cover
image
Österreichische Musikzeitschrift – Ein europäisches Forum – Herausgegeben von der Europäischen Musikforschungsvereinigung Wien Jahrgang 71/2016 Heft 2 – on air – on sale – Musik und Radio

Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ) | Jahrgang 71/02 | 2016

Erscheinungsweise: zweimonatlich

Medieninhaberin: Europäische Musikforschungsvereinigung Wien (EMV)

Werden Sie FreundIn der ÖMZ: Unterstützen Sie die Europäische Musikforschungsvereinigung Wien (EMV) oder ihren deutschen Partner Verein zur Unterstützung von Musikpublizistik und Musik im Donauraum e. V. (VUMD) | info@emv.or.at

Verlag: Hollitzer Verlag | Trautsongasse 6/6 | A-1080 Wien

© 2016 Hollitzer Verlag. Alle Rechte vorbehalten. Die Redaktion hat sich bemüht, alle Inhaber von Text- und Bildrechten ausfindig zu machen. Zur Abgeltung allfälliger Ansprüche ersuchen wir um Kontaktaufnahme.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von

Image003

Liebe Leserinnen und Leser,

ziemlich bis zur letzten Frequenz ist das Radio von Musik durchdrungen. Da die vielfältigen Ton(meister)künste so selbstverständlich zum ältesten der »neuen Medien« gehören, muten die Fragen womöglich unzeitgemäß an, wie und warum sie dort hinein-, dann groß und breit herauskommen sind. Denn die Macht des Faktischen scheint für sich zu sprechen: Die seit neun Jahrzehnten bewährte Betriebs- und Wirtschaftsgemeinschaft hat dem Rundfunk blühende Klanglandschaften beschert – rund um die Uhr, zunehmend als großer Bazar ausdifferenziert, immer wieder »marktgerecht« austariert und in bunter Vielfalt weithin so anregend wie beglückend. Viele Musiker und diverse Zulieferer (unter ihnen AutorInnen und MusikjournalistInnen) haben von der Existenz des Rundfunks profitiert und genießen dessen öffentliche Wirkung. Ein Dutzend von ihnen macht in diesem Heft deutlich, wie brisant das Thema »Musik und Radio« ist. Die Beobachtungen wie die Bewertungen gehen weit auseinander. Sowohl in Bezug auf die Sortierung bzw. Dosierung von Kulturbeiträgen und Bildungswissen, als insbesondere auch hinsichtlich des Zuschnitts und der Intonationen der Moderationen zur Musik, die die Programme wie Mörtel oder Bauschaum zusammenhalten. Auf fast einhellige Kritik stoßen die fortgesetzt anberaumten »Programmreformen« gerade auch in den Segmenten des öffentlich-rechtlichen »Kulturradios«. In der Regel beschneiden die »neuen Formate« durch angeblich »hörerfreundliche« Vorgaben die Inhalte (die kritischen vornan). Mit leichtem intellektuellem Gepäck lebt und plaudert es sich leichter. Nicht nur Lothar Knessl ist hinsichtlich der »Qualitätsverflachung« in Sorge. Droht der Abverkauf? Hat das »Kulturradio« gegenüber der Musik aus dem Internet überhaupt noch eine längerfristige Chance?

Weder in Österreich noch in Deutschland oder Italien erwuchs das Radiowesen in den Zwanzigerjahren als Schule der Demokratie. Es war Wirtschaftsfaktor und zugleich Instrument des »Zeitgeists« mitsamt Steuerungsfunktionen – und es ist all dies auch über den großen Bruch 1945 hinweg geblieben. Wobei die alliierten Sieger den Anstalten mancherlei demokratische Vor- und Rücksichtmaßnahmen mit auf den weiteren Lebensweg gaben. Doch das machte sie (wie andere Großbetriebe) im Inneren nicht demokratisch – selbst in den Jahren nicht, in denen Bruno Kreisky und Willy Brandt für »mehr Demokratie wagen« plädierten. Über das in allen vergleichbaren Institutionen analog praktizierte Seilschaftwesen hinaus blieben die Rundfunkanstalten – dies hat sich auf die Palette der »Musikfarben« ebenso ausgewirkt wie auf deren Einbettung ins gesprochene Wort – in besonderer Weise Einflusszone wirtschaftlicher und parteipolitischer Interessen sowie staatlicher Vorgaben. Dies führt periodisch zu kleineren Unmutsbekundungen bei Teilen der Beleg- und Hörerschaft oder auch zu größerem öffentlichen Ärger. »Die Musik« ist von Anfang an und bis heute das »Spielbein« des Mediums und trägt viel zur Anmut und den Leidenschaften des Mediums bei. Die Hoffnung, dass es in und mit Musik nicht zuletzt auch um die unterschiedlichsten Formen von Freiheit gehen kann, ist unaufhaltsam. › Das Team der ÖMZ

Inhalt

on air – on sale Musik und Radio

Julia Jaklin: Zur Geschichte des Hörfunks in Österreich

Hans-Joachim Lenger: Gibt es ein »Kulturradio«?

Ljubiša Tošić: Gut, dass wir das hatten

Frieder Reininghaus: Zu einigen Rahmenbedingungen der Musik im Radio. Der Strukturwandel des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und seiner Zulieferer

Die Mischung macht’s Christoph Wellner und Ursula Magnes im Gespräch mit der ÖMZ

Paul Fiebig: Der Runterbruch Programmbeobachtung aus der Distanz

Hans Georg Nicklaus: Musik moderieren Musikvermittlung im Radio

Friedrich Spangemacher: Klassik oder Mood-Management Musik in Kulturradios im Umbruch

Irene Suchy: Wie das Radio die Musik macht Technik, Wirtschaft und Programm

Lothar Knessl: Von den Vorzügen des Konglomerats

Oswald Beaujean: Klassische Musik rund um die Uhr

Michael Schmidt: Klassikwelle vs. Klassikportal? Musik in Radio und Internet

Daniel Brandenburg: Toscaninis Weg zum Radiopionier

Philipp Mittnik: Hörfunkprogrammgestaltung in Österreich 1937 und 1938. Die Veränderung und Kontinuität der Musikpräsentation von Radio Wien und Reichssender Wien

Neue Musik im Diskurs

Lena Dražić: »Das Intellektuelle kommt beim Hörer als Emotion an« Johannes Maria Staud im Porträt

Fokus Wissenschaft

Claus Tieber: Die Geburt des Musicals aus dem Geiste des Wiener Walzers. Zum Forschungsprojekt »Der österreichische Musikfilm 1912–1933«

Nachruf

Nikolaus Harnoncourt (Frieder Reininghaus)

Berichte

Großes Theater

Resonanzen in Wien (Fritz Trümpi)

Weills Die Dreigroschenoper in Wien (Judith Kemp)

Rossinis Otello in Wien (Konstantin Hirschmann)

Kalitzkes Pym in Heidelberg, Gassmanns L’Opera Seria in Brüssel und Verdis Jérusalem in Bonn (Frieder Reininghaus)

Srnkas South Pole in München (Jörn Florian Fuchs)

Rihms Die Hamletmaschine in Zürich (Rebekka Meyer)

Aus Österreichs Hain und Flur

Bolcoms McTeague in Linz (Jörn Florian Fuchs)

Puccinis Madama Butterfly in Klagenfurt (Willi Rainer)

Kleines Format

Heymanns Der Kongress tanzt in Wien (Judith Kemp)

Ensemble Kontrapunkte (Jonas Pfohl)

Klangforum Wien (Walter Weidringer)

Liederabend im Arnold Schönberg Center (Katrin Hauk)

George Antheil-Abend im MuTh (David Wedenig)

E im Echoraum (Lena Dražić)

Rezensionen

Bücher

CDs

Das andere Lexikon

Making of(f) – Wie eine Rundfunksendung entsteht (Irene Suchy)

News

News

Zu guter Letzt

Vorfreude auf den Umzug (Franzobel)

Vorschau

THEMA

image

Zur Geschichte des Hörfunks in Österreich

Zusammengestellt von Julia Jaklin

Die Geschichte des Hörfunks in Österreich reicht von den ersten Versuchen vor über 100 Jahren und der Faszination des »Wunders Radio« bis hin zu den heute üblichen Streams (Live-Übertragungen im Internet), von einem einzigen Sender über das staatliche Monopol von RAVAG und ORF bis zum vielfältigen Rundfunkmarkt der Gegenwart. – Ein Streifzug durch die österreichische Radiogeschichte mit einigen Seitenblicken.

1888 | Voraussetzung 1 | Heinrich Hertz (1857–1894) erzeugt erstmals künstlich elektromagnetische Wellen.

1896 | Voraussetzung 2 | Guglielmo Marconi (1874–1937) baut ein »Gerät zur Aufspürung und Registrierung elektrischer Schwingungen« von Alexander Stepanowitsch Popow nach und beantragt das britische Patent auf seine Erfindung eines »Apparates zur Übertragung elektrischer Impulse und Signale« (zum Erfinder des Radios wird jedoch später von einem US-Gericht Nikola Tesla erklärt); im Jahr darauf gründet der italienische Ingenieur in London Marconi’s Wireless Telegraph Company Ltd. und stellt 1899 eine erste drahtlose Verbindung über den Ärmelkanal her.

1904 | Voraussetzung 3 | Dem Physiker Otto Nußbaumer (1876–1930) gelingt am 15. Juni in Graz die erste funktelephonische Übertragung von Wort und Ton. Auf einer Wellenlänge von rund 18 Metern ist die steirische Hymne Hoch vom Dachstein in einem mehr als zwanzig Meter entfernten Teil des Gebäudes der Technischen Hochschule klar und deutlich im Empfangsgerät zu hören.

1921 | Berlin | Hans Bredow (1879–1959) wird Staatssekretär für Fernmeldewesen und beginnt das (bis dahin militärischen Zwecken und dem Transfer von vertraulichen Wirtschaftsnachrichten vorbehaltene) öffentliche »Rundfunkwesen« zu organisieren.

1922 | London | Gründung der British Broadcasting Company (BBC).

1923 | Als erste Rundfunkstation Österreichs meldet sich Radio Hekaphon am 2. September. Ihr Gründer Oskar Koton ist zugleich Konstrukteur, technischer Direktor, Sprecher und Pianist. Über die regelmäßigen Sendungen berichtet das Neue Wiener Tagblatt am 8. November: »Drahtlose Radio-Konzerte im eigenen Heim! Die drahtlose Telephonie und Ferntonübertragung beginnt nun auch in Österreich ihren Siegeslauf. […] Der Radio-Empfangsapparat wird genauso wie das Grammophon und der photographische Apparat in keinem Hause fehlen.«

image

Die erste Wiener Probesendestation, rechts im Bild Oskar Koton.
Bild: radio-ghe.com

Durch einen kaiserlichen Erlass, der das Ende der Monarchie überlebte, ist die Funkhoheit in staatlicher Hand, mithin das Senden und Empfangen von Radiowellen durch einen privaten Anbieter illegal.

1924 | Am 18. Juli wird für Österreich ein neues »Telegraphengesetz« beschlossen. Die Firma Schrack AG erhält zusammen mit dem Verwaltungsjuristen Oskar Czeija (1887–1958) die Konzession für den ersten Radiosender. Czeija wird (bis 1938) Generaldirektor der Österreichischen Radio-Verkehrs-Aktiengesellschaft (RAVAG), Anton Rintelen (1876–1946) ihr Präsident. Die RAVAG nimmt am 1. Oktober den Sendebetrieb auf. Die Kronen Zeitung berichtet: »Gestern war der große Tag, oder richtiger der große Abend, auf den 10.000 oder 50.000 oder 100.000 oder gar 300.000 Radio-Amateure, ganz genau wird sich das nie bestimmen lassen, mit größter Spannung gewartet haben. Die Österreichische Radio-Verkehrs-Aktiengesellschaft, kürzer RAVAG und besser Radio Wien genannt, hat ihren offiziellen Betrieb aufgenommen. Zuerst meldete sich eine Stimme: ›Hallo, hallo, hier Radio Wien auf der Welle 530. Mit dem heutigen Tag beginnen wir den Broadcasting-Dienst.‹«1

Die erste Übertragung – Reden und Musik-Häppchen – dauert eine knappe Stunde. Rudolf Henz (1897–1987), Mitbegründer und späterer Programmdirektor der RAVAG, hält in seinen Erinnerungen fest: »Plötzlich begann die Luft zu erklingen! Mit einfachen, ja lächerlichen selbstgebauten Apparaten konnte man Töne und Stimmen einfangen. Die ersten Erlebnisse einer an sich ungeheuerlichen Entdeckung wurden vor vielen Ohren erprobt. Jeder, der da an seinem Detektor saß, fühlte sich als Miterfinder, als Mitentdecker. […] Diese Übertragung von elektromagnetischen Wellen, die im Kopfhörer zum Tönen gebracht werden konnten, war ein Wunder.«

image

In den 1920er-Jahren organisierten sich Amateurradiobauer in Vereinen, in denen sie ihre Geräte präsentierten. Hier eine Ausstellung des Freien Radiobundes, Ortsgruppe Brigittenau (Wien) 1925.
Bild: Radiowelt 35 (1925)

1926 | In den Anfangszeiten scheint es weitaus wichtiger, dass man hört, als was man hört. So lassen sich die HörerInnen nicht dadurch stören, dass das Programm immer wieder unterbrochen werden muss, um die überhitzen »Bändchen-Mikrophone« abkühlen zu lassen, oder dass plötzlich der Ton im Kopfhörer verschwindet, weil der empfindliche Empfangskristall erschüttert worden ist.

image

Logo der RAVAG, 1935

Die sich rasch verbessernde Technik und inhaltliche Qualität der RAVAG-Sendungen führt dazu, dass Radio Wien schnell populär wird. Der Sender wird ausgebaut und zieht in die Johannesgasse um. Um den Empfang in ganz Österreich zu ermöglichen bzw. zu verbessern, werden »Zwischen-Sender« in den Landeshauptstädten errichtet.

Auch das Programm wird strukturiert und besteht aus den vier Gruppen: Musik, Literatur, Wissenschaft und Nachrichtendienst. Den größten Teil der Sendezeit nimmt das musikalische Programm ein. »Die bedeutendsten Solisten, die besten Orchester sind regelmäßige Gäste unserer Studios. Die wirtschaftliche Ungunst dieser Zeit brachte es mit sich, dass sich der Rundfunk auch zu einem der wichtigsten Faktoren der Förderung einheimischer Kunst und Künstler entwickelte. […] Dank der zielbewussten Förderung von Volksgesang und Volksmusik darf man von einer Wiederbelebung dieser uralten Kulturgüter sprechen. Die regelmäßigen Übertragungen aus der Staatsoper geben dem ganzen Volk Gelegenheit, die Aufführungen dieser großen Bühne regelmäßig hören zu können. […] Zahlreiche junge Künstler verdanken dem Rundfunk ihre ersten Schritte in die Öffentlichkeit.« (Oskar Czeija)

Technische Neuerungen sind das »wandernde Mikrophon«, das u. a. Live-Übertragungen aus Flugzeugen ermöglicht, oder der »RAVAG-Reportage-Wagen« (»Ü-Wagen«), der der Programmgestaltung neue Wege eröffnet.

1926 | Berlin | Am 7. Jänner beginnt die 1924 gegründete Deutsche Welle mit der Ausstrahlung ihres Programms. »In erstaunlich kurzer Zeit ist der Rundfunk einer der wesentlichen Faktoren des öffentlichen Lebens geworden. Er ist heute in allen Kreisen der Bevölkerung und in allen Organen der öffentlichen Meinung eines der meistbesprochenen Themen. […] Dieser Rundfunk hat als ›Kunstindustrie‹ bereits jetzt eine Bedeutung erlangt, wie sie niemals vorher eine ähnliche Einrichtung besessen hat, und auch jene Vertreterschaften der Künstler, die bisher noch versucht hatten, die künstlerische und wirtschaftliche Bedeutung des Rundfunks zu negieren, müssen jetzt wohl oder übel zu dieser bedeutsamen Frage des Kunstlebens Stellung nehmen.« (Kurt Weill, Der Rundfunk und die Umschichtung des Musiklebens, in: Der deutsche Rundfunk, 13. 6. 1926).

1927 | Rom | Die Regierung des Ministerpräsidenten Benito Mussolini organisiert ein staatliches Rundfunkmonopol (Ente Italiano per le Audizioni Radiofoniche EIAR, ab 1944 Radio Audizioni Italiane RAI). Im gleichen Jahr leitet Anton Webern in Wien für die RAVAG sein erstes Konzert mit dem Wiener Symphonie-Orchester (einer Fusion des Wiener Concertvereins mit dem Wiener Tonkünstler-Orchester), das von der RAVAG seit 1924 genutzt wurde (22 Konzerte bis 1935).

1929 | Kompositionen fürs Radio entstehen: Bertolt Brecht, Kurt Weill und Paul Hindemith, Der Lindberghflug (Radiooper; Baden-Baden); Hanns Eisler, Tempo der Zeit (Rundfunk-Kantate) op. 16; George Antheil, Sonatina für Radio.

image

Flugbild und Gesamtansicht des Bisambergsenders im Mai 1933.
Bild: Radio-Wien 35 (1933).

1930 | Brüssel | Gründung des Institut National de Radiodiffusion (INR; seit 1960 RTB). In Berlin präsentiert Friedrich Trautwein (1888–1956) in der Rundfunkversuchsanstalt sein neu entwickeltes Trautonium, ein Vorläufer des Synthesizers, das man als »Radio-Universal-Musikinstrument« feierte.

1932 | Erstmals überträgt die RAVAG ein Fußballspiel aus London, England gewinnt gegen Österreich 4:3.

1933 | Am 28. Mai wird der Großsender auf dem Bisamberg eröffnet. »In dieser feierlichen Stunde wird der neue Sender aller Welt verkünden, dass wir Österreicher uns als Angehörige der großen deutschen Nation fühlen. Gleichzeitig wollen wir aber auch aller Welt zur Kenntnis bringen, dass wir Österreicher ein freies Volk sind und waren und es ewig bleiben wollen.« (Bundespräsident Wilhelm Miklas).

image

Abtransport eines Verwundeten nach dem Sturm nationalsozialistischer Putschisten auf das RAVAG-Gebäude am 25. Juli 1934.
Bild: DÖW

RAVAG-Generaldirektor Czeija, der zuvor das Programm auf politische Ausgewogenheit zwischen den konservativen und »mittleren« (nicht aber den linken) Kräften verpflichtete, wehrt sich angesichts der gesellschaftlichen Polarisierung nicht mehr gegen die Instrumentalisierung des Radios durch die autoritäre Staatsführung: »Es war natürlich, dass die Regierung von dem ihr zur Verfügung stehenden Propagandamittel des Rundfunks den ausgiebigsten Gebrauch machte.«

1934 | Um dem drastischen Rückgang der Hörer entgegenzuwirken und der RAVAG eine gewisse Unabhängigkeit zu erhalten, setzt Czeija den propagandistischen Sendungen »hochqualitative Musik« entgegen (Motto: »Wenn politisch nichts mehr geht, kommt die Musik«). Am 20. Jänner wird die Uraufführung von Franz Lehárs Giuditta aus der Staatsoper übertragen. Am 25. Juli stürmen nationalsozialistische Putschisten das Funkhaus und rufen den RAVAG-Präsidenten Anton Rintelen zum Bundeskanzler aus, während ein anderer Trupp Bundeskanzler Engelbert Dollfuß erschießt. Die Rebellion wird niedergeschlagen.

1937 | Das Funkhaus Wien in der Argentinierstraße wird eröffnet.

image

Wahrlich kein Prachtbau, aber noch die Heimat von Ö1, FM4 und Radio Wien: Das Funkhaus in der Argentinierstraße steht seit Oktober 2015 zum Verkauf.

1938 | Benjamin Britten schreibt die Radio-Kantate The World of the Spirit; Frieda Kern (1891–1988) komponiert Symphonische Radiopausen für Radio Wien. Rudolf Henz, Leiter der wissenschaftlichen Abteilung der RAVAG, verliert seine Stelle (1945 wird der Ex-Austrofaschist Programmdirektor): »Gegen den März 1938 hin, die wildeste und – vom Krieg abgesehen – die gefährlichste Zeit unseres Lebens. Jeden Tag Drohbriefe […] Als Dr. Übelhör bleich in mein Zimmer stürzte, war alles klar. Die Polizisten trugen schon Hakenkreuz-Binden.«

Direkt nach dem »Anschluss« wird die austrofaschistisch ausgerichtete RAVAG abgewickelt. Der im ganzen Deutschen Reich nahezu identisch ausgestrahlte Großdeutsche Rundfunk übernimmt die Programmgestaltung. Generaldirektor Czeija wird ohne Abfindung und Pensionsentgelte als politisch unzuverlässig fristlos entlassen.

1944 | Paris | Pierre Schaeffer (1910–1995) organisiert während des Befreiungskampfes die Radioarbeit, deren erhaltene Schallplattenaufzeichnungen wichtige Dokumente der Radiogeschichte enthalten.

1945 | Nach den letzten Kampfhandlungen am 10. April wollen Oskar Czeija und seine Mitarbeiter möglichst schnell zerstörte Sendeanlagen wieder in Betrieb nehmen. Zuerst müssen sie sich wieder Zugang zum Funkhaus verschaffen, das von der Roten Armee besetzt ist, wie der Historiker Viktor Ergert schildert: »Am Eingang des Funkhauses in der Argentinierstraße versucht Ingenieur Anton Sevcik mit den sowjetischen Wachtposten und mit dem wachhabenden Offizier der einquartierten Kampftruppe gestikulierend und mit Hilfe seiner tschechischen Sprachkenntnisse in ein Gespräch zu kommen.« Am Bisamberg sprengen derweil abziehende SS-Kämpfer das Gebäude samt dem Sender und den Antennentürmen in die Luft.

Wenige Wochen später meldet sich in den Volksempfängern eine bekannte Stimme: »Hallo, hallo, hier Radio Wien auf Welle 530.« Doch die RAVAG bleibt nicht lange der einzige Anbieter. Der Zoneneinteilung entsprechend entstehen vier Sendegruppen: Neben Radio Wien (RAVAG) in der sowjetischen Besatzungszone (für Wien, Niederösterreich und das Burgenland) die Sendegruppe Rot-Weiß-Rot in der amerikanischen (für Salzburg und Oberösterreich), die Sendegruppe Alpenland in der britischen (für Kärnten und die Steiermark) und die Sendegruppe West in der französischen (für Tirol und Vorarlberg).

1948 | Hamburg | In der britischen Besatzungszone geht der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) aus dem Militärsender hervor (Sendegebiet von Aachen und Bonn bis Flensburg und Berlin; Hauptsitz: Hamburg)

1951 | New York | John Cage komponiert Imaginary Landscape No. 4 (March No. 2) für 24 Ausführende mit zwölf Radios.

1953 | Die Bezeichnung Österreichischer Rundfunk wird eingeführt und nach einer Versuchsphase der UKW-Sendebetrieb aufgenommen. Die Programme von Radio Wien müssen nicht mehr der Zensur vorgelegt werden und dürfen nun auch »dekadente« Musik enthalten. »Zu Hause hörte ich im Radio Glenn Miller, Benny Goodman und meine Schwester tanzte zu Boogieklängen. Die Schlager He Babariba oder die Caprifischer sind mir noch gut im Gedächtnis. Mein Vater hörte sich die sonntäglichen Fußballmatches im Radio an. Meine Freundin und ich freuten uns auf Maxi Böhm mit seiner Sendung Die große Chance.« (Christiane Körbler)

1955 | Bundeskanzler Leopold Figl verkündet live im Radio: »Österreich ist frei!«. »Diese Worte sind mir sehr zu Herzen gegangen: Ich war an diesem Tag allein zu Hause, und so konnte ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen. Mir sind Tränen der Freude gekommen und ich habe großes Glücksgefühl empfunden.« (Agnes Grandjean, Zeitzeugin). Die Programme der vier Besatzungszonen werden unter der Firmenbezeichnung Österreichisches Rundspruchwesen zusammengefasst.

1957 | Am 11. Dezember wird die Österreichische Rundfunk Ges.m.b.H. (ORF) gegründet, die ab 1. Jänner 1958 Radio- und Fernsehprogramme ausstrahlt.

1964 | Grundlage für die Gründung des ORF in seiner heutigen Form ist ein Volksbegehren im Oktober, das auf eine Reform des Rundfunkwesens abzielt.

1966 | Im Juli wird ein neues Rundfunkgesetz beschlossen, das am 1. Jänner 1967 in Kraft tritt und den staatstragenden Parteien weitgehende Einflussnahme auf den gebührenfinanzierten und dennoch nicht werbefreien Sender ermöglicht. Nach einer Radioreform sendet der ORF drei Hörfunk-Programme: das Kulturprogramm Ö1, das Länderprogramm ÖR und Ö3 als Europas ersten Popsender. Nach mehreren Reformen treten an die Stelle von ÖR die heutigen neun ORF-Regionalradios.

image

Älteres Logo des ORF

1982 | Donaueschingen | Uraufführung von Mauricio Kagels Rrrrrr …, eine Radiophantasie.

1992 | Das englischsprachige Blue Danube Radio ist als vierter ORF-Sender zu empfangen. Drei Jahre später teilt er sich die Frequenz mit dem auf Popmusik und Jugendkultur spezialisierten Sender FM4 und wird schließlich 2000 zugunsten von FM4 eingestellt.

1993 | Ein neues Regionalradiogesetz ist der erste Schritt zur Beendigung des Rundfunkmonopols des ORF.

1998 | Nach der Nivellierung des Regionalradiogesetzes und der Lizenzvergabe gehen im April fünfzehn Privatradiosender on air.

2002 | Der Markt wird weiterhin vom ORF dominiert, die Privatradios liegen bei rund 20 % Marktanteil.

2008 | Nach einer neuerlichen Gesetzesnovelle erhält Kronehit, das zur Mediaprint-Gruppe gehört, als erstes Privatradio eine bundesweite Rundfunkzulassung.

2012 | Über 60 Privatsender kämpfen mittlerweile um Hörer.

2015 | Der Marktanteil (in der Gruppe der 14- bis 49-Jährigen) der ORF-Radiosender liegt bei 65 %, der größte Anteil fällt dabei auf Ö3 (40 %), Ö1 liegt bei 2 %, FM4 bei 4 %, die ORF-Regionalradios bei 19 %. Bei den Privatradios (insgesamt 32 % Marktanteil) dominiert Kronehit (12 %); abgesehen von Antenne Steiermark (4 %) liegen die übrigen Sender unter oder um 2 %, allerdings senden die meisten von ihnen ausschließlich regional.

Anmerkung

Die Zitate stammen, wenn nicht anders gekennzeichnet, aus: Reinhard Schlögl, Oskar Czeija: Radio- und Fernsehpionier, Unternehmer, Abenteurer, Wien u. a. 2005.

THEMA

image

Gibt es ein »Kulturradio«?

Hans-Joachim Lenger

Vor einer Reihe von Jahren kündigte die Leitung des Norddeutschen Rundfunks eine Befreiung an, die sich in der Ordnung des Hörens und des Gehörs vollziehen sollte. Die damals bevorstehende Reform der NDR-Kulturwelle werde dazu dienen, so erklärte es ein Kantinenaushang den Mitarbeitern, das Radiopublikum »vom Zuhörzwang zu befreien«. Ganz so, als seien die Hörer bis dahin einem Diktat unterworfen gewesen, das ihre Ohren wie mit Ketten an das Programm gebunden und unterjocht hatte, stellte ihnen die Sendeleitung Rettung in Aussicht.

Welcher Art aber sollte diese Befreiung sein? Tatsächlich hatte der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan dem Radio, der technisch übertragenen Stimme, dem massenmedial vermittelten Klang, geradezu magische Qualitäten attestiert. »Die unterschwelligen Tiefen des Radios«, so schrieb er, »sind erfüllt vom Widerhall der Stammeshörner und uralten Trommeln. Das ist dem Wesen dieses Mediums eigen, das die Macht hat, die Seele und die Gemeinschaft in eine einzige Echokammer zu verwandeln.« Nie, so spitzte McLuhan seine Überlegungen zu, hätte Hitler seine Herrschaft auf das Fernsehen stützen können. Dazu bedurfte es der Macht des Akustischen.

Tatsächlich wirkt im Hörfunk eine Magie der Stimme, eine betörende Kraft des Klangs, mit denen nach dem Ersten Weltkrieg eine neue Kultur entstand – die des Radios. Die frühen Pioniere des Mediums hatten dies begriffen, und mit aller Radikalität intervenierten sie deshalb künstlerisch. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bis in dessen Zwanzigerjahre hinein stellten sie Überlegungen an, wie das technische Sensorium des Radios neue Künste herausfordern und ermöglichen würde. Kurt Weills »absolute Radiokunst« etwa forderte an prominenter Stelle ein »Heer neuer, unerhörter Geräusche, die das Mikrophon auf künstlichem Wege erzeugen könnte, wenn Klangwellen erhöht oder vertieft, übereinandergeschichtet oder ineinander verwoben, verweht und neugeboren werden«. Weit davon entfernt also, das Radio lediglich als technisches Transportmittel von Informationen zu verstehen, erblickten sie in ihm eine neue, ebenso technische wie künstlerische Produktivkraft, die es akustisch zu befreien galt.

image

Ein Volk im Bann des Radios: Wenn Hitler im Rundfunk sprach, ruhte das Tagesgeschäft.
Foto: Carl Weinrother/Deutsches Bundesarchiv

Gesellschaftlicher Neuaufbau mit Hilfe des Radios

Das »Kulturradio«, so wussten es diese Pioniere, stellte nicht so sehr vor das Problem, wie es repräsentiert, was gemeinhin als kulturelle Hervorbringung gilt, die außerhalb des Radios entsteht – als Musik, Literatur, Vortrag oder Gespräch. Das Medium selbst erzeugt spezifische Strukturen einer technisch produzierten öffentlichen Wahrnehmung, eines kollektiven Gehörs. Und bis heute sind die Konflikte, die um die Entwicklung dieses Radios ausgetragen wurden und werden, immer auch Auseinandersetzungen um die Verfasstheit der Gesellschaften gewesen.