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Österreichische Musikzeitschrift Ein europäisches Forum – Herausgegeben von der Europäischen Musikforschungsvereinigung Wien Jahrgang 71/2016 Heft 1 – Tonkunst-Polemiken

Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ) | Jahrgang 71/01 | 2016

Erscheinungsweise: zweimonatlich

Medieninhaberin: Europäische Musikforschungsvereinigung Wien (EMV)

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Bild: wikimedia.org

Liebe Leserinnen und Leser,

unruhig beginnt das Jahr 2016. Nicht wenige sehen angesichts der Situation in verschiedenen Ländern Europas und der gesellschaftlichen Verwerfungen mit einiger Sorge in die Zukunft. Doch die Beunruhigungen wirken sich bislang im Konzert- und Opernbetrieb nur am Rande aus – in gelegentlichen feuilletonistischen Anmerkungen, Schweigeminuten und Unterstützungsaufrufen für Flüchtlinge.

Vorm Hintergrund des Klimawandels wird hie und da an 1816 erinnert – das »Jahr ohne Sommer«. 1815 hatten mehrere Ausbrüche des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa siebzigtausend Tote gefordert, in Indonesien zu Ernteausfällen und einer großen Hungersnot geführt. Der Ascheregen erreichte nach einigen Monaten auch die nördliche Hemisphäre, verwüstete dort durch Frost und Eisstürme von April bis September viele Anbauflächen. Dies führte zu einem verheerenden Tiersterben und zur größten Lebensmittelknappheit der Neuzeit. Der Klimagipfel Anfang Dezember in Paris rief neuerlich in Erinnerung, dass derzeit weniger Nöte durch plötzliche Erkältung auf Teilen des Globus drohen als durch weiteren Anstieg der Erderwärmung. Aber auch das berührt den Musik(theater)betrieb nur peripher: Business as usual. Allerdings mit manchen Novitäten. Über sie informiert der Berichte-Teil dieses Heftes.

Der Rückblick, den wir zu Beginn des vorigen Jahres auf 1815 und die Musik im Umfeld des Wiener Kongresses richteten, 2014 auf die Musik im Kontext des ersten Weltkriegs, rekurriert heuer auf 1716 (die CD-Rezensionen in diesem Heft konzentrieren sich auf das Umfeld). In dieses Jahr fallen die denkwürdigen Siege der Truppen von Kaiser Karl VI. gegen die osmanische Armee bei Peterwardein und Temesvár – sie sicherten nicht nur Hunderttausenden im Hinterland das Überleben, sondern auch der »abendländischen Kultur«. Dies bildet den Ausgangspunkt für einige virulente Fragen zur »alten« oder auch »Barockmusik« und ihrer derzeitigen Pflege.

Die Neue Musik und einige ihrer Protagonisten erhalten auch im ÖMZ-Jahrgang 2016 besonderes Augenmerk. Während der Endredaktion erreichte uns die Nachricht vom Tod des Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez, der ohne branchenübliche Übertreibung als »Jahrhundertgestalt« gewürdigt wird, als Mensch »von so unvergleichlich luzider Intellektualität und Eleganz, so unmittelbarer Liebenswürdigkeit und Offenheit« (Markus Hinterhäuser). Und, nicht zu vergessen: als polemisches Talent der Extraklasse.

Der Thementeil widmet sich weiters in großem Bogen der belebenden Wirkung von Kontroversen und Richtungskämpfen in achthundert Jahren Musikgeschichte – beginnend mit Silke Leopolds Ouverture zu den Auffassungsunterschieden und starken Wörtlein von der Ars antiqua bis zum Buffonistenstreit im zur Neige gehenden 18. Jahrhundert. Johannes Kreidler schrieb das Finale furioso des Septetts der Tonkunst-Polemiken – ganz auf heute bezogen. Wilhelm Buschs kleine Bildergeschichte Die feindlichen Nachbarn oder Die Folgen der Musik setzt die Pausenzeichen. Kampf und Krieg erweisen sich, wie bekanntlich schon Heraklit wusste, als ziemlich beste Väter und Könige auch der musikalischen Dinge, die vorwärts streben. › Das Team der ÖMZ

Inhalt

Tonkunst-Polemiken

Silke Leopold: Stinkende Kadaver, ständiges Gekläff. Hässliche Worte im Streit um die liebliche Musica

Daniel Brandenburg: Gut, schön und richtig singen – oder die Kontroverse um den wahren »bel canto«

Frieder Reininghaus: Steine des Anstoßes. Zur weitreichenden Hugenotten-Polemik im 19. Jahrhundert

Dorothea Redepenning: Das Antiwestliche und die Ranküne gegen Ausländer. Tonkunst-Polemiken im Russland des 19. Jahrhunderts

Rainer Nonnenmann: Leuchtturm und Nebelkerze. Geschichte und Aktualität des Feindbilds »Darmstadt-Komponist«

Hans-Klaus Jungheinrich: Wie die Zeit vergeht. Von der Schwierigkeit, nachher alles noch besser zu wissen

Johannes Kreidler: Wer schreit, hat Recht. Über Polemik

Neue Musik im Diskurs

Einfache Objekte gleichberechtigt behandeln wie ein über Jahrhunderte entwickeltes Instrument Hannes Kerschbaumer im Gespräch mit Doris Weberberger

Extra

Johannes Prominczel: 300 Jahre nach 1716. Die Barockmusikszene im Umbruch

Frieder Reininghaus: Pierre Boulez, der musikalische Schul- und Sprengmeister

Markus Hinterhäuser: Vom Glück einer außergewöhnlichen Begegnung. Zum Tod von Pierre Boulez

Judith Kemp: »Amazing sound! Easy to play!« Das Vogelhorn – ein Neuling in der Familie der Naturtoninstrumente

Fokus Wissenschaft

Gesine Schröder: Bruchtonstufen plus Reintöne. Alte Debatten über Fremdlinge im Tonreich und Georg Friedrich Haas’ concerto grosso Nr. 1 für vier Alphörner und Orchester

Berichte

Großes Theater

Rossinis Il Viaggo à Reims in Zürich, Bartóks Barbe-bleue, Poulencs La Voix humaine und Belioz’ La Damnation de Faust in Paris, Fromental Halévys La Juive in Mannheim, R. Strauss’ Salome in Stuttgart, Brittens Peter Grimes in Wien (Frieder Reininghaus)

Wagners Holländer und Humperdincks Hänsel und Gretel in Wien (Judith Kemp)

Janáčeks Vec Makropulos in Bratislava (Magdalena Pichler)

Janáčeks Vec Makropulos in Wien (Judith Kemp)

Wien Modern (Philip Röggla)

Aus Österreichs Hain und Flur

Bizets Carmen in Klagenfurt (Willi Rainer)

Verdis Luisa Miller in Graz (Ulrike Aringer-Grau)

Dialoge »Zeit« in Salzburg (Ingeborg Zechner)

Schauschall Fest in Graz (Julia Mair)

Kleines Wiener Format

Johanna Doderers Fatima (Manuel Auer)

Bernd Richard Deutschs Orgelkonzert Okeanos (Christian Heindl)

Periklis Liakakis’ Chodorkowski (Lena Dražić)

Tommaso Traettas Antigone (Konstantin Hirschmann)

Preisträgerkonzert des Ö1 Talentebörse-Kompositionspreises (Timea Djerdj)

Rezensionen

Bücher

CDs

Das andere Lexikon

Maschinenmanifest – Erinnerung an eine legendäre musikalische Kampfansage (Florian Lutz)

News

Auf ein Neues – und warm anziehen!

Zu guter Letzt

Überforderungen (Frieder Reininghaus)

Vorschau

THEMA

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Stinkende Kadaver, ständiges Gekläff

Hässliche Worte im Streit um die liebliche Musica

Silke Leopold

Was zum Teufel hat die Messe mit dem bewaffneten Mann, mit Filomena oder gar dem Herzog von Ferrara zu tun? Bernardino Cirillo, Bischof von Loreto, wurde in einem Brief aus dem Jahre 1549 nicht müde, gegen eine Kirchenmusik zu wettern, die sich nicht vollständig und ausschließlich auf die Vermittlung der heiligen Worte konzentrierte. Eine Melodie wie etwa das Kampflied L’homme armé als Cantus firmus für eine Messe zu wählen, hielt er für Blasphemie und eine Komposition, die Weltliches mit Geistlichem vermischte, für promisk. Als weitere Übeltäterin machte er die Polyphonie aus, weil sie den Text verwirrte und der eine ein Sanctus sang, während in einer anderen Stimme »Sabaoth« und in einer dritten »Gloria tua« erklang. Das sei, so Cirillo, ein Heulen und Brüllen und Blöken, wie Katzen im Januar.1

Öffentlichkeit braucht Streit

Polemiken wie Cirillos Philippika gegen die Kirchenmusik seiner Zeit durchziehen die Musikgeschichte wie ein roter Faden. Zu allen Zeiten haben Musiker, Musikgelehrte oder Musikliebhaber um den rechten Weg der Musik gerungen, wenig zimperlich in der Wortwahl und hart in der Sache oder mit den scheinheiligen Samtpfoten vermeintlich gerechter Abwägung gegeneinander gekämpft. Vordergründig ging es dabei um ästhetische Positionen. Im Hintergrund aber liefen immer dieselben Grabenkämpfe ab: alt gegen neu, weltlich gegen geistlich, höfisch gegen bürgerlich, eine nationale Schule gegen eine andere. Man könnte die Musikgeschichte auch als eine Geschichte der Kontroversen schreiben und würde dabei feststellen, dass diese zumeist als Begleitmusik zu den großen epochalen Veränderungen des Komponierens erklangen.

Streit braucht Öffentlichkeit, zumindest macht er dann mehr Spaß. Die musikalische Öffentlichkeit hat sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt und mit ihr auch die Themen, um die sich die Kontroversen drehten. Im Mittelalter tauschten sich Gelehrte in den Klöstern und Universitäten in handschriftlichen Abhandlungen aus, die, je strittiger sie waren, desto häufiger in Abschriften kursierten. Die Erfindung des Buch- und Notendrucks ermöglichte es seit dem 16. Jahrhundert, weitere Publikumsschichten zu erreichen. In der Zeit der höfischen Gesellschaft mit ihren ebenso strengen wie undurchlässigen Hierarchien entwickelten sich die nach antikem Vorbild modellierten Akademien zu Orten gepflegter Streitkultur: Mitglieder einer Akademie erhielten bei ihrer Aufnahme einen akademischen Phantasienamen und gaben für die Sitzungen ihre gesellschaftliche Identität gleichsam am Eingang ab: Als Hirte X konnte ein einfacher Gelehrter dem Hirten Y, im wirklichen Leben Fürst und Brotherr des Gelehrten, auch einmal widersprechen, was im normalen Leben nach den Regeln des Hofzeremoniells undenkbar gewesen wäre. Und mit dem Aufstieg des Bürgertums im 18. Jahrhundert, mit dem wachsenden Verkaufserfolg von Zeitungen und Zeitschriften entwickelte sich eine öffentliche Gesprächskultur, an der jeder teilhaben konnte, der sich diese Druckerzeugnisse leisten konnte. Kontroverse Diskussionen, die in diesen Zeitschriften ausgetragen wurden, förderten den Verkauf, und immer häufiger mischten sich auch solche Menschen in die Debatten ein, die die Musik von einer ganz anderen als einer musikalischen Warte aus beurteilten – Philosophen, Literaten, Gesellschaftsdamen, Flaneure.

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Die Verwendung des berühmten weltlichen Chansons L’homme armé in zahlreichen Messkompositionen des 15. und 16. Jahrhunderts sorgte in klerikalen Kreisen immer wieder für Empörung.

Mit der wachsenden Öffentlichkeit wurde auch die Themenpalette, um die gestritten wurde, breiter. Ging es im Mittelalter zunächst vor allem um Detailfragen zu Notation und Tonsatz, kamen im 16. Jahrhundert, insbesondere in Zusammenhang mit Reformation und Gegenreformation, Debatten um die »wahre Kirchenmusik« dazu. Um 1600 stand die altehrwürdige Vokalpolyphonie zur Disposition, und seit die Oper zu einer in ganz Europa verbreiteten Kunstform aufgestiegen war, wurde mit zunehmender Heftigkeit um die Gestalt des musikalischen Dramas gerungen. Schon um die Entstehung der Oper wurde heftig gestritten; an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert begann in Italien eine Serie von Opernreformen, die weniger von den Komponisten als vielmehr von Dichtern und Intellektuellen in den Akademien vorangetrieben wurde. Zur gleichen Zeit begannen in Paris jene Diskussionen um den Vorrang der italienischen vor der französischen Oper (oder umgekehrt), die die Opernliebhaber in ganz Europa und das ganze 18. Jahrhundert lang in Atem halten sollten. Sie begannen scheinbar harmlos mit Vergleichen in der Kompositionsweise der Arien und Rezitative; später, im sogenannten Buffonistenstreit, der 1752 von Jean-Jacques Rousseau angezettelt wurde und bis zur triumphalen Uraufführung von Glucks Iphigénie in Tauride in Paris 1779 immer wieder aufflammte, mischten sich handfeste politische und regimekritische Töne in die Diskussion um die Frage, ob die italienische Musik natürlich sei und die französische ein ständiges Gekläff ;2 stand doch erstere, so wollte es Rousseau, für eine freiheitliche, egalitäre Gesellschaft und letztere für höfische Zwänge. Ähnliche Argumentationsstrategien hatte kurz zuvor schon Johann Adolph Scheibe verfolgt, als er den weibischen Kastraten mit ihren »kreischenden Diskantstimmen« in Herrscherrollen die tiefen Stimmen der »deutschen Mannspersonen«3 entgegensetzte und letztere als Stimme der Natur und der Vernunft feierte. Debatten um die Oper setzten sich im 19. Jahrhundert fort. Wenn Richard Wagner Giuseppe Verdis Orchesterbehandlung als eine »monströse Guitarre zum Akkompagnement der Arie«4 schmähte, so mischte sich in dieser Aussage in Abgrenzung zu seinem eigenen Verständnis von den Aufgaben des Orchesters in der Oper auch Neid auf den ungleich Erfolgreicheren mit zusätzlich nationalistischen Untertönen.

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Jean-Jacques Rousseau im Jahre 1753, kurz nach Beginn des von ihm angestachelten sogenannten Buffonistenstreits. Bild: Pastell-Portät von Maurice Quentin de La Tour/wikimedia.org

Danaergeschenke

Im 19. Jahrhundert wurde die Instrumentalmusik problematisch: Kaum hatte sie sich von den außermusikalischen Fesseln eines Textes oder der Gelegenheit, für die sie konzipiert war, freigemacht und sich als reine Tonkunst, als »absolute« Musik mit ihren eigenen, unabhängigen Gesetzen etabliert, wollten andere sie zum Botschafter literarischer oder politischer Ideen machen; ein weiterer Streit war vorprogrammiert. Und im 20. Jahrhundert ging es immer wieder, sei es nach dem Ersten oder nach dem Zweiten Weltkrieg, in den unterschiedlichen politischen Systemen um die Deutungshoheit dessen, was modern, fortschrittlich, avantgardistisch bzw. konservativ, reaktionär oder schlicht verstaubt war. Derzeit scheint vor allem die transkulturelle Perspektive von Musik oder auch die zunehmend fließenden Grenzen zwischen Hoch- und Popkultur die Gemüter zu erhitzen.

Zum Schluß gab es eine end- und sinnlose Klangferkelei von Edgar Varèse. Arcana ist dieses Tonscheusal betitelt, das ohne geistige Disziplin und künstlerische Vorstellung die Hörer mit Skorpionenpeitschen traktiert und friedsame Konzertbesucher zu Hyänen werden läßt. Großer Arnold Schönberg, du bist mit deinen berühmten fünf Orchesterstücken glänzend rehabilitiert! Das sind Äußerungen neuzeitlicher Klassik gegenüber diesem barbarischen Wahnwitz. Paul Schwers, Allgemeine Musikzeitung, Berlin, 18. März 1932

Für die Musikgeschichtsschreibung waren die Kontroversen ein Geschenk. Denn sie brachten in ihrer teilweise polemischen Zuspitzung Begrifflichkeiten hervor, die sich trefflich als Überschriften für Epocheneinteilungen, Nationalcharakteristika oder sozialgeschichtliche Betrachtungen eigneten.

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Einen »Dudelheini« wollte Claudio Monteverdi, hier auf einem Gemälde von Bernardo Strozzi (ca. 1630), sich nicht schimpfen lassen. Bild: Tiroler Landesmuseum/wikimedia.org

Die (vermeintliche) Epochenwende zwischen »Ars antiqua« und »Ars nova« im 14. Jahrhundert geht auf Bemerkungen zurück, mit denen Jacobus von Lüttich in seiner Schrift Speculum musicae die althergebrachte und bewährte Kunst der Notation und der damit verbundenen Kompositionsweise neben der modernen, von Philippe de Vitry als »Ars Nova« eingeführten Mensuralnotation bewahren wollte. Vom Autor selbst als »opus satiricum« bezeichnet, positionierte sich das letzte Buch des Speculum musicae, das wohl in den 1320er-Jahren geschrieben wurde, als eine Kritik an den Unvollkommenheiten der modernen Musik. Niemand aber, der vor Philippe de Vitry komponiert hatte, hätte sich selber als Vertreter einer »Ars antiqua« begriffen; sie wurde erst im Nachhinein zur »alten« gegenüber einer »neuen« Kunst. Und die beiden Artes wurden erst von der Musikwissenschaft des 20. Jahrhunderts zu einer Epochenwende stilisiert, als die sie nicht einmal von ihren Zeitgenossen empfunden wurde.

Von den vermeintlichen Unvollkommenheiten der modernen Musik handelt auch eine andere Kontroverse, für die einer der Kontrahenten eine so plastische Zuspitzung erfand, dass diese von der Musikwissenschaft als Signatur für eine der radikalsten Epochenwenden aufgegriffen wurde, die die Musikgeschichte je hervorgebracht hat – die Wende von der polyphonen Mehrstimmigkeit zum continuobegleiteten Sologesang, in deren Schlepptau Oper und Oratorium entstanden. Dabei hatte Claudio Monteverdi, als er die Begriffe »Prima pratica« und »Seconda pratica« prägte, etwas völlig anderes im Sinn. Im Jahre 1600 erschien die Streitschrift eines Bologneser Musiktheoretikers namens Giovanni Maria Artusi im Druck, in der der Autor den Tonsatz einiger Madrigale Monteverdis als fehlerhaft tadelte und daran eine allgemeine Betrachtung über den Niedergang der Kompositionskunst anschloss. Diese Schrift trug den stolzen Titel L’Artusi ovvero delle imperfettioni della moderna musica (Artusi oder Über die Unvollkommenheiten der modernen Musik) und definierte Kunst über die Einhaltung bewährter und von Theoretikern approbierter Regeln. Es solle nicht jedem »Dudelheini«5 erlaubt werden, die Kunst zu verhunzen – so fasste er seine Sorge um den Tonsatz zusammen.

Zumindest was den ersten Teil der Kritik anging: Der Mann hatte recht. Das bestritt auch Monteverdi nicht. Aber den Dudelheini wollte er dann doch nicht auf sich sitzen lassen. Und so stellte er der Veröffentlichung des inkriminierten Madrigals fünf Jahre später ein knappes Vorwort voran, in dem er Titelschutz für die Begriffe »Prima pratica« und »Seconda pratica« beanspruchte, um sie dann später ausführlich zu erläutern – als zwei Arten polyphonen Komponierens, die nicht auf satztechnischem Unvermögen, sondern auf einer bewussten Entscheidung des Komponisten beruhten. »Prima pratica«, so legte er zwei Jahre später im ausführlichen Vorwort zu den Scherzi musicali (1607) dar, bestünde in der konsequenten Einhaltung der Tonsatzregeln, bei der »Seconda pratica« sei der Textvortrag Herr über die musikalische Erfindung und nicht ihr Diener.6 Das hieß auch, dass der Komponist die Regeln des Tonsatzes mit Absicht überschreiten konnte, wenn es nach seinem Dafürhalten die durch die Musik dargestellte Situation erforderte: Der abgrundtiefe Seufzer der Verzweiflung, für den Monteverdi jene regelwidrige frei eintretende Dissonanz vorgesehen hatte, rechtfertige die Entscheidung des Komponisten, eine Musik zu schreiben, die die emotionale Ausnahmesituation gezielter hörbar machen könne als eine vom Tonsatz kontrollierte Distanz des Ensemblegesangs von der dargestellten Situation. In Monteverdis Argumentation manifestierte sich nichts Geringeres als ein neues Verständnis von der Aufgabe des Künstlers: Die Wahrheit der Kunst (»verità dell’arte«7) lag nicht im Reproduzieren, sondern im bewussten Überschreiten der Regeln.

Wie konnte diese Bemerkung zur zentralen Losung für den Epochenwandel von Renaissance zu Barock werden? Hierzu haben andere Autoren beigetragen, die sich tatsächlich mit dem Gegensatz von Polyphonie und Sologesang beschäftigten, allen voran Giulio Caccini in seinen Nuove musiche (1602) und eine Gruppe von römischen Autoren, die den Sologesang, als er sich in der Praxis längst durchgesetzt hatte, als eine epochale Neuerung feierten. Unter ihnen ragt Pietro Della Valle mit seinem 1640 geschriebenen Traktat Della musica dell’età nostra che non è punto inferiore, anzi è migliore di quella dell’età passata (Über die Musik unserer Zeit, die der der Vergangenheit nicht unterlegen, sondern überlegen ist) hervor. Sein Feldzug gegen die Vokalpolyphonie und ihre Autoren, die sich um Textausdruck überhaupt nicht gekümmert hätten, gipfelte in dem Vorwurf, Polyphonie sei Musik nur für Noten, nicht aber für Worte. Was so viel heiße wie: schöne Körper ohne Seele, und wenn diese vielleicht nicht gerade »stinkende Kadaver«8 seien, so doch freilich Körper von gemalten Figuren, aber nicht von lebendigen Menschen.

Hässliche Worte. Sie zeigen, dass die Diskussionen über Musik, die doch eigentlich ein Sinnbild der Harmonie war, mit durchaus harten Bandagen und nicht immer oberhalb der Gürtellinie geführt wurden. Eines aber haben die meisten dieser Invektiven gemein, in welcher Epoche auch immer sie formuliert wurden: Es steckt, befreit man sie von ihrem polemischen, hämischen oder feindseligen Ton und reduziert sie auf den schieren Befund, zumeist ein Körnchen Wahrheit darin.

Silke Leopold war ab 1980 Assistentin von Carl Dahlhaus in Berlin, wo sie sich auch habilitierte. 1991 wurde sie Ordinaria an der Universität Paderborn, 1996 in Heidelberg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der italienischen Musik des 16. bis 18. Jahrhunderts sowie der Geschichte der Oper.

Wilhelm Busch: Die feindlichen Nachbarn oder Die Folgen der Musik

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Ein Maler und ein Musikus, So Wand an Wand, das gibt Verdruss.

Anmerkungen

»Che diavolo ha da far la Messa con l’huomo armato, né con Filomena, né col Duca di Ferrara.«, Bernardino Cirillo, »Lettera a Ugolino Gualteruzzi 16. 2. 1549«, in: Aldo Manuzio (Hg.), Lettere volgari di diversi nobilissimi huomini et eccellentissimi ingegni, scritte in diverse materie, Venedig 1564, p. 115 v.

»aboiement continuel«, Jean-Jacques Rousseau, »Lettre sur la musique françoise«, in: Œuvres diverses de Monsieur J.J. Rousseau de Geneve, Bd. 1, Amsterdam 1760, S. 261.

Johann Adolph Scheibe, Critischer Musikus, Leipzig 1745, reprographischer Nachdruck Hildesheim 1970, S. 154.

Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Leipzig 1911, Bd. 7, S. 130.

»insfilza solfe«, zit. n. Silke Leopold, »Kontrapunkt und Textausdruck«, in: Sabine Ehrmann-Herfort, Ludwig Finscher und Giselher Schubert (Hg.), Europäische Musikgeschichte, Kassel u. a. 2002, Bd. 1, S. 314.

»L’oratione sia padrona del armonia e non serva«, Claudio Monteverdi, Lettere, dediche e prefazioni, hg. v. Domenico de’ Paoli, Rom 1973, S. 396.

Monteverdi, Lettere, S. 397.

»cadaveri puzzolenti«, Angelo Solerti, Le origini del melodramma, Turin 1903, reprographischer Nachdruck Hildesheim 1969, S. 151f.

THEMA

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Gut, schön und richtig singen – oder die Kontroverse um den wahren »bel canto«

Daniel Brandenburg

Es ist eine alte Geschichte, doch zuckt sie als Zankapfel bis ins heutige Feuilleton nach. Zur Erinnerung: Ein kleiner Kreis experimentierfreudiger italienischer Literaten und gut situierter Musikfreunde schuf um 1600 etwas grundsätzlich Neues: Beseelt vom Gedanken, mit den damals modernen Mitteln die antike Tragödie wieder aufleben zu lassen, begründete dieser Club das, was man gemeinhin »Bühnengesang« nennt. Er setzte ästhetische Maßstäbe: Textverständlichkeit, aber auch die musikalische und gesangliche Ausgestaltung individueller Affekte sollten das Bühnengeschehen für das Publikum nachvollziehbar und miterlebbar machen. Das Ergebnis war eine neue dramatische Form, die sich durch den Gesang vom gesprochenen Theater – auch dem mit Musik-Einlagen – grundsätzlich unterschied und damit Zweifel aufkommen ließ, ob bei gesungenen Dialogen überhaupt noch der grundsätzlichen Forderung nach der »verisimiglianza«, der »Ähnlichkeit zum Wahren« im Bühnengeschehen, genügt werden könne. Virulent blieb diese Frage auch in den nachfolgenden Jahrhunderten, die sie jeweils auf ihre Weise beantworteten, und damit Grundlage für immer neue Diskussionen.

Cantar bello oder cantar bene?

Mit der Kommerzialisierung der Oper und dem damit einhergehenden wachsenden Konkurrenzdruck der seit dem 17. Jahrhundert entstehenden öffentlichen Theater untereinander gewannen der Publikumsgeschmack und der finanzielle Erfolg für die Opernunternehmer gegenüber solchen Überlegungen die Oberhand: Sängerstars, die mit vokaler Akrobatik und künstlerischem Einfallsreichtum das Publikum unterhalten konnten, waren im 18. Jahrhundert für das wirtschaftlich riskante Operngeschäft Garanten für gut gefüllte Kassen. Schön war, was gefiel. Das wiederum rief Kritiker wie Pierfrancesco Tosi (1653–1732) und Johann Friedrich Agricola (1720–1774) auf den Plan, die gegenüber dem »schönen Singen« (cantar bello), wie es die Italiener liebten, dem »guten Singen« (cantar bene), wie es ihrer Meinung nach im 17. Jahrhundert gepflegt worden war, den Vorzug gaben.1 Das auf Brillanz ausgerichtete schöne Singen widersprach in ihren Ohren den Prinzipien der Textverständlichkeit und Unmittelbarkeit des Affekts.

Erst Anfang des 19. Jahrhunderts etablierte sich »bel canto« (»schöner Gesang«) als positiver Begriff – wiederum aber für einen Stil, der bereits der Vergangenheit angehörte.2 Italien öffnete sich um 1800 den kulturellen Strömungen Europas in einem bis dahin nicht gekannten Maße und sah sich einem von Frankreich ausgehenden Modernisierungsdruck ausgesetzt, der auch im musikalischen Leben Niederschlag fand. Neue Opernsujets, die mit großem Gestus die Abgründe zwischen Gut und Böse auszuleuchten begannen, forderten von den Gesangskünstlern neue dramatische Fertigkeiten jenseits von virtuoser Stimmakrobatik – sowohl in der Stimmgebung als auch in der schauspielerischen Darstellung auf der Bühne. Tenöre, die mit dunkler Stimmfärbung schön zu sterben vermochten, wie etwa der »Tenore della bella morte« Napoleone Moriani (1808–1878), waren immer stärker gefragt als heller, kastratengleicher Stimmklang mit halsbrecherischer Virtuosität. Lediglich den Prime donne war es weiterhin vergönnt, sich in blumig-virtuosem Gesang zu ergehen. Rossini beklagte diese Entwicklungen als Verfall. Ironisches Aperçu: Maßgeblich beflügelte diesen ästhetischen Wandel ausgerechnet Gilbert-Louis Duprez (1806–1896), der bei der italienischen Erstaufführung des Guillaume Tell 1831 in Lucca als Arnould erstmals ein hohes C mit abgedunkelter Stimme erprobte – mit bedingtem Erfolg. Als er den Spitzenton aus voller Brust dann 1837 auf der großen Pariser Bühne hinausschleuderte, löste dies zugleich frenetischen Zuspruch und Aversionen aus. Den Komponisten, der die Höchstleitung erst etwas später kennenlernte, erinnerte sie an den Schrei eines Kapauns, dem der Hals herumgedreht wird. Des ungeachtet eroberte sich der Tenor mit seiner Kreation einen dauerhaften Platz am Boulevard der Musikgeschichte.

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Meister der schönen Sterbeszenen, der »Tenore della bella morte«, Napoleone Moriani. Bild: Stich von Josef Kriehuber/wikimedia.org

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Gilbert-Louis Duprez’ hohes C erinnerte Rossini an einen Kapaun, dem der Hals umgedreht wird. Bild: unbekannter Künstler/wikimedia.org

Reinrassig italienisch?

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