequält, fand Samiha. »Morgen zeige ich dir den großen Stall, wenn du möchtest.«

»Aha«, erwiderte Samiha einsilbig, runzelte genau wie Focks gerade die Stirn und sah noch einmal dorthin, wo sie das Einhorn gesehen hatte. Einhorn? Was für ein Quatsch!

»Das hört sich jetzt aber nicht wirklich begeistert an«, sagte Focks. Er gab sich Mühe, enttäuscht zu klingen, aber man hörte ihm an, dass es ihn im Grunde nicht wirklich interessierte.

»Doch, doch«, beeilte sich Samiha zu versichern. »Es ist nur …«

»Vielleicht alles ein bisschen zu viel, ich verstehe«, sagte Focks. »Die anstrengende Reise, die neue Umgebung und das alles …« Er wiegte zustimmend den Kopf. »Das geht vielen so, am Anfang. Vielleicht lebst du dich erst einmal ein und danach sehen wir weiter. Den meisten gefällt es hier recht gut, du wirst sehen.«

Das Einzige, was Samiha gesehen hatte, seit sie hereingekommen war, waren Staub, Schmutz, Spinnweben, feuchtes Stroh, drei ziemlich heruntergekommene Klepper, ein geradezu unglaubliches Durcheinander und noch mehr Spinnweben. Das Licht kam von einer trüben Funzel, die noch dazu so mit Fliegendreck und Schmutz verkleistert war, dass sie eigentlich mehr Schatten als Helligkeit verströmte, und es stank erbärmlich.

»Ich weiß, es macht auf den ersten Blick nicht viel her«, fuhr Focks fort. »Außerdem renovieren wir gerade, und deshalb ist hier alles ein bisschen eng und durcheinander. Aber die meisten anderen mögen es.« Er zwinkerte ihr fast schon verschwörerisch zu. »Gib dir einen oder zwei Tage und es gefällt dir auch, du wirst sehen.«

»Du magst doch Pferde, oder?«, fügte er hinzu, fast schon ein bisschen erschrocken.

Fast hätte Samiha geantwortet: Sicher. Am liebsten in dünnen Scheiben oder in einer schönen scharfen Sauce – und sei es nur, um Focks zu schockieren. Stattdessen nickte sie rasch, sah noch einmal zu den drei nebeneinander angebundenen Pferden hin und bemühte sich, wenigstens so etwas wie Interesse zu heucheln. Sie hatte nichts gegen Pferde, aber sie hatte auch nicht besonders viel für sie übrig. Wie übrigens für nichts, was mehr als zwei Beine hatte und größer war als sie.

»Ja, ich verstehe schon«, seufzte Focks. »Ist wahrscheinlich meine Schuld, gleich am ersten Tag zu viel zu verlangen. Wir warten einfach ab, bis du alles kennengelernt und dich ein bisschen umgesehen hast, und danach versuchen wir es noch mal, einverstanden?«

Für Samihas Geschmack hörte sich das unangenehm nach einer Rede an, die der Direktor eines Hochsicherheitsgefängnisses einem neuen Insassen halten würde. Natürlich war das hier kein Gefängnis, ebenso wenig wie Focks ein Gefängnisdirektor war und sie eine Gefangene, aber das alles änderte nichts daran, dass sie sich ganz genauso vorkam. Und sie war noch nie eine besonders gute Schauspielerin gewesen.

»Einverstanden«, antwortete sie, kein bisschen weniger einsilbig als zuvor. Focks sah sie unverhohlen enttäuscht an, beließ es aber bei einem Schulterzucken und bedeutete ihr mit einer Geste, ihm zu folgen, während er sich abwandte, um den Stall wieder zu verlassen. Samiha folgte ihm auch gehorsam, machte aber nur einen einzigen Schritt und blieb dann sofort wieder stehen, um noch einmal zu den Pferden hinüberzusehen.

Sie konnte selbst nicht genau sagen, warum. Die Pferde mampften genüsslich an einer Portion Hafer, die Focks ihnen gebracht hatte, nachdem sie hereingekommen waren, schlugen ab und zu mit den Schwänzen, um eine Fliege zu verscheuchen, und schenkten den Menschen darüber hinaus nicht die geringste Beachtung, aber irgendetwas an alldem war … seltsam.

»Anscheinend gefallen sie dir doch«, sagte der Internatsdirektor, als sie sich – fast ohne ihr eigenes Zutun – in Bewegung setzte und über einen Stapel aus halb verrotteten Kisten stieg, um ganz zu den Pferden hinzugehen.

Samiha hörte gar nicht mehr hin, sondern blieb erst stehen, als sie nahe genug war, um die Pferde zu berühren, indem sie bloß den Arm ausstreckte. Was sie natürlich niemals tun würde. Pferde waren unhygienisch, groß und rochen schlecht, und außerdem hatten sie für Samihas Geschmack viel zu viele und viel zu große Zähne, um ihnen trauen zu können.

»Geh lieber nicht zu nahe ran«, sagte Focks hinter ihr. Sie konnte sich täuschen, aber es kam ihr wenigstens so vor, als ob er ein bisschen nervös klang.

»Sind sie gefährlich?«, fragte Samiha – und tat genau das, wovon Focks ihr abgeraten hatte. Der Schecke schnaubte leise, wie um auf ihre Frage zu reagieren, blickte kurz zu ihr hoch und fraß dann ungerührt weiter, aber der Schimmel (das Einhorn?) hob den Kopf und sah sie auf eine Art an, die … seltsam war. Und nicht unbedingt angenehm.

»Nein«, antwortete Focks fast hastig. »Dann hätte ich dich nicht hierhergebracht, oder?« Er schwieg einen winzigen Moment, nur um dann hinzuzufügen: »Nur bei Star solltest du vielleicht ein bisschen vorsichtig sein. Er ist manchmal ein bisschen … zickig.«

Star – der Schimmel, der weder ein Horn hatte noch auch nur annähernd so prachtvoll aussah, wie es ihr auf den allerersten Blick vorgekommen war – schnaubte leise, drehte den Kopf und blickte Focks vorwurfsvoll aus seinen großen, klugen Augen an, und Samiha war vollkommen sicher, dass er die Worte des Internatsleiters nicht nur verstanden hatte, sondern dass sie ihn auch verletzten. Etwas Sonderbares geschah: Der große Hengst war ihr nach wie vor ein wenig unheimlich – allein schon weil er sie jetzt, als sie direkt vor ihm stand, um ein gutes Stück überragte und sie, tief in sich, einfach Angst vor Pferden hatte, wenn sie ehrlich war – und trotzdem konnte sie sich gerade noch beherrschen, nicht die Hand zu heben und seine Nüstern zu streicheln. Star schnaubte erneut. Sein Blick ließ Focks los und richtete sich wieder auf Samiha, und eine noch viel seltsamere Woge von Wärme und Zuneigung durchströmte sie. Jetzt musste sie sich wirklich zusammenreißen, um den Hengst nicht zu streicheln. Oder gleich ganz zu ihm zu gehen und sich auf seinen Rücken zu schwingen.

Der Gedanke war so verrückt, dass sie fast davor erschrak und instinktiv ein Stück nach hinten wich. Star schnaubte noch einmal, sah sie nun eindeutig vorwurfsvoll an und senkte dann den Kopf, um weiterzufressen. Die Bewegung löste ein … Flackern in ihren Augenwinkeln aus, anders konnte sie das unheimliche Phänomen nicht beschreiben, als wäre da noch irgendetwas, das sich ihren Blicken auf fast magische Weise entzog.

Aber das war nun wirklich albern …

»Ich glaube, wir sollten jetzt gehen«, sagte Focks hinter ihr. Sie konnte hören, wie er den Ärmel hochschüttelte und auf die Armbanduhr sah, eine Angewohnheit, die sie schon ein paarmal bei ihm beobachtet hatte. »Ich habe in der Küche Bescheid gesagt, dass sie dir noch eine Kleinigkeit zu essen zubereiten sollen. Du musst Hunger haben nach so einem langen Tag.«

Tatsächlich knurrte Samiha seit einer geraumen Weile der Magen. Sie war an diesem Tag – selbst für ihre Verhältnisse – außergewöhnlich früh aufgestanden, hatte aus Protest das Frühstück ausfallen lassen und lediglich das Glas lauwarme Milch hinuntergewürgt, auf dem ihre Mutter bestanden hatte. Selbstverständlich hatte sich ihr Körper irgendwann zu Wort gemeldet und laut nach einer neuen Ladung für seine Batterien verlangt, aber schon ein einziger Blick auf die Speisekarte im Zug (und die Preise darauf) hatte ausgereicht, um ihr den Appetit endgültig zu verhageln. Außerdem war sie beleidigt, eingeschnappt, stinkwütend auf ihre Eltern und die gesamte Welt und genoss auch ein bisschen das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Tapfer hatte sie dem lauter werdenden Rumoren ihres Magens standgehalten und die ganze Welt (und vor allem sich selbst) für die Ungerechtigkeit bestraft, die ihr angetan worden war, und war für den gesamten Tag in einen stummen Hungerstreik getreten, den mangels Zuschauer allerdings niemand zu würdigen wusste. Stolz war eine schöne Sache, die jedoch in gleichem Maße ihren Reiz verlor, in dem das Knurren ihres Magens lauter wurde. Mittlerweile war ihr schon fast schlecht vor Hunger, und der Gedanke an einen kleinen Imbiss erschien ihr immer reizvoller.

»Hm«, machte sie – zurzeit so ziemlich das Maximum an Zustimmung, das ihr Gefängniswärter von ihr erwarten konnte. Ihr Magen rumpelte zustimmend.

Focks gab sich jedoch damit zufrieden. Seine Stimme klang sogar ein bisschen erleichtert, als er antwortete: »Dann lass uns gehen. Star ist morgen früh auch noch da, und wenn du willst, kannst du ihn nach dem Frühstück auf die Koppel führen. Du scheinst Pferde ja wirklich zu lieben.«

Samiha riss ihren Blick mit einiger Mühe von dem abgemagerten Schimmel los und sah den Internatsleiter irritiert an. Das genaue Gegenteil war der Fall, aber sie sparte es sich, Focks über seinen Irrtum aufzuklären. So wie sie sich benommen hatte, musste er tatsächlich genau diesen Eindruck gewinnen, und da war auch etwas an diesem Hengst, das …

Nein, sie konnte nicht genau sagen, was es war. Irgendetwas hatte ihre Neugier geweckt, aber sie wusste nicht, was.

Samiha hütete sich, dem Blick seiner Augen noch einmal zu begegnen, während sie sich herumdrehte und mit einem großen Schritt über den Kistenstapel hinwegtrat, über den sie vorhin schon einmal fast gefallen wäre. Diesmal blieb es nicht bei fast, denn gerade als sie den Fuß aufsetzen wollte, ertönte ein sonderbares Summen, und das Licht flackerte und ging nach einer weiteren halben Sekunde ganz aus. Focks fluchte lauthals (es kam ihr vor, als täte er es in einer unbekannten Sprache), Samiha streckte erschrocken die Arme aus und machte einen noch erschrockeneren Schritt, und eines von beiden erwies sich als nicht sonderlich klug, denn sie hörte ein Scheppern und Bersten und verlor im selben Atemzug endgültig das Gleichgewicht. Mit wild rudernden Armen kippte sie nach vorn, biss die Zähne zusammen und wartete auf den Schmerz, mit dem sie in den mit Splittern und rostigen Nägeln gespickten Kistenstapel stürzen musste.

Stattdessen fiel sie auf etwas, das ihren Aufprall wie eine mit Daunen gefüllte, weiche Decke auffing und sich warm und ein bisschen feucht anfühlte und in ihrer Nase kitzelte. Eine Sekunde lang blieb sie mit angehaltenem Atem liegen und wartete darauf, doch einen Schmerz oder irgendetwas anderes Unangenehmes zu spüren, dann stemmte sie sich halb in die Höhe und öffnete blinzelnd die Augen. Nachdem das Licht ausgegangen war, hatte sie vollkommene Dunkelheit erwartet, doch zu ihrer Überraschung konnte sie sehen.

Nur nicht das, was sie erwartet hatte.

Der Stall war nicht dunkel, sondern von einem sonderbaren türkisfarbenen Schein erhellt, der sich gar nicht wie Licht benahm und stattdessen wie leuchtende Flüssigkeit um die Dinge herumfloss, Dinge zudem, die vollkommen anders waren als das, was sie erwartet hatte.

Der Stall war immer noch ein Stall, aber damit hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Der Raum war größer und höher, als sie ihn in Erinnerung hatte, und nicht mehr mit ausrangiertem Werkzeug, Kisten und Säcken und alten Möbeln und Baumaterial vollgestopft, sondern sauber und aufgeräumt. Ledernes Geschirr, Sättel und mit blitzendem Metall beschlagenes Zaumzeug hingen an den Wänden, und die drei Pferde, die sie sah, waren nicht einfach nur mit Stricken angebunden, sondern standen in sauber gezimmerten hölzernen Boxen, die mit demselben frischen Stroh ausgelegt waren, das auch ihren Sturz aufgefangen hatte. Sie waren auch nicht mehr braun, weiß und gescheckt, sondern ausnahmslos schwarz, trugen schwere Sättel aus ebenfalls schwarzem Leder und dazu passendes Zaumzeug, und jedem einzelnen wuchs ein doppelt handlanges gedrehtes Horn aus der Stirn.

Focks sagte etwas, das sie so wenig verstand wie seine Worte von vorhin, das aber irgendwie alarmiert klang, und Samiha riss ihren Blick mit einiger Mühe von den drei unmöglichen schwarzen Einhörnern los, drehte sich halb herum und wurde mit dem Anblick eines noch viel unmöglicheren Direktor Focks belohnt.

Die Gestalt war ein gutes Stück größer und viel kräftiger gebaut, ein muskulöser Riese mit kantigem Gesicht, schulterlangem schwarzem Haar und spitzen Ohren, der eine schwere Rüstung aus schwarzem Leder und Eisen und einen gleichfarbigen Mantel trug, den er in kühnem Schwung über die Schultern geworfen hatte. Seine ebenfalls schwarzen Augen blickten mit einer Mischung aus Überraschung und Schrecken auf Samiha herab, aber dahinter spürte sie auch eine Härte und Gnadenlosigkeit, die sie erschauern ließen. Eine in einem mit eisernen Nieten besetzten schwarzen Lederhandschuh steckende Hand streckte sich nach ihr aus, und Samiha wusste einfach, dass etwas durch und durch Entsetzliches passieren würde, wenn diese Hand sie berührte.

Da stieß etwas Winziges, bunt Schillerndes wie ein zorniger Moskito auf den schwarz gekleideten Krieger herab, prallte mit einem leisen, glockenhellen Ping von seiner Schläfe ab und torkelte benommen davon. Der Riese ließ ein ärgerliches Knurren hören und schlug mit der anderen Hand nach dem Störenfried, und so winzig die Ablenkung auch sein mochte, reichte sie Samiha doch, um im allerletzten Moment vor der zupackenden Hand zurückzuprallen. Dann klickte etwas, und die Welt war wieder so, wie sie sein sollte. Focks war wieder Focks, statt eines schwarzen Stachelhandschuhs hielt er eine kleine Taschenlampe in den Fingern, die einen geradezu lächerlich dünnen, aber grellen Strahl staubigen Lichts produzierte, und auch das weiche Stroh, auf das sie gefallen war, hatte sich wieder in das nicht annähernd so weiche Durcheinander aus gesplittertem Holz und rostigen Nägeln verwandelt, das sie in ihrem ersten Schrecken erwartet hatte. Etwas lief warm und klebrig an ihrer Schläfe hinab und kitzelte in ihrem Augenwinkel.

»Bleib liegen!«, befahl Focks erschrocken. »Nicht bewegen, hörst du?« Der Lichtstrahl tastete über ihr Gesicht und richtete sich dann so zielsicher auf ihre Augen, dass sie gar nichts mehr sah und geblendet die Hand vor das Gesicht heben wollte. Focks ließ sich vor ihr in die Hocke sinken (sie konnte hören, wie seine Gelenke knackten, wie sie es eigentlich bei einem sehr viel älteren Mann erwartet hätte), drückte ihren Am hinunter und ließ den Strahl seiner Miniatur-Lampe langsam über ihr Gesicht wandern. Wenigstens versuchte er jetzt nicht mehr, ihr die Augen auszubrennen.

»Ist dir was passiert?«, fragte er besorgt.

»Nein«, behauptete Samiha. »Alles in Ordnung.«

»Du blutest.« Der Strahl der kaum kugelschreibergroßen MAG-LITE richtete sich genau dorthin, wo sie das Brennen und die Wärme spürte. Samiha tastete mit den Fingern danach und fühlte klebriges Blut, und aus dem leisen Brennen wurde ein stechender Schmerz. Sie sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein.

»Das ist nichts«, behauptete sie trotzdem.

»Dafür, dass es nichts ist, blutet es ganz schön«, sagte Focks, zuckte mit den Schultern und zog ein ordentlich zusammengefaltetes weißes Taschentuch aus der Jacke. Sehr behutsam begann er ihre Schläfe damit abzutupfen. Es tat trotzdem ziemlich weh, aber Samiha ertrug die Prozedur mit zusammengebissenen Zähnen und ohne den geringsten Laut von sich zu geben.

»Das scheint wirklich nur ein Kratzer zu sein«, sagte er, nachdem er endlich seine Versuche eingestellt hatte, ihr bei lebendigem Leib die Haut vom Schädel zu scheuern. Sie hatte sich geirrt: Was er aus seiner Jacke gezogen hatte, das war kein Taschentuch gewesen, sondern ein Blatt weißes Schmirgelpapier, mit dem er sich genüsslich zu ihrem Stammhirn durchzuarbeiten versuchte.

»Trotzdem muss die Wunde desinfiziert werden«, fuhr er fort. »Ist dir sonst noch etwas passiert?«

»Nein«, antwortete Samiha rasch.

»Davon wird sich Frau Baum überzeugen«, antwortete Focks bestimmt und stand mit einem zweiten, noch lauteren Knacken seiner Gelenke auf. Sein Lichtstrahl huschte so schnell und nervös durch den Stall, dass ihr vermutlich sofort schwindelig geworden wäre, hätte sie versucht, ihm zu folgen, und blieb an der erloschenen Lampe hängen. »Da wird spätestens morgen früh ein ernsthaftes Gespräch zwischen mir und diesem sogenannten Handwerker fällig. Ich weiß nicht, wie oft ich ihm schon gesagt habe, dass er sich um die Stromleitungen kümmern soll!«

Samiha hatte Mühe, den Worten überhaupt zu folgen. Irgendetwas Winziges, Buntes summte in torkelnden Kreisen um die erloschene Lampe und verschwand immer wieder, sobald es in den Lichtkreis der MAG-LITE geriet, zu klein, um es wirklich erkennen zu können.

Focks schaltete seine Lampe aus, und Samihas Herz machte einen erschrockenen Sprung und schien dann hart und rasend schnell direkt unter ihrer Schädeldecke weiterzuhämmern. Eines der Pferde schnaubte unwillig, und die Dunkelheit bekam plötzlich etwas ungemein Bedrohliches und begann sich wie eine unsichtbare Faust um sie zusammenzuziehen. Sie hörte, wie Star nervös mit den Hufen scharrte, und fragte sich, woher sie eigentlich wusste, dass es der weiße Hengst war.

Das Licht ging wieder an, und Focks machte ein um Verzeihung bittendes Gesicht, als er ihr Erschrecken bemerkte. »Tut mir leid. Ich wollte nur sichergehen, dass es kein Funke ist. Nicht, dass am Ende noch der ganze Stall abbrennt.«

Das konnte Samiha verstehen, aber eine sonderbare Beunruhigung blieb. Da war etwas in dieser Dunkelheit gewesen, das ihr Angst machte. Und es war immer noch da …

Focks seufzte übertrieben erleichtert und machte erneut eine einladende Geste. »Ich denke, für den ersten Tag war das Abenteuer genug, oder?«

Samiha hatte nicht vor, ihm zu widersprechen. Mit einem übertrieben vorsichtigen Schritt trat sie über das hinweg, was von dem Kistenstapel übrig geblieben war, und konnte ein eisiges Frösteln nicht unterdrücken, als sie das Durcheinander aus dolchspitzen Holzsplittern und rostigen Nägeln sah, in dem sie gerade noch gelegen hatte. Wahrscheinlich konnte sie von Glück sagen, mit einer harmlosen Schramme davongekommen zu sein.

Als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, begann die Schramme heftiger zu schmerzen und blutete jetzt auch wieder. Ganz automatisch wollte sie die Hand heben, aber Focks schüttelte rasch den Kopf und hielt ihr sein nicht mehr ganz so sauberes Schmirgelpapier-Taschentuch hin. Samiha griff dankbar danach, presste es gegen die Schramme an ihrer Schläfe, und der pochende Schmerz ließ wenigstens ein bisschen nach. Aber sie konnte selbst spüren, wie blass sie geworden war, und es hätte Focks besorgter Blicke gar nicht mehr bedurft, um ihr klarzumachen, wie deutlich man ihr das ansah.

Auf dem Weg zur Tür machte sie einen respektvollen Bogen um alles, was irgendwie spitz oder scharf sein könnte, und als Focks die Tür öffnete, blieb sie noch einmal stehen und blickte zu den Pferden zurück. Zwei von ihnen konzentrierten sich ausschließlich auf ihren Hafer, doch Star hatte den Kopf gehoben und sah sie mit aufmerksam aufgestellten Ohren an. Sein Schweif peitschte nervös, und in dem schwachen Streulicht, das durch die offen stehende Tür hereinfiel, wirkte er für einen ganz kurzen Moment noch einmal so verzaubert und prachtvoll wie vorhin: Seine Mähne und der Schweif glänzten wie Seide, und die wunden Stellen und die mageren Flanken waren verschwunden. Und im Blick seiner großen, sanftmütigen Augen lag etwas, das ihr schon wieder einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ, auch wenn es dieses Mal nichts mit Furcht oder gar Schmerz zu tun hatte, sondern im Gegenteil eher angenehm war.

»Samiha?«, fragte Focks.

Samiha riss sich mit einiger Mühe vom Anblick des weißen Nicht-Einhorns los und beeilte sich jetzt, an Focks Seite zu treten. Unwillkürlich schlang sie die Hände um die nackten Oberarme, als sie spürte, wie kalt es in den wenigen Minuten geworden war, die sie drinnen im Stall verbracht hatten. Sie trug noch immer die gleichen Kleider, in denen sie am Nachmittag angekommen war – Jeans, Nikes und ein ärmelloses T-Shirt –, und für einen Hochsommertag war das auch in Ordnung gewesen. Aber hier in den Bergen wurde es offenbar schnell kalt, sobald die Sonne untergegangen war.

Vielleicht saß ihr ja auch noch der Schreck in den Knochen.

»Ist auch wirklich alles in Ordnung?«, erkundigte sich Focks besorgt.

Samiha beeilte sich, zu nicken und in scharfem Tempo neben ihm herzugehen, nachdem er die Tür abgeschlossen hatte und das weitläufige Hauptgebäude auf der anderen Seite ansteuerte. Es schien mit jedem Schritt kälter zu werden, und auch die Dunkelheit hier draußen schien mit einem Mal etwas Bedrohliches, fast schon etwas Feindseliges zu beinhalten, und sie musste sich beherrschen, um sich nicht unentwegt angstvoll umzublicken. Die Kälte, die sie immer stärker spürte und die sie mittlerweile fast mit den Zähnen klappern ließ, war längst nicht der einzige Grund, aus dem sie es plötzlich sehr eilig hatte, das hell erleuchtete Hauptgebäude zu erreichen.

Dennoch drehte sie immer wieder den Kopf und blickte zu den dunkel daliegenden Stallungen zurück. Sie konnte einfach nicht vergessen, was sie gerade zu sehen geglaubt hatte. Gab es hier wirklich … Einhörner?

»Selbstverständlich«, sagte Focks. »Aber nicht dort drinnen. Wir bringen sie in einem anderen Stall unter, gleich neben dem Pegasus. Das ist ein bisschen aufwendig, aber es geht leider nicht anders. Sie vertragen sich nicht mit den Zentauren, die normalerweise in diesem Stall stehen.«

Samiha starrte ihn eine Sekunde lang einfach nur verstört an, bevor ihr klar wurde, dass sie ihren letzten Gedanken offenbar laut ausgesprochen hatte.

»Und erst die Wyvern«, fuhr Focks mit todernstem Gesicht fort. »Das ist vielleicht ein zänkisches kleines Volk, kann ich dir sagen. Mit denen kommt wirklich niemand klar.«

Samiha hatte es plötzlich wirklich sehr eilig, das lang gestreckte Haupthaus zu erreichen. Erst als Direktor Focks hinter ihr eintrat und die schwere Tür ins Schloss drückte, atmete sie vorsichtig erleichtert auf. Vor ein paar Stunden, als sie hierhergekommen war, waren ihr die schmiedeeisernen Gitter vor dem bunten Bleiglasfenster wie Teil eines Gefängnisses vorgekommen, aber jetzt begriff sie plötzlich, dass man jedes Ding von zwei Seiten betrachten konnte: Vielleicht beschützten diese Gitter die Bewohner dieses Hauses ja vor etwas, das verborgen draußen in der Dunkelheit lauerte.

»Ist auch wirklich alles in Ordnung mit dir?«, fragte Focks zum wiederholten Mal. Das Licht in der vornehm getäfelten Eingangshalle war bei ihrem Eintreten automatisch angegangen und vertrieb mit seinem warmen gelben Schein auch noch die letzten Gespenster, die mit ihnen hereingeschlüpft waren, doch das hinderte ihn nicht daran, ihr schon wieder mit seiner Mini-Laserkanone ins Gesicht zu leuchten und besorgt die Stirn zu runzeln. Erst als sie ihrerseits eine Grimasse zog und übertrieben mit den Augen blinzelte, schaltete er die MAG-LITE aus und ließ sie in der Jackentasche verschwinden. Der besorgte Ausdruck auf seinem Gesicht blieb.

»Es tut mir wirklich leid, dass dein erster Tag hier so enden muss«, sagte er. »Ich kaufe mir gleich morgen früh diese Handwerker und reiße ihnen höchstpersönlich die Köpfe ab. Und das da …«, fügte er mit einer Geste auf das mittlerweile fast durchgeblutete Taschentuch hinzu, das sie nach wie vor gegen ihre Schläfe presste, »… wird sich Frau Baum ansehen, am besten gleich jetzt.«

»Aber das ist wirklich nicht nötig«, sagte Samiha hastig. Sie hatte keine Ahnung, wer Frau Baum war, aber sie war auch ziemlich sicher, dass sie ihre Bekanntschaft gar nicht machen wollte, jedenfalls nicht jetzt und unter den gegebenen Umständen.

»Es ist wirklich nur ein Kratzer«, beteuerte sie. Der wie Feuer brennt und einfach nicht aufhören will zu bluten.

»Damit hast du wahrscheinlich sogar recht«, antwortete Focks, fast zu ihrer Überraschung. »Aber er könnte sich entzünden, wenn er nicht desinfiziert wird. Hast du zufällig Lust auf eine hübsche Narbe im Gesicht?«

Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern schüttelte heftig den Kopf und fuhr fort: »Siehst du? Und außerdem muss ich den Vorfall melden und dich versorgen lassen … einmal ganz davon abgesehen, dass mich deine Eltern einen Kopf kürzer machen würden, wenn dir irgendetwas passiert.«

Wenigstens im Moment war Samiha eher der Meinung, dass ihre Eltern Direktor Focks und dem Unicorn Heights eine großzügige Geldspende zukommen lassen würden, sollte ihrer einzigen Tochter ein bedauernswerter (und nach Möglichkeit tödlicher) Unfall zustoßen, aber diese Antwort behielt sie vorsichtshalber für sich. Nicht nur weil sie bei Focks vermutlich nicht besonders gut angekommen wäre, sondern weil sie nicht nur nicht stimmte, sondern auch ziemlich gemein war.

Aber bis vor ungefähr zehn Minuten war sie auch noch ganz in der Stimmung gewesen, gemein und unfair zu sein.

Sie wollte gerade eine besänftigende Bemerkung machen, als sie etwas zu hören glaubte, erschrocken herumfuhr und die geschlossene Tür hinter sich anstarrte.

Samiha lauschte so angestrengt und konzentriert, wie sie nur konnte, und etliche lange, schwere Herzschläge lang, die sie bis in die Fingerspitzen zu spüren glaubte. Aber da war nichts.

Und trotzdem: Hatte da gerade etwas an der Tür … gekratzt?

Focks wartete einige Sekunden lang vergeblich auf eine Antwort, hob dann die Schultern und zog ein ultraflaches Angeber-Handy aus derselben Tasche, in der er gerade die MAG-LITE hatte verschwinden lassen. So schnell und leise, dass sie die Worte nicht verstand, sprach er ein paar Sätze hinein, nachdem er die Kurzwahltaste gedrückt hatte, und klappte das Gerät dann wieder zu, ohne sich verabschiedet zu haben.

»Frau Baum ist auf dem Weg«, sagte er. »Ich schlage vor, wir gehen schon mal in die Krankenstation und warten dort auf sie.«

»Krankenstation?«, wiederholte Samiha.

Sie musste wohl ziemlich erschrocken geklungen haben, denn Focks beeilte sich, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, und machte eine besänftigende Geste. »Keine Sorge«, sagte er. »Das klingt gewaltiger, als es ist. Nur ein Zimmer mit einer Liege und einem etwas größer geratenen Erste-Hilfe-Kasten. Nichts, was dir Kopfschmerzen bereiten muss.«

Wenn das ein Wortspiel sein sollte, dachte Samiha finster, dann war es gründlich danebengegangen. Sie hatte Kopfschmerzen, sogar mehr, als sie sich eingestehen wollte, und sie schoss auch einen entsprechend giftigen Blick in Focks’ Richtung ab, den er allerdings nur damit quittierte, ihr das blutbefleckte Taschentuch zurückzugeben und breit zu grinsen.

Während sie Focks durch die hohen Flure des Hauptgebäudes folgte, die jetzt ganz anders als noch vor zwei Stunden von einer fast vornehmen Stille erfüllt waren, versuchte sie noch einmal logisch über das unheimliche Erlebnis nachzudenken, das sie gerade draußen im Stall gehabt hatte. Vielleicht bildete sie sich auch nur ein, es gehabt zu haben, sie war sich da mittlerweile nicht mehr ganz sicher. Ein Einhorn? Und dann noch ein kompletter Stall, der sich in etwas … anderes verwandelt hatte? An den spitzohrigen (!) Fantasy-Krieger, den sie statt des Direktors gesehen zu haben glaubte, wollte sie lieber gar nicht erst denken.

Nein – es war ziemlich unwahrscheinlich, dass sie das alles tatsächlich erlebt haben sollte. Sehr viel wahrscheinlicher war da schon, dass sie sich den Kopf doch kräftiger angestoßen hatte, als sie glaubte, und so etwas wie eine rückwirkende Halluzination erlebte. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, wenn sich Frau Baum die kleine Schramme an ihrer Schläfe ansah.

Wer immer sie auch sein mochte.

Sie durchquerten fast den gesamten ihr schon bekannten Teil des Hauptgebäudes, gingen eine kurze Treppe hinauf, die erbärmlich genug unter ihren Schritten knarrte, um eine Hauptrolle in jedem Horrorfilm zu bekommen, und traten durch eine schmale Tür, die mit einem roten Kreuz auf weißem Grund gekennzeichnet war, in eine vollkommen andere Welt.

Hier gab es keine holzvertäfelten Wände und sorgsam geölten Eichendielen auf dem Boden, auch keine Stuckverzierungen an der Decke, keine verschnörkelten Kronleuchter oder goldgerahmte Ölgemälde von Leuten, die schon vor Jahrhunderten gestorben und zu Staub zerfallen waren. Das Licht kam von einer ganzen Batterie nackter Neonröhren unter der Decke und war kalt, die Wände waren weiß getüncht und in Hüfthöhe olivgrün abgesetzt, und auch die Einrichtung entsprach genau dem, was sie nach den Worten des Direktors erwartet hatte – oder doch wenigstens ungefähr. Eine mit schwarzem Leder bezogene verchromte Liege, ein einfacher Schreibtisch aus Metall samt dazu passendem Bürostuhl und eine Glasvitrine, die vor Pappkartons, Flaschen und Fläschchen und Paketen mit Verbandsmaterial, Heftpflastern und Einmalhandschuhen und allem anderen möglichen Krempel schier überquoll.

»Wie gesagt: kein Grund, sich Sorgen zu machen«, sagte Direktor Focks, der hinter ihr eintrat und die Tür sperrangelweit offen stehen ließ. »Nur eine bessere Erste-Hilfe-Station, weiter nichts.«

Ganz so hätte Samiha es dann doch nicht beschrieben. Auf dem Schreibtisch thronte ein moderner Flatscreen von wahrhaft Ehrfurcht gebietender Größe, von dem sich ein Kabel zu einem zweifellos ebenso beeindruckenden Computer ringelte, und über der Liege hing ein verchromtes Monstrum von Lampe, die jedem Operationssaal zur Ehre gereicht hätte. Und auf den zweiten Blick gewahrte sie noch ein paar technische Spielereien, deren genaue Bedeutung sie zwar nicht erkannte, die aber eindeutig … medizinisch wirkten. Sie warf Focks einen ebenso misstrauischen wie verwirrten Blick zu, auf den er mit erneutem Kopfschütteln reagierte.

»Was hast du erwartet?«, fragte er. »Eine mittelalterliche Folterkammer?«

»Jedenfalls keine Krankenstation wie an Bord der Enterprise«, antwortete Samiha.

Focks runzelte die Stirn und konnte mit diesem Begriff ganz eindeutig nichts anfangen, tat ihn dann aber mit einem Schulterzucken ab. »Wir sind hier ziemlich weit vom nächsten Krankenhaus entfernt«, sagte er. »Selbst von der nächsten Stadt, die diese Bezeichnung verdient und so etwas wie einen Arzt hat. Wenn einmal etwas passiert, dann ist es schon besser, wenigstens die allernotwendigsten Dinge dazuhaben.«

»Passiert hier denn viel?«, erkundigte sich Samiha.

Die Frage schien bei Focks nicht besonders gut anzukommen, denn sein Gesicht verdüsterte sich um etliche Grade, doch bevor er antworten konnte, erscholl draußen auf dem Flur ein helles Lachen, und eine amüsierte Frauenstimme sagte: »Bei fast dreihundert Schülerinnen und Schülern, die wir hier haben, bleibt die eine oder andere Schramme nun mal nicht aus, fürchte ich.«

Eine Frau, Mitte dreißig, mit langem blondem Haar und legerer Kleidung, kam herein, bedachte Samiha mit einem eher flüchtigen Nicken und wandte sich dann mit spöttisch funkelnden Augen an Focks. »Aber das ist noch lange kein Grund, jeder neuen Schülerin gleich ein Veilchen zu verpassen, nur um ihr unser Lazarett zu zeigen.«

Ihre Augen – es waren sehr freundliche und vor allem sehr wache Augen, fand Samiha – funkelten für einen Moment noch spöttischer, dann trat ein Ausdruck absoluter Aufmerksamkeit in ihren Blick, während sie sich zu ihr herumdrehte. »Was ist passiert?«, fragte sie übergangslos.

Focks wollte antworten, doch Samiha kam ihm zuvor. »Das ist wirklich nur ein Kratzer«, sagte sie. »Kaum der Rede wert. Ehrlich, ich weiß gar nicht, was ich hier soll.«

»Das zu beurteilen überlässt du vielleicht doch besser mir, junge Dame«, antwortete die Blonde, allerdings in einem so freundlichen Ton, dass ihren Worten dadurch alle Schärfe genommen wurde.

Trotzdem antwortete sie leicht beleidigt: »Samiha.«

»Samira?«, wiederholte die Frau.

»Samiha«, verbesserte sie Samiha betont, erntete nichts als einen verständnislosen Blick und fuhr mit einem kaum hörbaren Seufzen fort: »Aber Sie können mich Sam nennen. Das tut eigentlich jeder.«

»Weil du einen so außergewöhnlichen Namen trägst, mit dem die meisten Schwierigkeiten haben«, vermutete ihr blondhaariges Gegenüber. Dann lächelte die Frau wieder und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Sonya. Aber in den Klassenräumen und während der Unterrichtszeit würde ich es vorziehen, wenn du mich mit Frau Baum anreden würdest.«

Samiha griff ganz automatisch nach der ausgestreckten Hand und schüttelte sie. »Sie sind die Krankenschwester hier?«

»Krankenschwester?« Sonya erwiderte ihren Händedruck mit einer Kraft, die Sam angesichts ihrer schmalen Finger und der fast zerbrechlich anmutenden Gestalt überraschte, zog die Augenbrauen hoch und bedachte Focks mit einem schon beinahe drohenden Blick. »Hat er das gesagt?«

»Nein«, antwortete der Direktor, räusperte sich lautstark und unecht und begann nervös von einem Bein auf das andere zu treten. Dann wandte er sich mit einem Ruck zur Tür. »Ich habe noch eine Menge zu tun, Frau Baum. Bitte kümmern Sie sich um unsere neue Schülerin. Und legen Sie mir den Bericht auf den Tisch, wenn Sie fertig sind.« Er verließ das Zimmer, blieb aber mit der Hand auf der Klinke noch kurz stehen und drehte den Kopf. »Und wenn alles erledigt ist, dann kommst du bitte noch einmal zu mir, und ich bringe dich auf dein Zimmer, Sam.«

»Samiha«, verbesserte ihn Sam.

Focks linke Augenbraue rutschte ein Stück weit an seiner Stirn hinauf und blieb dort. »Samiha«, wiederholte er kühl. »Selbstverständlich. Bitte entschuldige.« Und damit ging er und zog die Tür mit einem Knall hinter sich zu.

»Dem hast du’s sauber gegeben«, sagte Sonya, ließ ihre Hand endlich los und trat einen Schritt zurück, um sie aufmerksam und mit schräg gehaltenem Kopf zu mustern. Samiha tat ihrerseits dasselbe und korrigierte ihre Einschätzung ein wenig nach oben, was Sonyas Alter anging. Sie war eher Ende dreißig und so schlank, dass sie wahrscheinlich nur mit einigem guten Willen noch nicht als magersüchtig durchging. Ihr Haar hing glatt bis weit über ihren Rücken hinab, und sie hatte ein sehr hübsches Gesicht, trotz ihres (zumindest in Sams Augen) schon fortgeschrittenen Alters. Aber unter dieser sorgsam gepflegten Schönheit glaubte sie auch eine Härte und einen eisernen Willen zu spüren, die ganz und gar nicht zu ihrem so zerbrechlichen Äußeren passen wollten.

»Also, was ist geschehen?« Sonya trat an den Glasschrank und öffnete ihn mit einem winzigen Schlüssel, den sie an einer silbernen Kette am Handgelenk trug. Während Samiha ihr mit knappen Worten erzählte, was im Stall vorgefallen war (wobei sie sich hütete, irgendetwas von Einhörnern, verzauberten Ställen oder gar spitzohrigen Kriegern zu erwähnen), streifte Sonya sich ein Paar Einmalhandschuhe über, nahm einen Wattebausch und ein kleines, beunruhigend harmlos aussehendes Fläschchen aus dem Schrank und kam zurück. »Kein Wunder, dass der Direktor so aus dem Häuschen ist«, sagte sie. »Wenn herauskommt, dass er dich auf einer ungesicherten Baustelle herumstolpern lässt, dann bekommt er eine Menge Ärger.«

Behutsam drückte sie Samihas Hand hinunter, die noch immer das Taschentuch hielt, begutachtete die Wunde stirnrunzelnd und schraubte das Fläschchen auf, um einige Tropfen einer scharf riechenden Flüssigkeit auf den Wattebausch zu träufeln, den sie anschließend gegen den Schnitt in ihrer Schläfe presste. Aus dem unangenehmen Pochen wurde ein schmerzhaftes Brennen, das ihr die Tränen in die Augen trieb.

»Es hört sofort auf, keine Angst.« Sonya hielt mit der Linken ihr Gelenk fest, als sie ganz automatisch ihren Arm beiseiteschlagen wollte. »Das muss leider sein.«

Sam glaubte ihr ja, aber das änderte nichts daran, dass das Brennen immer schlimmer wurde und sie mittlerweile das Gefühl hatte, ihr ganzes Gesicht stünde in Flammen. »Also doch eine Folterkammer«, quetschte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Selbstverständlich«, antwortete Sonya todernst. »Jedes Internat, das etwas auf sich hält, hat eine eigene Folterkammer. Wir tarnen unsere nur besser als die anderen.«

»Und Sie sind der Folterknecht«, vermutete Sam. Sonya hatte die Wahrheit gesagt. Das Brennen ließ bereits nach, wenn auch nicht so rasch, wie es ihr lieb gewesen wäre.

»Du«, verbesserte sie Sonya. »Und Foltermagd.«

»Dieses Wort gibt es nicht«, antwortete Samiha. »Die weibliche Form von Folterknecht ist ebenfalls Folterknecht. Ich bin gut in Deutsch.«

»Und ich bin die Deutschlehrerin auf Unicorn Heights«, beharrte Sonya. »Und als solche gebe ich dir zwar recht, was den Folterknecht angeht, aber sonst nicht. Wenn es das Wort Foltermagd in unserem von Frauen verachtenden Männern verfassten Duden nicht gibt, dann wird es Zeit, dass frau es erfindet.«

»Aha«, sagte Samiha. Was sollte denn dieser Unsinn? »Sie sind Deutschlehrerin?«

»Deutsch und Geschichte«, antwortete sie. »Und im Nebenjob Krankenschwester, Beichtmutter und bei Bedarf auch Gärtnerin und Stallfrau. Letzteres selbstverständlich ohne Bezahlung.«

Und wahrscheinlich auch noch Frauenbeauftragte, vermutete Samiha, hütete sich aber, diesen Gedanken laut auszusprechen.

»Und du bist also Samiha«, fuhr Sonya fort. Das Brennen in ihrer Schläfe ließ jetzt rasch nach, und an seiner Stelle begann sich ein Gefühl wohltuender Taubheit in ihrer Stirn breitzumachen. Was war in dieser Flasche? Curare? »Sind deine Eltern aus dem Irak – ich darf doch Du sagen?«

»Ja«, antwortete Samiha. »Und wie kommen Sie darauf?«

»Weil Samiha ein uralter persischer Name ist«, antwortete die Lehrerin, nahm den Wattebausch herunter und zog die Augenbrauen zusammen, um den Schnitt in ihrer Schläfe zu begutachten. Was sie sah, schien ihr nicht sonderlich zu gefallen, dachte Sam beunruhigt. »Und wenn man genau hinsieht, dann hast du etwas ganz leicht … Babylonisches.«

»Weil ich so undeutlich spreche?«

Sonya lachte, machte ein anerkennendes Gesicht und stand auf, um noch einmal an die Glasvitrine zu treten. Sams Beunruhigung nahm zu, als sie sah, wie sie ein kleines Glasschälchen und eine verchromte Pinzette von einem der Glasböden nahm. »Das war gut gekontert. Aber jetzt mal im Ernst. Ich weiß gerne über unsere neuen Schülerinnen Bescheid, und über dich weiß ich so gut wie gar nichts. Focks sitzt wie eine Glucke auf deiner Akte und hat uns kein Wort verraten.«

»Wahrscheinlich gibt es noch gar keine«, sagte Samiha.

Sonya kam zurück, bugsierte sie mit sanfter Gewalt auf die Ledercouch und zog sich den Bürostuhl heran. Samiha wollte es nicht, aber ihr Blick hing wie hypnotisiert an der Pinzette, die ihre Lehrerin in der rechten Hand hielt. Ihr fiel erst jetzt auf, wie spitz und gefährlich das Ding aussah.

»Und wieso?«, fragte Sonya. »Ich meine: Bist du die uneheliche Tochter des irakischen Präsidenten oder etwas in der Art? Wir haben hier normalerweise keine Geheimnisse voreinander.«

»Es ging alles ein bisschen schnell«, antwortete sie. Die Pinzette näherte sich ihrem Gesicht, und Samihas Herz begann schneller zu schlagen. »Vor zwei Tagen wusste ich ja selbst noch nicht, dass ich hier …« Beinahe hätte sie gesagt: eingeliefert werde. Sie schluckte die Worte zwar im letzten Moment hinunter, aber Sonya sah ganz so aus, als hätte sie sie trotzdem gehört.

»Und jetzt hältst du das alles hier für so eine Art Bootcamp für Besserbetuchte«, vermutete Sonya.

Samiha schwieg. Dieser Vergleich war ihr noch gar nicht in den Sinn gekommen, aber so völlig falsch war er nicht.

»Ganz so falsch ist dieser Vergleich nicht einmal«, fuhr die Lehrerin fort, als Sam sich beharrlich weiter in Schweigen hüllte und beinahe, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Jedenfalls sehen es einige unserer Schülerinnen so … wenigstens am Anfang. Aber hab keine Angst. Das Schlimmste, was einer Schülerin hier jemals passiert ist, waren ein paar ausgerissene Zehennägel, weil sie sich nicht an die Hausordnung gehalten hat.«

»Zehennägel?«, fragte Samiha nervös.

»Das fällt nicht so auf wie ausgerissene Fingernägel«, antwortete Sonya ernst. »Außerdem kann man schlecht in den Steinbrüchen arbeiten, wenn die Hände dick bandagiert sind. Halt still.«

Samiha blieb kaum genug Zeit, um über die Bedeutung ihrer letzten beiden Worte nachzudenken, da bohrte sich die Pinzette auch schon wie ein rot glühender Speer in ihren Schädel und begann sich in ihr Gehirn zu wühlen. Diesmal konnte sie einen ächzenden Schmerzlaut nicht ganz unterdrücken.

»Ich weiß, das ist unangenehm«, sagte Sonya, »aber es ist gleich vorbei. Und es muss sein, glaub mir.«

Samiha glaubte ihr auch jetzt, was aber leider rein gar nichts daran änderte, dass es ekelhaft wehtet. Sie biss weiter tapfer die Zähne zusammen und versuchte genauso tapfer, nicht laut zu wimmern, und beinahe gelang es ihr sogar.

Ungefähr zweieinhalb (gefühlte) Stunden später, in denen Sonya genüsslich im Inneren ihres Schädels herumgewerkelt hatte, ließ die preisgekrönte Foltermagd des Unicorn Heights endlich von ihr ab und richtete sich mit einem erleichterten Seufzen auf, das nach allem, was recht war, eigentlich ihr zugestanden hätte. »Da haben wir ja den Übeltäter«, sagte sie.

Irgendwie gelang es Sam, die Tränen wegzublinzeln und die Pinzette zu fixieren, die die Deutschlehrerin wie eine Trophäe schwenkte. Sie war ein bisschen erstaunt. So wie sie sich in den zurückliegenden Augenblicken gefühlt hatte, hätte sie erwartet, einen ausgewachsenen Hufnagel zu sehen, den Sonya aus ihrem Schädel gezogen hatte, oder auch ein rostiges Schwert, aber in der Pinzette glitzerte nur ein winziges silbriges … Etwas, kaum so groß wie ein abgebrochener Kakteenstachel.

»Direktor Focks hatte vollkommen recht, dich hierherzubringen«, sagte Sonya. »Das hätte eine hübsche Entzündung geben können.«

»Aha«, murmelte Samiha. Saurer Speichel sammelte sich unter ihrer Zunge, und sie musste immer heftiger schlucken, wodurch ihr natürlich nur noch mehr übel wurde. »Und was?«

Statt etwas zu erwidern, nahm Sonya den Deckel von der Glasschale, ließ den winzigen Silbersplitter hineinfallen, legte den Deckel fast behutsam wieder darauf, bevor sie das Schälchen zu der Vitrine trug und die Glastüren sorgsam abschloss. Die gebrauchten Plastikhandschuhe warf sie samt Pinzette in den Mülleimer und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken.

»Nur ein Splitter«, antwortete sie mit einiger Verspätung. »Kein Grund zur Aufregung. Aber er hätte sich ganz bestimmt entzündet, wenn du nicht zu mir gekommen wärst.« Sie machte eine fragende Handbewegung. »Bestehst du auf einen Stirnverband samt Augenklappe oder gibst du dich mit einem Pflaster zufrieden?«

Natürlich träumte sie in dieser Nacht von Einhörnern, schwarzen Reitern mit spitzen Ohren und unsichtbaren Dingen, die in den Schatten lauerten und an Türen kratzten. Mindestens zweimal erwachte sie schweißgebadet und mit klopfendem Herzen und, dem Zustand ihrer zerwühlten Bettwäsche nach zu schließen, sogar öfter. Außerdem hatte sie rasende Kopfschmerzen.

Damit hörten die schlechten Nachrichten nicht auf. Sams persönlicher Einschätzung nach würden sie das für die nächsten knapp vier Jahre nicht tun, bis sie endlich achtzehn und somit alt genug war, sich nicht mehr von jedem herumschubsen zu lassen, dem gerade der Sinn danach stand, aber ihr unfreiwilliger Einzug auf Unicorn Heights stellte eindeutig den bisherigen Tiefpunkt in ihrem Leben dar.

Der Tiefpunkt dieses Tages – obwohl er gerade erst begonnen hatte – war das Frühstück, das alle Schülerinnen und Schüler dieses Nobel-Bootcamps gemeinsam in der Mensa einnahmen. Samiha war es nicht gewohnt, zu frühstücken, schon gar nicht in der Gesellschaft von dreihundert grölenden Teenagern, von denen die eine Hälfte sie ignorierte und die andere sie angaffte, als hätte sie ein drittes Auge mitten auf der Stirn. Sie nahm sich lediglich eine Tasse Tee und ein halbes Brötchen vom Büfett, erspähte einen freien Platz an einem der Tische und steuerte ihn an. Als sie sich setzen wollte, schob der dunkelhaarige Junge, der links neben dem freien Platz saß, den Stuhl mit einem Ruck heran, sodass die Lehne gegen den Tisch prallte.

»Man fragt normalerweise, bevor man sich an einen Tisch setzt«, sagte er.

Samiha maß ihn mit einem kühlen, abschätzenden Blick. Der Bursche war ungefähr so alt wie sie, aber ein gute Stück größer und gebaut wie ein Preisboxer, das konnte sie sogar unter seiner legeren Kleidung erkennen und im Sitzen. Er hatte kurz geschnittenes Haar, ein breites Gesicht und sah nicht besonders intelligent aus, dafür aber ziemlich tückisch. Wie gut sie Burschen wie diesen doch kannte! Auf jeder ihrer bisherigen Schulen war sie mindestens einem davon begegnet, und die Geschichte war immer dieselbe. Irgendwo in einem besonders finsteren Winkel der Welt, überlegte sie, musste es einen Ort geben, an dem Vollidioten wie diese am Fließband hergestellt wurden, um sie dann gleichmäßig auf alle Schulen des Planeten zu verteilen.

»Du kannst dich gerne zu uns setzen«, fuhr Blödi fort, »wenn du nett fragst.«

Er lächelte sie an, und der Junge, der neben ihm saß, fing dieses Lächeln auf und machte ein hämisches Grinsen daraus. Und nicht nur er. Dem Muskelprotz gegenüber saß ein dunkelhaariges, ziemlich hübsches Mädchen, ungefähr in Samihas Alter, das ebenso breit lächelte, aber auch ganz eindeutig misstrauisch – um nicht zu sagen, eifersüchtig. Sie wäre auch erstaunt gewesen, hätte ein Typ wie dieser nicht eine ganze Bande von Speichelleckern und Jasagern in seinem Gefolge gehabt – und natürlich das Schuldummchen, das genauso hübsch wie dämlich war.

Samiha überlegte eine Sekunde lang, es gleich hier und jetzt zu erledigen, entschied sich dann aber dagegen und beließ es bei einem kühlen Lächeln, mit dem sie sich herumdrehte und einen Tisch ganz am anderen Ende des großen Raums ansteuerte. Der Tisch stand nicht nur in der finstersten Ecke der Mensa, sondern auch so, dass die Schwingtür zur Küche jedes Mal dagegenschlug, wenn jemand hindurchging. Mit ein bisschen Glück war dieser Platz also unbeliebt und sie hätte ihre Ruhe, weil niemand sich zu ihr gesellte.

Was natürlich nicht geschah.

Sie hatte sich ganz im Gegenteil kaum gesetzt, als ein ziemlich ungleiches Pärchen auf der anderen Seite des Tisches auftauchte: ein kleines, dickes Mädchen und ein hochgewachsener, schlaksiger Junge mit einer blonden Langhaarfrisur, die schon vor seiner Geburt aus der Mode gekommen sein musste. Beide trugen Tabletts mit ihrem Frühstück in den Händen. Von der Portion des Mädchens wäre Sam eine Woche lang satt geworden.

»Ist hier noch frei?«, fragte die Dicke.

Sam ließ ihren Blick demonstrativ über das halbe Dutzend freie Stühle schweifen, das den Tisch umgab. »Nein«, sagte sie.